Das Land, wo die Zitronen blühen. Helena Attlee

Das Land, wo die Zitronen blühen – ein Goethe-Zitat als Titel. Aber dennoch: Dieses Buch gibt es nur in englischer Sprache. So heißt es also „The land where lemons grow“, geschrieben von Helena Attlee, erschienen 2014.
Früchte, Blüten und Blätter der Orange (Citrus ×sinensis)

Das ideale Buch für die vergangenen Tage in Deutschland mit Temperaturen um die 40°C. Ein Zitronensorbet dazu – oder auch nur eisgekühltes Wasser mit Zitronen- und Orangenscheiben darin – dann noch ein Liegestuhl im Schatten – schon kann’s losgehen.
Zitrusvielfalt – Zitruseinheit – Zitrustage

Helena Attlee ist im englischsprachigen Raum als Spezialistin für Gärten bekannt. Gärten in der Provence, in Japan, in England, in Wales: Hierzu gibt es jeweils ein einschlägiges Buch. Und natürlich auch über Gärten in Italien in gleich mehreren verschiedenen Büchern.
LITERARY FESTIVAL: Helena Attlee - Northcote | Luxury Hotel and ...

„Das Land, wo die Zitronen blühen“ fällt dabei etwas aus dem Rahmen. Zwar geht es natürlich auch um Gärten, denn dort wachsen die entsprechenden Zitrusbäume. Viel mehr geht es aber um Botanik, Kulturgeschichte, Olfaktorik. Außerdem ums Reisen in Italien. Und ganz besonders um Küche. Abgerundet mit etwas Geschichte: politisch, medizinisch, kriminologisch, sprachlich. Einem Hauch Literatur. Und einer Prise Autobiographie.
Citron | Leonardi, Vincenzo | V&A Search the Collections

Alles aufs angenehmste durchmischt. Kein Aspekt wird zuviel (ganz sicher nicht zu viel: die Illustrationen – keine einzige!!!! bei diesem Thema!!!! das gleichen wir in diesem Blog mal schnell aus!!!!!). Die Autorin gönnt sich den Luxus, eine klare Struktur zu haben und ihr nicht zu folgen. Ein Buch also erfrischend ohne jede Pedanterie. Eher spielerisch. Jedenfalls genießend. Immer mit dem Duft von Zitrusblüten.
Bergamot - MasterLin

Jetzt weiß ich, was es mit Bergamotte auf sich hat. Mir ist vertraut, wie ein Campari Orange richtig auf italienisch heißt und warum dieses Getränk einen doppelten Bezug zu Zitrusfrüchten hat. Ich könnte (theoretisch) Zitronat herstellen. Ich weiß Bescheid über die Ursprünge der Mafia auf Sizilien. Ich kenne mich mit Chinotto aus. Ich kann erklären, warum welche Zitrusfrucht für das jüdische Sukkothfest verwendet wird und welche Konsequenzen das für ihre Ernte hat. Mir ist bekannt, wo die besten handgemachten Zitrusmarmeladen hergestellt werden. Ich kann erklären, warum die Äpfel der Hesperiden gar keine Äpfel waren. Und mir ist nicht verborgen, dass all die vielen Zitruspflanzen nicht aus Europa stammen, sondern aus Asien.
Chinotto Sparkling Soda Bottles by Niasca Portofino (pack of 4 ...

Ein anregendes Buch also, mit Vergnügen zu lesen. Und danach: ab nach Italien!
wo die Zitronen blühen? - Goethe | werbung | Reiseposter, Italien ...

The Palladio Guide. Caroline Constant

The Palladio Guide von Caroline Constant ist ein Reiseführer zu den Bauten Andrea Palladios im Veneto.

 

Auf der Suche nach Villen Palladios in der meist flachen Landschaft des Veneto, zwischen Feldern, Industrieanlagen und kleinen Orten ist dieses Buch der Garant für den Erfolg. Oder wenigstens die Voraussetzung dafür;  ein Navigationssystem erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit, eine der weniger bekannten Villen auch wirklich zu finden. Andrea Palladio ist einer der einflussreichsten Architekten der westlichen Welt, dennoch sind einige seiner Villen verfallen. Busladungen von Touristen kommen nur zu denjenigen Villen, die gerade auf einer Liste der 10 besten von irgendetwas stehen.

Auf der Suche nach dem vollkommenen Haus

Vor einem Vierteljahrhundert war das Auffinden der kleineren, unbekannteren Villen ein Abenteuer mit offenem Ausgang. Es gab keine Auflistung aller Gebäude, keine Wegbeschreibungen. Stattdessen endlos scheinende Fahrten durch die Terra Ferma.

