Boris Johnson ist aktuell einer der Politiker, über die viel gesprochen und viel geschrieben wird. Die Wettbüros handeln ihn mit deutlichem Abstand als Favoriten für die Position des Partei- und Regierungschefs der Konservativen in Großbritannien. Er hat ganz ausgeprägte Fans und ganz ausgeprägte Gegner. Nur kalt lassen tut er anscheinend wenige. Hier bei uns in Deutschland scheint mir die veröffentlichte Meinung überwiegend kritisch oder negativ. Er sei zwar kein Donald Trump, gehöre aber in dieselbe Schublade populistischer, verantwortungsloser, gefährlicher Politiker. Ihm gehe es nicht um Großbritannien, auch nicht um seine Partei, sondern zu allererst um sich selbst.
Da ich zufällig ein bereits gelesenes (immerhin!) Buch von ihm entdeckt habe, wollte ich mir selbst ein Urteil bilden. Sein Thema: London. Erschienen: 2011. Damals war Boris Johnson Bürgermeister dieser Stadt. Gestern habe ich die letzte Seite dieses Buchs über London und Menschen, die diese Stadt geprägt haben, fertig gelesen. Heute also mein Beitrag.
Zunächst – wer sich intensiv mit Boris Johnson beschäftigt, wird’s ahnen – eine Ungeschicklichkeit meinerseits: Dieser Beitrag erscheint etwas zu früh.
Wenn ich noch bis zum 19. Juni hätte warten wollen, wäre es ein Geburtstagsbeitrag geworden, denn an diesem Tag des Jahres 1964 wurde Alexander Boris de Pfeffel Johnson in Manhattan/New York geboren. Dass er damit auch die amerikanische Staatsbürgerschaft hat, war mir neu. Ebenfalls neu für mich, dass er nicht nur in Eton zur Schule und in Oxford zur Universität ging, sondern auch die European School in Brüssel besucht hat. Insgesamt war sein Leben bisher in etwa so wild wie seine Frisur ungekämmt.
Buchtitel und Einband haben zunächst einmal meine durch die Medien geprägten Vorurteile bestätigt (gelesen habe ich die Nummer drei).
- Mit dem Titel „Johnson’s life of London“ rückt sich Johnson in die Tradition von James Boswell und Samuel Johnson (Boswell schrieb „Boswell’s life of Johnson“). Bescheiden ist das nicht, denn Samuel Johnson ist eine der intellektuellen und kulturellen Größen der englischen Vergangenheit.
- Abgebildet auf dem Einband ein Fahrrad mit 16 Sitzen und 15 Fahrradfahrern: Im Buch beschäftigt sich Boris Johnson mit mehr als 14 Personen, nicht alle haben es also aufs Fahrrad geschafft – die Nummer 15 ist er selbst, natürlich ganz vorne. Hier lenkt der Chef, mit grünen Socken, lila Krawatte und dazu passendem Jacket-Innenfutter. Auch hier also keine übertriebene Zurückhaltung Johnsons.
Das Buch selbst hat mich aber dann doch überrascht. Ich habe es sehr gerne und mit Genuß gelesen. Die Gründe?
- Die Auswahl der Personen kombiniert die üblichen Verdächtigen wie Chaucer, Shakespeare oder Churchill mit überraschenden Namen wie Keith Richards, William Turner oder William Stead (schon einmal etwas über ihn gehört?).
- Johnson schreibt wohl-recherchiert. An der einen oder anderen Stelle meinte ich, ihn bei falschen Fakten ertappen zu können. Leider hatte er jeweils recht, ich nicht.
- Nicht umsonst war Johnson Präsident der Oxford Union. Er kann zweifellos schreiben, flüssig, intelligent, spannend, lebendig, anregend, charmant und humorvoll. Sowohl aufgeblasen wie unprätentiös. Sein Englisch-Buch kennt viele Worte, für die man im Oxford English Dictionary nicht viele Belege findet.
- Die Eitelkeit Johnsons wird schon immer wieder deutlich, aber letztlich viel weniger als erwartet, eher als „ich war dabei“ statt „ich hab’s geleistet“. Auch Belege für Rassismus oder Antisemitismus, die ihm gelegentlich vorgeworfen werden, habe ich nicht gefunden, auch wenn er sicherlich den einen oder anderen Vorbehalt zum Beispiel gegenüber Deutschland zu haben scheint.
Zwei Aspekte zusätzlich: Johnson und der Populismus – und natürlich Johnson und der Brexit.
Zuerst der Populismus, anhand einer Passage zu John Wilkes, einem ebenfalls unter Populismus-Verdacht stehenden Briten des 18. Jahrhunderts:
„I have a terrible feeling that as a fifteen-year old I wrote a pompous essay on Wilkes (…). Thankfully the document has been lost, but the gist was that Wilkes was a berk, a second-rate chancer, an opportunist, an unprincipled demagogue who floated like a glittering bubble on a wave of popular sentiment that he did not really share. It may be that in some places that is still the conventional opinion.
If so, it is wrong. It is not just that I have come to admire Wilkes for his courage and his dynamism and his boundless animal spirits. Any sober assessment of his work confirms that he really was as his adoring crowds saw him – the father of civil liberty. He not only secured the right of newspapers to report the proceedings of the House of Commons, he was the first man to stand up in Parliament and urge explicitly that all adult males – rich or poor – should be allowed to vote.“
Und Brexit? Hierzu eine Passage aus dem Shakespeare-Kapitel zur Schlacht zwischen England und Frankreich bei Agincourt unter Heinrich V. und zur spanischen Armada:
„If the Spanish tried to invade again, they would find a nation prepared to defeat overwhelmingly more numerous foes – just as the English had done at Agincourt. ‚We few, we happy few! We band of brothers!‘ says the king on the eve of the battle, setting up an English idea of the heroic ratio – few against many – that was to serve England well through the Napoleonic period and into the Second World War.“
Unterschätzen sollte man Johnson nicht. Wer sein Kapitel über Winston Churchill liest, kennt sein politisches Vorbild. Gut, wenn er das Richtige will, denn er kennt viele Mittel für seine Zwecke. Und immer gut für einen Scherz und das passende Foto. Mit Theresa May nicht zu vergleichen.