Der Blog-Autor wundert sich
Das muss mir mal jemand erklären. Warum heißt das Buch auf Englisch: „An Odyssey: A father, a son and an epic“ und auf Deutsch: „Eine Odyssee: Mein Vater, ein Epos und ich“? Braucht es bei uns diesen Ich-Bezug? Ist es sonst für deutschsprachige Leser zu abstrakt? Oder rechnet man sonst hierzulande mit Verdrossenheit, wenn sich herausstellt, dass das Buch sehr autobiographisch ist, dies aber nicht gleich im Buchtitel deutlich wird? Der Siedler-Verlag, in dem das Buch erschienen ist, war da auch schon einmal anspruchsvoller. Sic transit gloria mundi.
Und wenn wir schon bei Erklärungsbedarf sind: Warum findet sich dieses Buch auf der Bestenliste ausgerechnet in der Kategorie Sachbuch in der „Zeit“? Haben die das Buch nicht gelesen oder überlesen, dass es vor allem belletristisch oder alternativ biographisch ist? Vielleicht haben die Juroren der Bestenliste sich aber auch davon inspirieren lassen, dass das Buch schon einige, wenn auch weniger renommierte Preise in den USA bekommen hat: Best Book of the Year des National Public Radio, des Library Journal, von Newsday und von den Kirkus Reviews.
Der Autor als bedeutendster Intellektueller
Daniel Mendelsohn, Jahrgang 1960, ist US-amerikanischer Staatsbürger, Professor für Klassische Philologie an einer mäßig bekannten Universität und gehört, wie der Klappentext einen wissen lassen möchte, „zu den bedeutendsten Intellektuellen in den USA“. Gut, das gelesen zu haben, damit die Messlatte richtig justiert ist. Dem Autoren tut der Siedler-Verlag damit keinen Gefallen.
Die Odyssee von Homer…
… ist Weltliteratur schlechthin. Neben der Ilias das klassische National-Epos der Griechen seit fast 3000 Jahren. Ein Höhepunkt der Dichtung gleich am Anfang der europäischen Literaturgeschichte. Kirke, Kalypso und Kyklopen.
Dickes Lob für Mendelsohn: Man erfährt viel über dieses Werk, seinen Autoren (oder waren es mehrere?), seine Sprache, seinen Aufbau, seine Erzähltechnik, seinen Inhalt, seine Überlieferungsgeschichte. Gut aufbereitet, nicht seicht, so dass man vielleicht sogar Lust bekommt, die Odyssee einmal (oder wieder?) zu lesen. Prima.
Wichtig für das Buch von Mendelsohn: In der Odyssee geht es unter anderem stark um Väter und Söhne: Laertes, dessen Sohn Odysseus, dessen Sohn Telemachos. Odysseus und Telemachos haben einander seit 20 Jahren nicht gesehen. Wahrscheinlich hat Telemachos keine eigene Erinnerung an seinen Vater. Und macht sich in der Odyssee auf die Suche.
Die Odyssee von Daniel Mendelsohn
Daniel Mendelsohn hat ebenfalls einen Vater (und zwei Großväter, die auch eine, wenn auch nachgelagerte, Rolle spielen). Sein Vater war immer verschlossen, abweisend, zurückhaltend mit Gefühlen. Ein Mathematiker. Mendelsohn möchte seinen Vater kennenlernen – und dieser wiederum vielleicht seinen Sohn – bevor es zu spät ist und der Tod dies unmöglich macht. Deshalb nimmt der Vater an einem Seminar seines Sohns teil, und sie fahren anschließend gemeinsam in Urlaub. Beides wird in diesem Buch beschrieben. Man erfährt viel über Mendelsohn und seine Familie. Der eine oder andere mag auch Lust bekommen, diese Familie näher kennenzulernen, oder fühlt sich an seine eigene Familie erinnert. Auch wäre so eine Reise im Mittelmeer gar nicht schlecht bei dem aktuellen Wetter.
Die Kombination aus beiden Odysseen…
… ist natürlich der Clou des Buchs. Das eben erwähnte Seminar befasst sich mit der Odyssee. Die gemeinsame Reise ist eine Kreuzfahrt im Mittelmeer zu den Schauplätzen der Odyssee. Daniel M. ist Telemachos, sein Vater Jay M. Odysseus. Beide Odysseen werden recht kunstvoll miteinander verwoben, gelegentlich vielleicht einen Hauch offensichtlich. Aber deutlich besser als im amerikanischen Fernsehen.
Ergibt ein Buch….
… das man gut lesen kann. Es ist unterhaltsam. Man erfährt etwas über Homers Odyssee. Ein nicht zu niederschwelliger Einstieg in die Weltliteratur. Eher etwas für Leser als Leserinnen, denn Frauen – wie auch in der Odyssee – spielen nun einmal nicht die Hauptrolle hier.
Und übrigens
Wer sich für die Odyssee interessiert, kann alternativ oder additiv auch das Buch über Homers Werke von Adam Nicolson „The mighty dead: why Homer matters“ lesen, besprochen ebenfalls in diesem Blog. Ein ausgezeichnetes Buch.