Tractatus theologico-politicus. Baruch Spinoza

Seit einiger Zeit schon pirsche ich mich an dieses Buch heran. Erst habe ich in der Philosophiegeschichte von Gottlieb über Spinoza gelesen, dann ein Buch von Nadler speziell über diesen Theologisch-politischen Traktat.

Eines ist offensichtlich: Bei der Wahl seines Buchtitels hat Spinoza entweder keinen Marketing-Experten hinzugezogen, oder er wollte absichtlich vom Lesen abschrecken. Sperriger und unattraktiver geht kaum noch. Erzählen Sie mal auf einer Party, dass Sie gerade einen theologisch-politischen Traktat lesen. Da können Sie dann gleich alleine weiter trinken….

Zum Party-Einsatz also empfehle ich das Buch nicht. Sonst aber in jeder Hinsicht. Meine Gründe dafür?

  • Hilft beim Nachdenken über Gott und die Welt, über Demokratie und Meinungsfreiheit, das Verhältnis von Religion und Staat, über Rechtsstaat und Heiligenglaube
    Viele der wirklich grundlegenden Fragen, mit denen sich nachdenkende Menschen beschäftigen, werden in diesem Buch behandelt und beantwortet. Wer sich gerne einmal sortieren möchte, kann dies mit Spinoza tun.
  • Ist auch für theologische oder philosophische Einsteiger lesbar und verständlich
    Spinoza schreibt sehr klar, sehr schnörkellos, sehr auf den Punkt. Seine Terminologie ist einfach. Er erklärt immer vorweg, was er zu tun beabsichtigt, legt seine Argumente offen und versetzt den Leser so in die Lage, selber zu Schlüssen zu kommen. Spinoza ist damit im allerbesten Sinn ein Autor der Aufklärung und ein Vertreter besten wissenschaftlichen Arbeitens. Es wäre toll, wenn alle Wissenschaftlicher und alle Philosophen heute so transparent und klar schreiben würden.
  • Macht keine faulen Kompromisse
    Es gibt nur wenige Tabus des späten 17. Jahrhunderts (und zum Teil der heutigen Zeit), die Spinoza nicht bricht. Er stellt alles in Frage und schaut, ob es einer nüchternen, logischen Betrachtung standhält. Propheten, Wunder, die Wahrheit der Bibel, Herrscher von Gottes Gnaden und viele(s) mehr werden nicht akzeptiert und als gegeben angenommen, sondern analysiert und hinterfragt. Spinoza räumt Fassaden weg und schaut, ob es eine Substanz gibt und wie sie aussieht.
  • Ist kein Theoretiker, sondern praxisorientiert, mit Umsetzung auch im eigenen Leben
    Spinoza baut keine theoretischen Konstrukte, deren abstrakte Schönheit nur von wenigen Eingeweihten im stillen Kämmerlein gewürdigt werden kann und die keinerlei Relevanz für die Realität haben. Auch Menschen sind für ihn nichts Abstraktes, sondern Lebewesen mit all ihrer Fehlbarkeit, Eitelkeit, Manipulierbarkeit, mit ihrer Hab- und Machtgier, mit ihren intellektuellen Begrenztheiten und der eigenen Selbstüberschätzung. Obendrein hat man Spinoza in seinem Leben zwar sonst alles Mögliche vorgehalten, musste aber – wie ein Kommentator schrieb – einräumen, dass er „not only preached a philosophy of tolerance and benevolence but actually succeeded in living it“. 
  • Ist ein sympathischer Mensch, der mit seinen eigenen Ängsten mutig umgeht
    Spinoza hat gewusst, welche Ablehnung, welche Anfeindung, welchen Hass dieses Buch in der Öffentlichkeit auslösen wird. Ein wenig ist er davor zurückgewichen durch den sperrigen Titel, durch anonyme Veröffentlichung. Aber er hat geschrieben, veröffentlicht und ausgehalten.
    Spinoza weiß, dass er zu den Schlauen gehört. Intellektuelle Arroganz ist ihm nicht fern. Zugleich kann er aber an völlig unerwarteten Stellen witzig sein und sich selbst in Frage stellen. Bertrand Russell ließ sich hinreißen, Spinoza als „the noblest and most lovable of the great philosophers“ zu bezeichnen. Oder – wie Gottlieb schreibt – „The worst anyone found to say about him, religious matters aside, was that he sometimes enjoyed watching spiders chase flies“. In der Tat kann man sich gut vorstellen, dass es ein Vergnügen gewesen wäre, ihn persönlich zu kennen, sich mit ihm zu unterhalten, eventuell sogar auf eine Party zu gehen (siehe oben).
  • Ist sogar im Original für Schul-Lateiner mit ein klein wenig Geduld ohne Weiteres zu verstehen!

Zwei Zitate zum Abschluss, eines zur Meinungsfreiheit, eines zu Spinoza:

„Gesetzt aber, diese Freiheit könnte unterdrückt und die Menschen könnten  in Schranken gehalten werden, daß sie nicht zu mucken wagten ohne Erlaubnis der höchsten Gewalten, so wird es doch sicherlich niemals dahin kommen, daß sie auch bloß so denken, wie die höchsten Gewalten es wollen. Die notwendige Folge wäre also, daß die Menschen tagaus, tagein anders redeten, als sie dächten, und damit würden Treu und Glaube, die dem Staate doch so nötig sind, aufgehoben (…). Aber weit entfernt, daß alle wirklich nur nach der Vorschrift redeten, würden die Menschen gerade um so hartnäckiger auf der Redefreiheit bestehen, je mehr man sie ihnen zu nehmen trachtete, und zwar nicht die Habgierigen, die Schmeichler und die anderen Menschen von ohnmächtigem Geist, deren größtes Glück es ist, das Geld im Kasten zu betrachten und sich den Bauch zu füllen, sondern gerade diejenigen, die ihre gute Erziehung, die Reinheit ihrer Sitten und die Tugend zu freieren Menschen gemacht haben.“

Und:
„Ich weiß, daß ich ein Mensch bin und daß ich habe irren können.“

Zur Überprüfung, wieweit das Schullatein noch reicht:
„Scio me hominem esse et errare potuisse.“

Gelesen (und zitiert) habe ich die zweisprachige Ausgabe von Gawlick und Niewöhner aus dem Jahr 1979.