Die Erfindung der Naturwissenschaften. David Wootton

Lieber nicht lesen?

Die Penguin-Ausgabe zählt 769 Seiten. Obendrein in Englisch, da sich noch keiner an eine Übersetzung herangewagt zu haben scheint… Rezensenten verwenden Begriffe wie „truly learned“, „deeply erudite“, „in (…) convincing detail“, „masterly account“, „magisterial“. Die Erwartung ist völlig klar: David Woottons Buch über die Erfindung der Naturwissenschaften – „the invention of science“ – ist nur etwas für die ganz und gar Hartgesottenen unter den Lesern (und Leserinnen), mit einer Menge Zeit, guten Nerven, Durchhaltevermögen. Viele Details. Viele Zitate. Viele Fußnoten. Viel zu viel.
Cundill Prize 2016 Finalist David Wootton - YouTube

Oder doch?

Und doch, da gibt es noch die anderen Schlagworte: „marvellous“, „fresh and compelling“, „gripping“, „to savour, to enjoy and to remember“, „beautifully written“. Also doch zumindest ein Hauch von Lesespaß zwischen all dem akademisch Beschwerten? Oder vielleicht sogar – verwegener Gedanke – vor allem ein Lese- und Denkspaß?

Gekauft habe ich den Wälzer, weil er mir empfohlen wurde. Dicke Bücher schrecken mich nicht. Außerdem lese ich sehr gerne Bücher von Simon Schama. Und der ist auch ganz unverschämt wissensschwer und bildungseitel.
Rhodri Marsden's Interesting Objects: Kepler's model of the ...

Schama und Wootton: Vielwisser, Querdenker, Welterklärer

Apropos Schama. Der Vergleich ist nämlich gar nicht schlecht. Beide Autoren, Schama und Wootton, haben neben ihren Belesenheit vier Dinge gemeinsam: Sie denken erstens offensichtlich gerne, meistens selbst und bevorzugt quer. Sie schaffen es zweitens, in all den Details Strukturen, Muster, Linien zu entdecken, die so intuitiv und so frappierend sind, dass einem gelegentlich der Mund offen steht, um mit dem Denken nachzukommen. Drittens sind sie keine Fachidioten, sondern stellen fachübergreifend immer mehrere Disziplinen zueinander in Bezug. Zuletzt, viertens, schreiben beide viel.  Für ihre Bücher braucht man meist eine Stütze und eine Transporthilfe. Andererseits: Warum kurz, wenn man soviel Interessantes und Neues zu sagen hat?

Also dann doch: Die Erfindung der Naturwissenschaften

Ich möchte gar nicht den Versuch machen, das Buch zusammenzufassen oder einige Inhalte exemplarisch hervorzuheben. Es ist tatsächlich eine exzellente Darstellung, wie, wodurch und durch wen im Zeitraum von 1572 (Tycho Brahe sieht eine Nova, einen neuen Stern) bis 1704 (die „Opticks“ von Newton werden veröffentlicht) eine Revolution der Naturwissenschaften stattfindet. Wie diese Revolution zugleich eine Art zu Denken und ein Vokabular einführt, das wir heute noch, völlig selbstverständlich, genauso verwenden. Wie letztlich unsere heutige Moderne entsteht. Dabei wird mit Vorurteilen, Selbstverständlichkeiten, Denkfehlern aufgeräumt, dass es einem ganz luftig im Kopf zumute wird. Trotz all der Details, die einem in demselben herumschwirren.
Image - Tycho Brahe in his observatory at the Castle of Ur

Mein Fazit

Toll. Die Zeit, dieses Buch zu lesen, sollte man sich nehmen. Man bekommt fast ein wenig Hochachtung vor dem Menschen und seinen geistigen Fähigkeiten, so mangelhaft sie auch sind, und versteht sich selbst und seine Umwelt hinterher besser. Mehr kann man von einem Buch doch eigentlich nicht verlangen, oder?

Etwas zu lesen zum Schluss

Ach so, vielleicht doch noch ein, zwei Zitate.

Eines von Descartes:
„Right understanding [unser Common Sense oder der gemeine Menschenverstand] is the most equally divided thing in the World; for every one beleeves himself so well stor’d with it, that even those who in all other things are the hardest to be pleas’d, seldom desire more of it than they have.“

Das andere von Wootton:
„(…) clocks provided an inpersonal mechanism for the coordination of community services (the saying of the offices in monasteries and cathedrals, the opening and closing of markets in town and cities). Egalitarian communities (cities, monasteries and cathedral chapters all chose their leaders through elections) are governed by the clock, while despotisms are not; clocks were given prominent, public places in monasteries, cathedrals and town halls, but they were slower to establish themselves in royal palaces. (…) These factors (…) were absent in China, and hence the Chinese admired clockwork but had no use for it.“
Daran kann man denken, sobald der eigene Chef (oder die eigene Chefin) einem den Terminplan ruiniert.
100 Years Carnegie: Newton: the Crucial Experiment