Kurze Geschichte der Migration ist ein Buch von einem Statistiker. Nicht von einem Kulturwissenschaftler. Damit sind Themen und Argumente anders.
Worum geht es?
Bacci beschreibt die großen Bewegungen der Menschen weltweit seit der Ur- und Frühzeit bis heute. Als Basis dienen ihm Daten. Zahlen. Also welche Menschen gingen wann wohin? Was zeichnete sie aus? Welche Merkmale hatten die Gegenden, die sie verließen und welche diejenigen, wohin sie gingen?
Die Kernaussagen
Menschen sind immer gewandert. „Sich räumlich zu bewegen, ist eine Wesenseigenheit des Menschen, ein Bestandteil seines Kapitals, eine zusätzliche Fähigkeit, um seine Lebensumstände zu verbessern. Es ist diese tief im Wesen des Menschen verwurzelte Eigenschaft, die das Überleben der Jäger und Sammler, die Verbreitung der menschlichen Spezies über die Kontinente, die Verbreitung des Ackerbaus, die Besiedelung leerer Räume, die Integration der Welt und die erste Globalisierung im 19. Jahrhundert ermöglichte.“
Ihre Motivation war und ist es, das eigene Leben und das der Kinder zu verbessern. „Auf jeden Fall ist – wenn kein Zwang herrscht – der Grund für die Migrationsentscheidung eine komplexe Bilanz von Kosten und Nutzen, formuliert auf der Grundlage von Erwägungen, die das Individuum, die Familie oder das Gemeinwesen, dem man angehört, betreffen. Zu dieser Bilanz gehört eine Mischung sicherer und unsicherer, gegenwärtiger und zukünftiger, materieller und ideeller Überlegungen, die sich nicht allein auf die ökonomische Komponente reduzieren lassen. Dennoch spielt diese ohne Zweifel eine Rolle: (…) Die Auswanderung ermöglicht einen Ausweg aus der Falle der Armut.“
Über Jahrhunderte waren die westeuropäischen Länder – auch das Gebiet, welches heute Deutschland ist – Auswanderungsregionen. Von hier aus wurde in viele Teile der Welt eingewandert.
Erst im 20. Jahrhundert kehrte sich dieser Trend um. Erst jetzt wurden europäische Länder das Ziel von Flüchtlingen und Einwanderern. Zitat: „Mit dem Fortschreiten des 20. Jahrhunderts verschwinden die Bedingungen, welche die großen Migrationen nach Übersee ermöglicht hatten. Bei den traditionellen Aufnahmeländern verebbt die Nachfrage an Arbeitskräften; von europäischer Seite geht das Angebot wegen Verlangsamung des demografischen Wachstums zurück. (…) Trotz der Entwicklung von Transport und Reisen, der Intensivierung der Kommunikation, des Wachstums der kulturellen Beziehungen und des größeren Wissens „entfernt“ sich Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Rest der Welt, den es zu bevölkern beigetragen hatte.“
Die Länder Europas brauchen Einwanderer, um in Zukunft ihren Lebensstandard halten zu können: „Es handelt sich also (im 21. Jh.) um eine Einwanderung, die auch Ersatzfunktion hat, dazu bestimmt ist, nicht nur das Wachstum der Bevölkerung zu unterstützen, sondern auch die Schwächung der Ökonomien des Kontinents aufzuhalten.“
Heute wünschen sich laut Bacci viele Menschen in den reichen, westlichen Ländern eine geschlossene Gesellschaft. Aber auch eine offene. Beides nicht zu sehr. Deshalb werden seiner Auffassung nach von politisch Verantwortlichen geeignete gesetzgeberische Anpassungen verschleppt: „Oder anders gesagt, die Europäer möchten eine geschlossenen Gesellschaft, aber sie sind gezwungen, sie zu öffenen, und laufen damit Gefahr, die schlimmste und schizophrenste aller Entscheidungen zu treffen: das heißt eine de facto offene Gesellschaft mit einer Politik zu verwalten, die für eine geschlossenen Gesellschaft entworfen wurde.“
- Flüchtlinge gehen am 21.11.2015 an der deutsch-österreichischen Grenze nahe Wegscheid (Bayern) während eines Schneeschauers nach Deutschland. (dpa / picture alliance / Armin Weigel)
- Ein sehr informativer Beitrag des Deutschlandfunk zum Buch findet sich hier. Auszug: „Zwar fordert er, die Konventionen sowohl der Internationalen Arbeitsagentur wie der Vereinten Nationen zu ratifizieren, um die Rechte von Arbeitsmigranten zu stärken. Auch dürfe die Migrationspolitik innerhalb der Europäischen Union nicht nationalstaatlich bleiben, sondern sei EU-weit zu regeln. Doch die Entwicklungen der vergangenen Monate, etwa die neu gebauten Grenzzäune auf dem Balkan oder die Weigerung mehrerer osteuropäischer Staaten, muslimische Flüchtlinge aufzunehmen, zeigen: Von solchen Lösungen sind Europas Regierungen noch weit entfernt.“
Massimo Bacci ist Professor für Demografie an der Universität von Florenz. Er hat zahlreiche Studien zur globalen Bevölkerungswanderung verfasst.