Hippolytos. Euripides

Alle Personen sind unsympathisch. Ob das Absicht ist?
Die antike Tragödie „Hippolytos“ – genauer: „Der bekränzte Hippolytos“ (im griechischen Original: Ἱππόλυτος στεφανοφόρος) – wurde von Euripides im Jahr 428 vor unserer Zeitrechnung in Athen geschrieben und beim Fest der Dionysien aufgeführt. Er gewann den ersten Preis.

Damit gelang ihm – neben Aischylos und Sophokles einem der drei Großen der antiken Tragödie – ein Stück Weltliteratur und ein echter Klassiker des Theaters.

Der Inhalt ist schnell erzählt:
Phaidra, Ehefrau von Theseus, verliebt sich in ihren Stiefsohn Hippolytos. Ihr ist das sehr peinlich und sie wird deshalb fast krank (siehe Bild) – er möchte davon nichts wissen, denn als frommer Anhänger von Artemis hat er Keuschheit geschworen.

Weil das Geheimnis ihrer unangemessenen Liebe öffentlich geworden ist, tötet sich Phaidra und beschuldigt Hippolytos in ihrem Abschiedsbrief, sie sexuell belästigt zu haben. Als Theseus dies liest, verbannt er seinen Sohn und bittet gleichzeitig seinen eigenen Vater Poseidon, Hippolytos zu töten. Dies geschieht, und alle sind verzweifelt (oder tot).

Spannend ist diese Tragödie überhaupt nicht und sollte sie auch nie sein. Die meisten Zuschauer damals in Athen kannten den Mythos ohnehin. Und für alle, die ihn nicht kannten, tritt gleich am Anfang Aphrodite auf und verrät alles Wesentliche des Plots.

Faszinierend ist sie wegen der Zeichnung der Charaktere und der ausgezeichneten Sprache.

Wie gesagt, unsympathisch sind sie alle. Letztlich könnten Phaidra, Hippolytos und Theseus auch zu einer Königsfamilie gehören, die wöchentlich in der Bunten und im Bild der Frau auftritt. Phaidra, die schöne Ehefrau von Theseus, Tochter der skandalumwitterten Familie von Minos und Pasiphae, neigt zu hysterischen Anfällen und lässt sich leicht von anderen beeinflussen. Theseus, auch Spross einer Königsfamilie, ein klassischer Muskelprotz und Raufbold mit kurzem Geduldsfaden und wenig Neigung zu intellektuellem Diskurs, ist wegen eines Mordes gerade in der Verbannung. Hippolytos, passionierter Jäger, Freund schneller Wagen und gleichzeitig ein religiöser Fanatiker, hasst alle Frauen, findet sich selbst aber ganz toll. Alle sind sie eitel und auf ein positives Image in der Öffentlichkeit aus.
Die Götter – ebenfalls dem Jetset durchaus vergleichbar – sind übrigens auch nicht besser. Die ganze Geschichte wird angezettelt, weil Aphrodite, die Göttin der Liebe, sich an Hippolytos dafür rächen will, dass er Artemis Gefolgschaft und damit Keuschheit geschworen hat. Und Artemis kann ihm da auch gerade nicht helfen, weil eine griechische Götterkrähe der anderen die Augen nicht auskratzt. Immerhin stellt sie zum Schluss seine Ehre wieder her, da sie die Verleumdung durch Phaidra aufdeckt – und sie droht, als Nächstes ihrerseits aus Rache an Aphrodite den Tod eines Liebes-Anhängers zu befördern.

Also alle so wie wir alle.

Wie Euripides sprachlich alle Konflikte auf ihre Essenz bringt und sie pointiert-nuancenreich formuliert, wie er die Charaktere mit wenigen Worten umreisst, wie modern sein Menschenverständnis ist, wie poetisch er schreiben kann, ist ein echter Genuss.

Besonders beeindruckend vielleicht eine längere Rede von Hippolytos, in der er seinem Frauenhass Ausdruck verleiht (Verse 617ff.) – schon die ersten beiden Verse reichen fast:
„ὦ Ζεῦ, τί δὴ κίβδηλον ἀνθρώποις κακὸν
γυναῖκας ἐς φῶς ἡλίου κατώικισας;“
„Was hast du doch der Menschen gleißend Ungemach,
Die Fraun, o Zeus, an dieses Sonnenlicht gebracht?“

Oder später:
„τούτωι δὲ δῆλον ὡς γυνὴ κακὸν μέγα•
προσθεὶς γὰρ ὁ σπείρας τε καὶ θρέψας πατὴρ
φερνὰς ἀπώικισ‘, ὡς ἀπαλλαχθῆι κακοῦ.“
„Dass Fraun ein großes Übel sind, beweist ja dies:
Ihr Vater, ihr Erzieher gibt noch reichen Schatz
Und läßt sie ziehen, um des Übels los zu sein.“

Poetischer eine Chorpartie (Verse 732ff.):
„ἠλιβάτοις ὑπὸ κευθμῶσι γενοίμαν,
ἵνα με πτεροῦσσαν ὄρνιν
θεὸς ἐν ποταναῖς
ἀγέλαις θείη•
ἀρθείην δ‘ ἐπὶ πόντιον
κῦμα τᾶς Ἀδριηνᾶς
ἀκτᾶς Ἠριδανοῦ θ‘ ὕδωρ,
ἔνθα πορφύρεον σταλάσσουσ‘
ἐς οἶδμα τάλαιναι
κόραι Φαέθοντος οἴκτωι δακρύων   
τὰς ἠλεκτροφαεῖς αὐγάς•“
„Könnt ich in Tiefen der Waldschluchten gelangen,
Wo mich als beschwingten Vogel
In geflügelten Schwärme versetzt ein Gott,
daß ich könnte zu Adrias
Ferner Flut mich erheben,
Hin zum Strom des Eridanos,
Wo von Helios‘ armen Töchtern
Im Jammer um Phaethons Ende
Hinab in die düstre Brandung
Sich ergießt bernsteinschimmernder Tränenglanz.“