Bildergebnis für andrea palladio

Das kleine Buch von Constant  – erschienen 1993 in der zweiten Ausgabe – ist für alle, die die wunderbaren, wunderschönen Gebäude Palladios selbst in deren beeindruckender räumlichen Wirkung erfahren wollen, ein Segen.

„The Palladio Guide“ is a complete guide to the buildings of sixteenth century architect Andrea Palladio. A useful tool for architects, artists, tourists, and armchair travelers.”

Ein Reiseführer auch für Armchair Travelers

Nach einer kurzen Einleitung folgt chronologisch die Beschreibung aller Gebäude, die Palladio gebaut hat. Ihre Entstehungsgeschichte, Besitzerwechsel und der Erhaltungszustand sind gut verständlich und knapp beschrieben. Am Ende des Buchs ergänzen ein Lageplan der Villen im Veneto sowie ein Detail-Plan jeweils für Venedig und Vicenza die Beschreibungen der einzelnen Gebäude.

Bildergebnis für andrea palladio

Einführung in Architektur und Einfluss von Palladio

Die Einführung ist auch für Nicht-Architekten nachvollziehbar. Sie leistet ein besseres intellektuelles Verständnis der Bauten und bereitet auf ihre überwältigende visuelle und räumliche Erfahrung vor.

…dass man vielleicht nicht immer ganz nachvollziehen kann, wo Palladio nach Caroline Constants Meinung die Zentralperspektive zugunsten der horizontalen Perspektive im Sinn hatte oder an welchen Stellen das Räumliche und wo das Szenische im Vordergrund stehen … – mag sein und ist nicht wichtig.

Ausgezeichnet wird der „Palladio Guide“ durch „Das vollkommene Haus“ von Witold Rybzynski ergänzt. Diese Buch sowie das umfangreiche Buch „Andrea Palladio – The Architect in his Time“ zu Person und Werk mit vielen Hintergrundinformationen haben wir hier besprochen….

Die Bücherschmuggler von Timbuktu. Charlie English

Reißerischer Einband

Bücher, Schmuggler, Timbuktu. Im Untertitel außerdem alle weiteren wichtigen Inhaltsstoffe für das junge oder jung-gebliebene, jedenfalls abenteuerlustige Leserherz: „Von der Suche nach der sagenumwobenen Stadt und der Rettung ihres Schatzes.“
Dann noch als Cover: das Foto eines Wüstenbewohners mit Manuskriptstapel und alter Truhe (wahrscheinlich auch so eine Schatzkiste…).
Mali: Islamisten zerstören Unesco-Weltkulturerbe in Timbuktu ...

Zwei Erzählstränge

Charlie English, ehemals Redakteur beim englischen Guardian, verwebt zwei Stränge zu seinem orientalischen Wunderteppich: die Geschichte der Entdeckung Timbuktus durch Europäer und die Rettung alter Manuskripte nach der Eroberung Timbuktus durch Islamisten im Jahr 2012.

Verwoben ist dabei richtig: Auf ein Kapitel Manuskriptrettung folgt jeweils eines zur Entdeckungsgeschichte, gefolgt erneut von Manuskriptrettung gefolgt von….
Beyond Timbuktu - The British Library

Dieses Verfahren kam den beiden Übersetzern, Henning Dedekind und Heike Schlatterer offensichtlich entgegen. Soweit ich es nachvollziehen kann, hat jeder einen Strang übernommen.

Gut gewählter Buchinhalt

Der Inhalt des Buchs ist gut gewählt. Der Name Timbuktu zieht immer noch  – die Entdeckungsgeschichte hat viele, nicht nur ruhmreiche Etappen mit Briten, Franzosen, Deutschen – die Eroberung und Besetzung Timbuktus durch die islamistischen Dschihadisten ist hinreichend gruselig.
Die Manuskripte binden dabei alles zusammen. Sie sind die unermesslichen Reichtümer, die die Entdecker in der Wissenschaftsmetropole Timbuktu statt Gold fanden. Sie wurden durch die Dschihadisten gefährdet und zum Teil verbrannt, während der Großteil in Sicherheit gebracht werden konnte.
Die Manuskripte sind auch für sich allein von großer Bedeutung, denn sie sind unter anderem der Beweis dafür, dass es auch in Afrika eine Schriftkultur  und eine Geschichte gab. Beides wurde diesem Kontinent von den kolonialistischen Imperialisten Westeuropas immer in Abrede gestellt und so argumentiert, dass Afrika zivilisatorisch ganz und gar unterentwickelt sei.
The fight to save the ancient texts of Timbuktu | Ancient Origins

Leider nicht so toll geschrieben

Das Buch enttäuscht aber dann doch, trotz all der guten Zutaten. Wie so oft liegt es daran, dass man nicht mit der nötigen Liebe gekocht hat. Köche gibt es drei: Den Autoren und die beiden Übersetzer. Vielleicht natürlich zusätzlich noch die Verlage (Harper Collins für die Originalausgabe, Hoffmann und Campe für die deutsche Übersetzung).

