Alte chinesische lyrische Dichtung steht in einem sehr guten Ruf. So ähnlich wie alte chinesische Tuchzeichnungen. Nur lesen tut sie kaum einer. Genauso wie die Tuschzeichnungen in den Museen, die sie haben, eher ein Schattendasein fristen. Hochkultur eben. Oder besser: Zu-Hoch-Kultur.
Höher als Li Bai wird’s dabei kaum. Er gehört in eine Blütezeit der alten chinesischen Dichtung, die Tang-Dynastie, wurde geboren 701, starb 762. Neben seinem Kollegen und Zeitgenossen Du Fu war Li Bai eindeutig der Star der Szene. Wie viele seiner nachgeborenen Dichterkollegen gilt er als dem Alkohol sehr zugeneigt (irgendwoher muss die Inspiration ja kommen); auch ihm wird angedichtet, dass er, eben ein Genie, seine Gedichte innerhalb kürzester Zeit ohne Korrekturen zu Papier brachte. Bemerkenswert auch: Von Li Bai gibt es noch Originalhandschriftliches. Bei Betrachtung seiner Kalligraphie kann etwas an den Alkoholgerüchten dran sein…
Chinesische Dichtung geht eigentlich nur in chinesisch. Die Sprache ist extrem verkürzt, voller Anspielungen und voller Interpretationsspielraum. Fast jede Übersetzung beseitigt notwendigerweise dieses Offene, Schwingende, Unbestimmte, da so etwas in den meisten anderen Sprachen, gerade im präzisen Deutschen, kaum geht.
Andererseits werden die Übertragungsschwierigkeiten auch gerne ins Mythisch-Heroische überhöht. Ein Beispiel hierfür, und zugleich ein Beispiel-Gedicht von Li Bai, findet sich in der deutschsprachigen Wikipedia. Es ist eine sehr typische vierzeilige Strophe (und gehört damit zum Typ Jueju für diejenigen, die es genau wissen wollen) mit Reimen zwischen den Zeilen 1, 2 und 4.
Das Gedicht heißt „yesi“, zu deutsch etwa „Nachtgedanken“:
„床前明月光
疑是地上霜
舉頭望明月
低頭思故“
In der Umschrift kann man die Reime gut erkennen:
„chuáng qián míng yuè guāng
yǐ shì dì shàng shuāng
jǔ toú wàng míng yuè
dī toú sī gù xiāng“
Kryptisch wird es bei der sogenannten Übertragung, die völlig unsinnig den Eindruck vermittelt, als hätte Li Bai frei von jeglicher Syntax geschrieben:
„Bett – vor – hell – Mond – Strahl
zweifeln – ist – Erde – auf – Frost
heben – Kopf – blicken – hell – Mond
senken – Kopf – denken – alt – Heimat.“
Tatsächlich würde eine wörtliche Übersetzung etwa lauten:
Vor dem Bett heller Mondstrahl
So als wäre auf dem Boden Reif
Ich hebe den Kopf und sehe den hellen Mond
Ich senke den Kopf und denke an die Heimat.
Gut ist der Wikipedia-Beitrag, weil man auch sieht, wie lässig viele Übersetzer mit dem Original umgehen, z.B. der in Wikipedia zitierte Vincenz Hundhausen:
„Vor meinem Bette spielt ein weißes Licht.
Ist es der Morgen schon? Ich weiß es nicht.
Und wie ich zweifelnd hebe mein Gesicht,
seh’ ich den Mond, der durch die Wolken bricht.
Da muß ich mich zurück aufs Lager senken
und heimatlos an meine Heimat denken.“
Bei der Rückübersetzung ins Chinesische müsste man schon ein Genie sein, um wieder ein Gedicht wie das von Li Bai zu bekommen. Zeigt: Chinesische Dichtung ist besser als so mancher ihrer Nachdichter….
Und vor Mißbrauch ist man ja wirklich fast nirgends sicher, siehe die Li Bai Cocktail Hours von 18 bis 20 Uhr:
Wer sich trotzdem traut, findet auf unserer China-Seite den einen oder anderen Literatur-Tipp zu chinesischer Dichtung. Fast alles von Li Bai wurde von Erwin Ritter von Zach im frühen 20. Jahrhundert (gut) übersetzt. Es lohnt sich mehr als ein Cocktail.