Schlimmer verflucht als ihn hatte man noch keinen in der Amsterdamer Gemeinde, weder früher noch später. Baruch Spinoza, 23 Jahre alt, Jude von Geburt und Philosoph aus Neigung im 17. Jahrhundert, muss fliehen:
„Mit dem Urteil der Engel, mit dem Ausspruch der Heiligen, mit der Zustimmung des Gebenedeiten Gottes und dieser ganzen heiligen Gemeinde und dieser heiligen Bücher, mit den Sechshundertdreizehn Geboten, die in ihnen geschrieben sind, mit dem Fluch, mit dem Joshua Jericho verflucht hat, und mit dem Fluch, mit dem Elisha die Burschen verflucht hat, und mit allen Flüchen, die im Gesetz geschrieben sind, verbannen, verstoßen, verwünschen und verfluchen wir Baruch de Espinosa. Verflucht sei er bei Tag und verflucht sei er bei Nacht, verflucht sei er, wenn er sich hinlegt, verflucht sei er, wenn er aufsteht, verflucht sei er, wenn er hinein geht und verflucht sei er, wenn er hinaus geht. Möge ihm der Herr, der dann in diesem Mann, in dem alle Flüche, die im Buch dieses Gesetzes geschrieben sind, liegen werden, seinen Zorn und Missgunst zum Brennen und, mit allen Flüchen des Himmels, welche im Buch des Gesetzes geschrieben sind, seinen Namen unter dem Himmel auslöschen und, zu seinem Übel, aus allen Stämmen Israels entfernen wird, nicht verzeihen. Und ihr, die dem Herrn, eurem Gott, ergeben seid, seid alle heute am Leben. Wir warnen, dass niemand mit ihm weder mündlich noch schriftlich kommunizieren noch ihm irgendeinen Gefallen tun noch mit ihm unter einem Dach noch ihm näher als vier Ellen sein noch irgendein von ihm geschriebenes Blatt lesen darf.“
Hier das Original in Portugiesisch (die Amsterdamer Juden waren Sepharden mit Portugiesisch bzw. Spanisch als offizieller Sprache):
Die Christen waren da gerne mit dabei, sogar Leibniz regte sich auf. Der katholische Index verbotener Bücher war um einen Titel reicher. Man war sich einig: Ein schlimmer, gottloser, umstürzlerischer Mensch. Er muss weg. Und vor allem auch seine Bücher!
Neugierig auf Spinoza wurde ich durch die Philosophiegeschichte von Anthony Gottlieb.
An den Originaltext seines „Tractatus theologico-politicus continens dissertationes aliquot, quibus ostenditur Libertatem Philosophandi non tantum salva Pietate, & Reipublicae Pace posse concedi: sed eandem nisi cum Pace Reipublicae, ipsaque Pietate tolli non posse“ habe ich mich noch nicht gewagt. Allerdings ist die Neugier nach dem Lesen des Buchs von Nadler noch größer geworden.
Der Grund der Aufregung?
Logisch sauber argumentiert und auch für Nicht-Philosophen sehr gut zu verstehen, zerlegt Spinoza so ziemlich alles, was den Mächtigen in Politik und Religionen für ihren Machterhalt (und vielleicht auch für ihren Glauben) wichtig war. In der Zusammenfassung der wichtigsten Punkte von Nadler:
„Spinoza was the first to argue that the Bible is not literally the word of God but rather a work of human literature; that ‚true religion‘ has nothing to do with theology, liturgical ceremonies, or sectarian dogma but consists only in a simple moral rule: love your neighbor; and that ecclesiastic authorities should have no role whatsoever in the governance of a modern state. He also insisted that ‚divine providence‘ is nothing but the laws of nature, that miracles (…) are impossible and belief in them is only an expression of our ignorance of the true causes of phenomena, and that the prophets of the Old Testament were simply ordinary individuals who (…) happened (…) to have particularly vivid imaginations. The book’s political chapters present as eloquent a plea for toleration (…) and democracy as has ever been penned.“
Seine Vorgänger wie Maimonides, Hobbes und seine Nachfolger wie Locke haben zwar vielleicht ähnlich radikal gedacht und argumentiert wie er, aber sie haben sich oft vorsichtiger ausgedrückt. Spinoza folgt allein der Logik seiner Argumentation, denkt und schreibt frei und unabhängig.
Logisches, unabhängiges, freies Denken und Schreiben ist ihm auch ein besonderes Anliegen, wie schon der lateinische Untertitel seines Tractatus theologico-politicus sagt: Nicht nur kann Freiheit des Denkens („libertas philosophandi„) gewährt werden, ohne dass es Religiosität und Frieden schadet, sondern im Gegenteil man zerstört diese, wenn man die Freiheit des Denkens beseitigt.
Meinungs- und Redefreiheit sind Grundvoraussetzung für ein dauerhaft funktionierendes, sich gut entwickelndes Gemeinwesen.
Und das Buch von Nadler?
Sehr gut lesbar. Durchaus auch spannend und unterhaltsam. Macht die Argumentation von Spinoza in ihren wesentlichen Aspekten sehr transparent und nachvollziehbar. Vielleicht gelegentlich etwas redundant geschrieben. Mit ausreichend Einbettung in die Biographie von Spinoza. Gut ausgewählte Anekdoten. Bietet zusätzlich eine sehr hilfreiche Einordnung in den politisch-religiös-kulturellen Hintergrund Hollands und Amsterdams im 17. Jahrhundert. Macht deutlich, warum sich Amsterdam für mehrere Jahrzehnte den alternativen Namen „Eleutheropolis“ verdient hat.
Und der Fluch?
Hat nicht gewirkt. Vielleicht hat also Spinoza Recht mit seinen Argumentationen?