Charlie English schreibt wie ein Journalist, der sich mit dem deutlich längeren Format eines ganzen Buchs schwer tut. Alles wird zum Scoop, passend wie unpassend. Auf Spannungsbögen verzichtet er konsequent. Charaktere zu beschreiben, heißt bei ihm, Äußerlichkeiten aufzuzählen. Nicht zuletzt: Er scheint erstaunlicherweise eigentlich wenig Interesse an den Manuskripten zu haben. Für ihn hätte man sie daher wohl nicht retten müssen….

Die Übersetzer ihrerseits waren wohl in Eile oder haben sich nicht die Mühe gemacht, noch einmal über ihren Text zu gehen. Vieles liest sich wie direkt aus einer Simultanübersetzung abgetippt. Das potenziert die genannten Schwächen von English leider zusätzlich.

So fremd wie Timbuktu mutet daher das Lob des Guardian an: „Ein Meisterwerk des investigativen Journalismus. Ein kluges, fesselndes Buch.“

Dennoch….

Dennoch, zum nervenkitzel-freien Schmökern ist das Buch geeignet und man lernt etwas über die Geschichte Afrikas.
Historic books smuggled out during the siege of Timbuktu are on ...

The seabird’s cry: The lives and loves of puffins, gannets and other ocean voyagers. Adam Nicolson

„for an albatross to travel a thousand miles in its chosen wind is no more work than the effort made by a man watching cricket in a deckchair for a summer afternoon.“

Der erste Eindruck

Der Einband ist natürlich ein Hingucker. Ein Papageitaucher, Sympathieträger schlechthin in der Kategorie der Seevögel, schaut den Leser-in-spe an, groß und in Farbe. Was für ein Schnabel, was für Füße.
Dazu passend die verkaufsfördernden Zitate. Die Financial Times übernimmt den Schnabel-Part: „Extraordinary … nothing less than a masterpiece.“ Für die Füße der Observer: „A gorgeous book, a poetic, soaring exploration … Generous and beautifully composed.“
Aus dem Leben der Papageitaucher | Entdecken Sie Algarve

Auch grottenschlechte Bücher haben euphorische Zitate. Nicht alle jedoch haben einen Papageitaucher auf dem Cover. Hier kann man unbedenklich seiner Sympathie folgen.
Zumal Adam Nicolson – wie ich finde zurecht – den Ruf genießt, ausgezeichnete Bücher zu einer erstaunlichen Bandbreite an Themen zu schreiben. In diesem Blog schon besprochen sein Buch über Homer. Ebenfalls erwähnen möchte ich z.B. sein beeindruckendes und berührendes Buch über den englischen Landadel über die Jahrhunderte am Beispiel ausgewählter Familien – „The gentry: stories of the English“.
Six Questions For Adam Nicolson — The Island Review

Der Inhalt

Nicolson schreibt elf Kapitel. Zehn davon widmen sich je einer Art der Seevögel. Der freundliche Papageitaucher vom Einband ist mit dabei, ebenso zum Beispiel Albatross, Sturmvogel, Möwe und Kormoran. Das letzte Kapitel greift den Buchtitel „The seabird’s cry“ wieder auf.

In den Kapiteln lernt man die Seevögel mit ihren ganz spezifischen Eigenschaften und Angewohnheiten, ihrem Lebensraum und ihrer Geschichte kennen. Der Daily Telegraph bemerkt passend: „he nails their personalities perfectly“.
Royal albatros/toroa: New Zealand sea and shore birds

Das Besondere

Drei Punkte möchte ich besonders hervorheben.

  • Nicolson macht immer wieder überzeugend deutlich, dass Seevögel intelligent sind – sicherlich auf eine andere Art und Weise intelligent als der Mensch, aber unzweifelhaft intelligent. Sie sind keine rein instinkt-getriebenen Automata, sondern Lebewesen, die offensichtlich Entscheidungen treffen und auch über erkennbare Individualität verfügen.
  • Nicolson verwebt in seinen Kapiteln naturwissenschaftliche Erkenntnisse, eigene Beobachtungen und Erfahrungen, historische Darstellungen, kulturwissenschaftliche Anmerkungen und auch Dichtung auf unauffällige, leichtgängige Weise zu sehr atmosphärischen, nuancenreichen, vieldimensionalen Porträts.
  • Schwarz-weiß malt Nicolson nicht. Weder ist die Natur, hier: die Seevögel,  wirklich immer nett, schön, paradiesisch: Manche Küken sterben vor Hunger oder werden von ihren Geschwistern getötet. Das liest man nicht gerne.
    Noch sind die Menschen immer nur naturzerstörerische Finsterlinge (wenn das auch sicherlich überwiegend zutrifft…). Natur- und Artenschutzbemühungen werden erwähnt. Allerdings ebenfalls die leichtfertige und beiläufige Grausamkeit, die einige ornithologische Experimente billigend in Kauf nehmen.
    In einem Fall werden Natur und Mensch sogar kombiniert. Einem Mann, der einen verletzten Vogel retten möchte, zerstört dieser Vogel ein Auge.

Die Hochachtung

Was nach jedem Kapitel bleibt, ist Staunen und Hochachtung. Für Seevögel, die an der Ostküste Nordamerikas ausgesetzt zu ihrem Nest in England zurückfinden, die mehr als 100 Meter tief tauchen, die enge Bindungen zu ihren meist lebenslangen Partnern aufbauen, die jahrelang lernen, bevor sie Küken in die Welt setzen.

Und Freude darüber, dass jemand ihnen ein so gelungenes, erfreuliches Buch widmet.

Eine Odyssee: Mein Vater, ein Epos und ich. Daniel Mendelsohn

Der Blog-Autor wundert sich

Das muss mir mal jemand erklären. Warum heißt das Buch auf Englisch: „An Odyssey: A father, a son and an epic“ und auf Deutsch: „Eine Odyssee: Mein Vater, ein Epos und ich“? Braucht es bei uns diesen Ich-Bezug? Ist es sonst für deutschsprachige Leser zu abstrakt? Oder rechnet man sonst hierzulande mit Verdrossenheit, wenn sich herausstellt, dass das Buch sehr autobiographisch ist, dies aber nicht gleich im Buchtitel deutlich wird? Der Siedler-Verlag, in dem das Buch erschienen ist, war da auch schon einmal anspruchsvoller. Sic transit gloria mundi.
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Und wenn wir schon bei Erklärungsbedarf sind: Warum findet sich dieses Buch auf der Bestenliste ausgerechnet in der Kategorie Sachbuch in der „Zeit“? Haben die das Buch nicht gelesen oder überlesen, dass es vor allem belletristisch oder alternativ biographisch ist? Vielleicht haben die Juroren der Bestenliste sich aber auch davon inspirieren lassen, dass das Buch schon einige, wenn auch weniger renommierte Preise in den USA bekommen hat: Best Book of the Year des National Public Radio, des Library Journal, von Newsday und von den Kirkus Reviews.
SwissEduc - Alte Sprachen - Realien: Materialien von Anton Hafner ...

Der Autor als bedeutendster Intellektueller

Daniel Mendelsohn, Jahrgang 1960, ist US-amerikanischer Staatsbürger, Professor für Klassische Philologie an einer mäßig bekannten Universität und gehört, wie der Klappentext einen wissen lassen möchte, „zu den bedeutendsten Intellektuellen in den USA“. Gut, das gelesen zu haben, damit die Messlatte richtig justiert ist. Dem Autoren tut der Siedler-Verlag damit keinen Gefallen.

Die Odyssee von Homer…

… ist Weltliteratur schlechthin. Neben der Ilias das klassische National-Epos der Griechen seit fast 3000 Jahren. Ein Höhepunkt der Dichtung gleich am Anfang der europäischen Literaturgeschichte. Kirke, Kalypso und Kyklopen.

Dickes Lob für Mendelsohn: Man erfährt viel über dieses Werk, seinen Autoren (oder waren es mehrere?), seine Sprache, seinen Aufbau, seine Erzähltechnik, seinen Inhalt, seine Überlieferungsgeschichte. Gut aufbereitet, nicht seicht, so dass man vielleicht sogar Lust bekommt, die Odyssee einmal (oder wieder?) zu lesen. Prima.

Wichtig für das Buch von Mendelsohn: In der Odyssee geht es unter anderem stark um Väter und Söhne: Laertes, dessen Sohn Odysseus, dessen Sohn Telemachos. Odysseus und Telemachos haben einander seit 20 Jahren nicht gesehen. Wahrscheinlich hat Telemachos keine eigene Erinnerung an seinen Vater. Und macht sich in der Odyssee auf die Suche.
The Cyclops Polyphemos and Odysseus from Sperlonga

Die Odyssee von Daniel Mendelsohn

Daniel Mendelsohn hat ebenfalls einen Vater (und zwei Großväter, die auch eine, wenn auch nachgelagerte, Rolle spielen). Sein Vater war immer verschlossen, abweisend, zurückhaltend mit Gefühlen. Ein Mathematiker. Mendelsohn möchte seinen Vater kennenlernen – und dieser wiederum vielleicht seinen Sohn – bevor es zu spät ist und der Tod dies unmöglich macht. Deshalb nimmt der Vater an einem Seminar seines Sohns teil, und sie fahren anschließend gemeinsam in Urlaub. Beides wird in diesem Buch beschrieben. Man erfährt viel über Mendelsohn und seine Familie. Der eine oder andere mag auch Lust bekommen, diese Familie näher kennenzulernen, oder fühlt sich an seine eigene Familie erinnert. Auch wäre so eine Reise im Mittelmeer gar nicht schlecht bei dem aktuellen Wetter.
A Father And Son Go On Their Last 'Odyssey' Together : NPR

Die Kombination aus beiden Odysseen…

… ist natürlich der Clou des Buchs. Das eben erwähnte Seminar befasst sich mit der Odyssee. Die gemeinsame Reise ist eine Kreuzfahrt im Mittelmeer zu den Schauplätzen der Odyssee. Daniel M. ist Telemachos, sein Vater Jay M. Odysseus. Beide Odysseen werden recht kunstvoll miteinander verwoben, gelegentlich vielleicht einen Hauch offensichtlich. Aber deutlich besser als im amerikanischen Fernsehen.

Ergibt ein Buch….

… das man gut lesen kann. Es ist unterhaltsam. Man erfährt etwas über Homers Odyssee. Ein nicht zu niederschwelliger Einstieg in die Weltliteratur. Eher etwas für Leser als Leserinnen, denn Frauen – wie auch in der Odyssee – spielen nun einmal nicht die Hauptrolle hier.

Und übrigens

Wer sich für die Odyssee interessiert, kann alternativ oder additiv auch das Buch über Homers Werke von Adam Nicolson „The mighty dead: why Homer matters“ lesen, besprochen ebenfalls in diesem Blog. Ein ausgezeichnetes Buch.

Der Gesang des Dodo: eine Reise durch die Evolution der Inselwelten. David Quammen

Bei diesem Buch über die Biogeographie von Inseln – also über ein Sonderanwendungsfeld der Evolution – bin ich noch unschlüssig, wie gut es mir gefallen hat. Vielleicht ist es daher am Besten, meine zu heterogenen Eindrücke zu schildern.
Galapagos Venture | Intrepid Travel

Der Autor

David Quammen, Jahrgang 1948,  ist ein typischer amerikanischer Vielschreiber, spezialisiert auf Themen der Naturgeschichte. Hierfür hat er zahlreiche Preise bekommen und wurde unter anderem als „one of the most eloquent and intelligent writers on natural history at work today“ bezeichnet.
David Quammen's Biography.

Das Thema seines Buches

Wie wirken sich Inseln auf Artenreichtum, Evolution, Artensterben aus? Außerdem: Wenn man die Fragmente von Lebensräumen auf dem Festland auch als Inseln begreift (und sie zeigen alle Symptome von Inseln), was heißt das eigentlich für die Perspektive des Lebens global?
Quammens Beispiele reichen von Mauritius mit dem Dodo und dem Mauritiusfalken über Madagaskar mit seinen Lemuren, gefolgt von Indonesien und Neuguinea mit Komodo-Waranen und Paradiesvögeln, danach Galapagos mit Schildkröten und Finken bis zu Wasserschlangen im Süden der Vereinigten Staaten.
Indri Lemur | Sean Crane Photography
Seine Schlussfolgerung: Allein schon durch die fortschreitende Fragmentierung von Lebensräumen ist gesichert, dass wir ein Artensterben befördern, wie es das seit dem Aussterben der Dinosaurier nicht mehr gegeben hat.

Stärken von Buch und Autor

Quammens Buch beeindruckt durch eine ganze Reihe von Aspekten:

  • Quammen hat wissenschaftlich eine Menge Tiefgang. Er hat sehr viel über sein Thema gelesen, auch ältere Forschungsliteratur. Damit qualifiziert er sich nicht nur als natur-, sondern auch als wissenschaftsgeschichtlicher Autor.
  • Quammen reist gerne. Viele Orte (in diesem Fall: viele Inseln), die biogeographisch besonders relevant sind, hat er für dieses Buch selbst bereist. Das hilft ihm dabei, sehr lebendig und auch autobiographisch zu schreiben. In Teilen liest sich Der Gesang des Dodo wie ein erweiterter Reisebericht.
  • Quammen kann gut schreiben und strukturieren. Locker, spannend, flüssig, mitreißend – Der Gesang des Dodo ist extrem lesefreundlich geschrieben. Zugleich schafft es Quammen, den grundsätzlich chronologischen Aufbau des Buchs von der Forschung Darwins und Wallaces bis hin zur Gegenwart multidimensional aufzulockern: die Orte wechseln, mal führt er ein Interview mit einem Wissenschaftlicher, mal gibt es einen ereignisreichen Reisepart, dann rezipiert er die Denkrichtung der Forschung.
  • Quammen kann Inhalte vermitteln. Nach dem Lesen des Buchs hat man als Leser schon den Eindruck, substanziell viel über Biogeographie, Evolution, Artensterben gelernt zu haben, und das mit einigem Genuss.
  • Quammen nimmt sich die Zeit und den Platz, Sachverhalte ausführlich zu erklären und mit Beispielen zu hinterlegen.
    Wie das Leben lieben lernte - ZDFmediathek

Nicht ganz so überzeugend

Auf der anderen Seite drängen sich zwei Punkte auf:

  • Immer wieder einmal kam mir der Gedanke, dass man dasselbe nicht schlechter auch kürzer hätte schreiben können. Die englische Taschenbuchausgabe kommt auf 700 Seiten, die deutsche Übersetzung sogar auf 900. Das ist schon ein fast bibelartiges Format….
  • Und dann noch typisch amerikanisch: Abgesehen von Darwin und Wallace, den beiden Briten, um die man beim Thema Evolution wirklich nicht herum kommt, kommen ausschließlich amerikanische Wissenschaftler vor. Es ist sicherlich gut, dass es all diese Wissenschaftler gibt und bestimmt leisten sie Großes, andererseits ist hochklassige Wissenschaft nicht auf die USA und Menschen mit amerikanischer Staatsbürgerschaft beschränkt. Da liest sich Quammens Buch gelegentlich etwas scheuklappig oder gar provinziell.

Macht unter dem Strich

Lesen und dabei Zeit mitbringen.

First dodo skeleton to come up for sale in 100 years to be ...

Federn: Die Evolution eines Naturwunders. Thor Hanson

Auch Federn kann man wiederverwenden. Und so habe ich dieses Buch über Federn, erschienen im Jahr 2011, denn auch zum zweiten Mal gelesen. So etwas tue ich nicht oft und fast nur, wenn ich das Buch in guter Erinnerung habe.
Feathers: The Evolution of a Natural Miracle by Thor Hanson

Zugegeben, beim ersten Lesen hat es mir etwas besser gefallen, aber da war ja alles ganz neu und überraschend, so wie wenn man Federn das erste Mal genauer betrachtet, fasziniert davon, dass es so etwas Einfach-Kompliziertes natürlich gibt, etwas so Leichtes und Flexibles, das gleichzeitig so robust und stabil ist.

Thor Hanson, ein schreib-freudiger Biologe, schreibt äußerst lesefreundlich, locker, interessant, witzig, abwechslungsreich. Man merkt ihm die Begeisterung für sein Thema an, so sehr, dass sie sogar überspringt.
Thor Hanson – Town Hall Seattle

Sein Thema behandelt er in allen fedrigen Facetten: Evolution der Feder? Klar. Wachstum, Pflege, Ersatz von Federn? Auch drin. Kulturgeschichte der Feder? Sicher. Die Feder in der Mode? Schon kulturgeschichtlich abgedeckt. Besondere Federvarianten bei besonderen Vögeln? Selbstverständlich. Vergleich mit Versuchen des Menschen, sie nachzubauen? Natürlich. Der Gefahr eines buntgemischten Allerleis entgeht Hanson, indem er geschickt Überkapitel bildet:

  • Evolution mit allem zu Fossilien und frühen Vögeln
  • Fluff über die Isolier-Eigenschaft der Federn bei Hitze und Kälte
  • Flight darüber, wie toll sich mit Federn fliegen läßt
  • Fancy behandelt besonders auffällige Gefieder wie das der Paradiesvögel und ist damit unmittelbar bei der Menschenmode
  • Function beschreibt u.a. die Feder als Schreibinstrument.
    Ein Wunder der Evolution: Wie die Natur die Feder erfand ...

Außerdem bindet er alles dadurch zusammen, dass er immer wieder eigene Erlebnisse einbaut, sein eigenes ganz persönliches Staunen über ein tatsächlich geniales Wunderwerk der Evolution.

Gute Nachricht nebenbei: Seit 2016 gibt es das Buch auf deutsch.
Zweite gute Nachricht – es ist ja Weihnachten: Thor Hanson hat ebenso gute Bücher geschrieben über The Triumph of Seeds: How Grains, Nuts, Kernels, Pulses, and Pips Conquered the Plant Kingdom and Shaped Human History (noch nicht übersetzt) und Buzz: The Nature and Necessity of Bees (ebenfalls noch auf der Warteliste).
Dritte gute Nachricht – kann man ja nicht genug von haben: Es gibt eine beeindruckende deutsche Website mit (fast) allen Federn sehr vieler, nicht nur in Deutschland heimischer Vögel.

Renaissance: beste kurze Bücher für den Italien-Urlaub

Jedes Jahr lockt es Horden von Touristen in die Toskana. In Florenz sind etliche Sehenswürdigkeiten nur noch durch im Voraus gebuchte Tickets zu besichtigen. Immer wieder frage ich mich, was diese vielen Touristen denn eigentlich dort suchen und ob sie es wohl finden.

„Die Renaissance“ von Peter Burke

Das ist das intelligenteste Buch, dessen Autor zu Sätzen fähig ist, die man in den beiden anderen Büchern niemals finden würde. Zum Beispiel: „Fest steht, dass die Renaissance die Bewegung einer Minderheit gewesen ist. Es war eine städtische und keine ländliche Bewegung, und die Lobreden auf das Landleben entflossen den Federn von Leuten, die ihr Hauptdomizil in der Stadt (…) aufgeschlagen hatten.“ Auf 107 Seiten erklärt Burke, was wir auf wissenschaftlich fundierter Basis heute unter Renaissance verstehen können. Er tut dies unterhaltsam und sehr verständlich. Ein großer Vorteil dieser Darstellung ist es, sämtliche Kunstgattungen zu berücksichtigen und deren wichtigste Werke auch in Abbildungen zu zeigen. Die Kapitel des kleinen Büchleins heißen:

  • Der Mythos der Renaissance
  • Italien: Die Wiederbelebung und Erneuerung der Antike
  • Die Renaissance im Ausland oder: Vom Nutzen und Nachteil Italiens
  • Auflösung der Renaissance
  • Schluß

„The Key to Renaissance Art“ von Josè Fernández Arenas; Bateman/Search Press Pocket Guide

Dieses Taschenbuch ist ein klassischer, bildreicher Kurzführer zu einer Epoche. Hier finden sich alle üblichen Klischees zur Renaissance. Das Buch ist dennoch sehr hilfreich und empfehlenswert, wenn man sich schnell und unkompliziert dem Thema überhaupt erst einmal nähern möchte: Das wichtigste Basiswissen wird gut vermittelt, die wichtigsten Kunstwerke werden vorgestellt und nach 75 Seiten hat man einen ersten guten Überblick gewonnen.

„Architecture of the Renaissance from Brunelleschi to Palladio“ von Bertrand Jestanz; New Horizons

Dieses Buch ist eine prima Ergänzung zu den beiden vorher vorgestellten Büchern. Es ist reichbebildert mit tollen Fotos, zeigt Bauten, Pläne und Modelle. Es enthält ergänzend zu den Bildern knappe, erläuternde Texte. Auch Reisende, die nicht unbedingt leidenschaftlich an Archtektur interessiert sind, können an der Darstellungsweise Vergnügen haben. Der Kern des Buchs umfasst 124 Seiten, danach folgt ein Anhang mit Abschriften der wichtigsten zeitgenössischen Dokumente. Die Kapitel heißen:

  • The Return to Antiquity
  • New Principles
  • New Language
  • New Building Types
  • A New Discipline
  • A New Profession
  • Documents

Außerdem enthält das Buch eine Chronologie sowie weitere Literatur-Empfehlungen.

…und was tun, wenn man gar keine Zeit oder Neigung hat, sich auf das Thema Renaissance einzulassen? Ganz einfach: Aus Peter Burkes „Die Renaissance“ die ersten 50 Seiten lesen. Das reicht. Erst einmal.

Südafrika: Cape Dutch Homesteads. David Goldblatt, Margaret Courtney-Clark

Südafrika: Cape Dutch Homesteads von David Goldblatt und Margaret Courtney-Clark. Wunderschön sind die Kap-holländischen weißen Häuser wie sie in der Landschaft liegen, von großen Bäumen umgeben und eingebettet in Weingärten.

Cape Dutch Homesteads

Gebaut von Sklaven

So schön, dass man darüber fast vergessen könnte, dass diese Häuser, gebaut zwischen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und 1800 als die Briten die Macht am Kap übernahmen, durch Sklaven gebaut wurden und der Wohlstand ihrer Besitzer durch die Arbeit von Sklaven entstand.

Architektur am Kap

Die Architektur dieser Häuser ist etwas ganz besonderes: in ihnen verschmelzen kulturelle Einflüssen aus den Niederlanden und aus Indonesien und Indien. Später hinterließen auch Ideen des europäischen Klassizismus ihre architektonischen Spuren an diesen Häusern. Es waren in der Regel malaiische Handwerker, die die schönen weißen Giebel formten; sie waren berühmt für ihr Geschick. Die Abtrennung zwischen formellem und informellem Wohnbereich zum Beispiel, der Screen, wurde aus Asien übernommen.

Bildergebnis für kapholländische häuser

Das wunderbare Buch von 1981 ist schon etwas älter und fasst den damaligen Forschungsstand knapp sowie gründlich zusammen. Sein großen Charme liegt darin, dass Goldblatt und Courtney-Clarke Fotografen sind, deren wunderbar stimmungsvolle Fotos durch einen gut verständlichen Text von John Kench ergänzt werden.  Das Buch enthält ausführliche Porträts von neun Häusern, in welchen deren wechselvolle Geschichte und heutige Bewohner vorgestellt werden, außerdem eine Einleitung und ein Nachwort mit dem thematischen Schwerpunkt Restaurierung.

Vergehendes Erbe

Um 1900 gab es noch 3000 Häuser dieser Art. Heute sind es nur noch etwas 300, die ein gutes Bild davon geben, wie damals in der Kap-Region von den „freien Bürgern“ gebaut und gelebt wurde. Die etwa 150jährige Geschichte dieser erstaunlichen Architekturen vermitteln die vielen Fotos sowie der ausgezeichnete Text anschaulich.

London: City of Sin – London and its Vices. Catharine Arnold

London ist die Stadt der Sünde, Paris dagegen die Stadt der Liebe. „City of Sin“ erzählt die Geschichte der Prostitution in London von römischer Zeit bis in die Gegenwart.

Viele Details sind wissenswert und interessant. Wie zum Beispiel, dass für die römischen Bordelle regelmäßig Schiffsladungen junger Frauen aus dem ganzen römischen Reich an der Themse anlegten. Oder, dass zunächst die Gegend rund um die heutige Southwark Cathedral das „Rot-Licht-Viertel“ war, später Covent Garden, danach Haymarket. Oder, dass das Geschäft mit der Prostitution Jahrhunderte lang in Frauenhänden lag, was sich erst änderte, als ein Gesetz es Prostituierten verbot, sich zu mehreren unter einem Dach aufzuhalten; damit war der Schutz der Gemeinschaft weg und der Zuhälter wurde nötig. Oder, dass im Mittelalter Bischöfe und Könige Bordelle besaßen und gut an ihnen verdienten.

Arnold beschreibt in ihrem Buch, was getan wurde im Geschäftsfeld Prostitution. Sie erklärt weniger, warum. 333 Seiten über das immer wiederkehrende Was sind dann auch ein bisschen ermüdend… – Ja, Arnold bietet kleine Ansätze von Einbettungen in einen größeren gesellschaftlichen Kontext. So, wenn sie die Leidenschaft der adligen Kunden für Flagellation auf deren frühe Lust-Schmerz-Erfahrungen in Public Schools zurückführt. Aber diese Ansätze sind insgesamt zu zaghaft, zu unsystematisch und zu wenig fundiert.

Außerdem nutzt sie im wesentlichen Quellen von männlichen Personen, während die Stimmen derjenigen, die einen großen Teil der Dienstleistung erbrachten, kaum vorkommen. Die Reflexion derjenigen, die sich prostituierten, ihre Bewertung der eigenen  Lebensumstände und ihres Gewerbes kommt in meinen Augen zu kurz. Eine gute Bewertung des Buchs bietet ein Artikel des Guardian: “ (…) Post-Belle de Jour, this revelation seems far less spicy than it might once have done, but it does add an interesting dimension to Arnold’s book, in that a history of London as locus for the pleasures of the flesh is largely a history of prostitution. Sex and commerce have been intimately entwined in the capital since the earliest accounts, and this thorough, chronological tour of London’s demimonde from the Romans to the present shows that while fashions in public morals may come and go, human nature remains reassuringly predictable when it comes to sexual adventures. (…)“

Bildergebnis für Catherine Arnold

Arnold geht chronologisch- von römischen Lupanarium bis zum Swinging London – vor, bildet hierbei thematische Schwerpunkte: Sie berücksichtigt weibliche und männliche Prostituierte, Kinder, homosexuelle Praktiken und „Perverse Pleasures and Unnatural Lusts“, Bordelle und den Straßen Strich.

Catharine Arnold hat Bücher über das Globe-Theater, Irrenhäuser und Gefängnisse veröffentlicht.