Äthiopische Geschichten. Heliodor

Die „Äthiopischen Geschichten“ von Heliodor, zweifellos ein Werk der Weltliteratur, der vielleicht beste, zweifellos der längste antike griechische Roman, Bestseller im Byzantinischen Reich. Zu seinem Fanclub gehören: Shakespeare, Goethe, Verdi.

Und heute? Noch nie etwas davon gehört, oder?

Der vollständige Titel des Romans lautet „Äthiopische Geschichten oder: Die Erlebnisse von Theagenes und Charikleia“ (Αἰθιοπικὰ ἢ τὰ περὶ Θεαγένην καὶ Χαρίκλειαν). Geschrieben wurden sie von Heliodoros aus Emesa, dem heutigen Homs in Syrien, irgendwann im 3. oder 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung.

In diesem Liebesroman geht es um eine ausgesprochene verwickelte und ereignisreiche Geschichte, die ca. im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung spielt. Im Zentrum ein Liebespaar mit Namen Charikleia und Theagenes (wer diese beiden Personen sind, wird hier nicht verraten, denn sonst ist einiges der Spannung beim Lesen weg). Orte der Handlung sind Griechenland (Delphi, Athen), Ägypten und Äthiopien. Es gibt Entführungen, Räuber, ägyptische Priester, Intrigen, Überfälle, Orakel, Rettungen in letzter Minute – kurz: alles, was das Fortsetzungsroman-liebende Publikum liebt und braucht, inklusive Happy End, so dass man wieder ruhig schlafen kann. Und das nicht nachgemacht und pseudo, wie bei vielen der heutigen Historienschinken, sondern original-antik, von der Sprache bis zur Kleidung und den Einrichtungsgegenständen. Da sage noch einmal jemand, antike Texte seien langweilig.

Besonders beeindruckend ist der sehr sorgfältige und gekonnte Aufbau dieses Romans, der es versteht, durch Vor- und Rückblenden, eingeschobene Erzählungen, subtile Andeutungen zu faszinieren und zu fesseln. In den Worten eines klassischen Philologen und Spezialisten für antike Romane, B.P. Reardon: „(…) another of the Aithiopika’s greatest delights: its sheer convolution and intricacy. As connections emerge, seemingly of their own accord, over long spans of text, as plot and subplot slowly mesh together, as subsidiary narrators successively play with the partial knowledge  of their audience, we are invited to admire the virtuoso skills of the self-concealing author who has engineered the whole complex mechanism.“

Ebenfalls toll – wenn auch in einer Übersetzung leider nicht vollständig nachzuvollziehen – die Sprache Heliodors, ein exzellentes Griechisch voller Anspielungen auf Homer, Hesiod, Euripides… Wohlklingend und poetisch, schnelle Dialoge, eindrucksvolle Beschreibungen. Wunderbar konstruierte Sätze, für Laut-Leser eine Fülle des Wohlklangs. Vielleicht etwas manieriert, aber es ist ja auch ein Liebesroman!
Oder in den Worten des Humoristen S.J. Perelman, auf den ich an anderer Stelle aufmerksam wurde, auch wenn er diese Worte in einem komplett anderen Zusammenhang geschrieben hat: „Their adventures are recorded in some of the most stylish prose to flow out of an inkwell since Helen Hunt Jackson’s Ramona. The people of  (this) piece, beset by hostile aborigines, snakes, and blackwater fever, converse with almost unbearable elegance, rolling out their periods like Edmund Burke.“ Passt genau, nur das Schwarzwasser-Fieber kommt bei Heliodor nicht vor.

Verdis Aida gäbe es ohne Heliodor nicht, Goethe benannte seinen Zauberlehrling nach ihm, Shakespeare ist in vielen Szenen seiner Komödien von Heliodors Dramaturgie beeinflusst, der moderne Roman sähe ohne Heliodor sicherlich anders aus.

Bereits der Beginn des ersten Satzes des Romans ist in der Lage, die Leser zu fesseln:
„ἡμέρας ἄρτι διαγελώσης καὶ ἡλίου τὰς ἀκρωρείας καταυγάζοντος, ἄνδρες ἐν ὅπλοις λῃστρικοῖς ὄρους ὑπερκύψαντες (…).
„The smile of daybreak was just beginning to brighten the sky, the sunlight to catch the hilltops, when a group of men in brigand gear peered over the mountain (…).“ (Übersetzung von J.R. Morgan)

Und das Beste? Es gibt Heliodor für kleines Geld auch in deutschen Übersetzung! Mit lockendem Einband – und außerdem in klassisch-asketischer Aufmachung bei Reclam.

Hippolytos. Euripides

Alle Personen sind unsympathisch. Ob das Absicht ist?
Die antike Tragödie „Hippolytos“ – genauer: „Der bekränzte Hippolytos“ (im griechischen Original: Ἱππόλυτος στεφανοφόρος) – wurde von Euripides im Jahr 428 vor unserer Zeitrechnung in Athen geschrieben und beim Fest der Dionysien aufgeführt. Er gewann den ersten Preis.

Damit gelang ihm – neben Aischylos und Sophokles einem der drei Großen der antiken Tragödie – ein Stück Weltliteratur und ein echter Klassiker des Theaters.

Der Inhalt ist schnell erzählt:
Phaidra, Ehefrau von Theseus, verliebt sich in ihren Stiefsohn Hippolytos. Ihr ist das sehr peinlich und sie wird deshalb fast krank (siehe Bild) – er möchte davon nichts wissen, denn als frommer Anhänger von Artemis hat er Keuschheit geschworen.

Weil das Geheimnis ihrer unangemessenen Liebe öffentlich geworden ist, tötet sich Phaidra und beschuldigt Hippolytos in ihrem Abschiedsbrief, sie sexuell belästigt zu haben. Als Theseus dies liest, verbannt er seinen Sohn und bittet gleichzeitig seinen eigenen Vater Poseidon, Hippolytos zu töten. Dies geschieht, und alle sind verzweifelt (oder tot).

Spannend ist diese Tragödie überhaupt nicht und sollte sie auch nie sein. Die meisten Zuschauer damals in Athen kannten den Mythos ohnehin. Und für alle, die ihn nicht kannten, tritt gleich am Anfang Aphrodite auf und verrät alles Wesentliche des Plots.

Faszinierend ist sie wegen der Zeichnung der Charaktere und der ausgezeichneten Sprache.

Wie gesagt, unsympathisch sind sie alle. Letztlich könnten Phaidra, Hippolytos und Theseus auch zu einer Königsfamilie gehören, die wöchentlich in der Bunten und im Bild der Frau auftritt. Phaidra, die schöne Ehefrau von Theseus, Tochter der skandalumwitterten Familie von Minos und Pasiphae, neigt zu hysterischen Anfällen und lässt sich leicht von anderen beeinflussen. Theseus, auch Spross einer Königsfamilie, ein klassischer Muskelprotz und Raufbold mit kurzem Geduldsfaden und wenig Neigung zu intellektuellem Diskurs, ist wegen eines Mordes gerade in der Verbannung. Hippolytos, passionierter Jäger, Freund schneller Wagen und gleichzeitig ein religiöser Fanatiker, hasst alle Frauen, findet sich selbst aber ganz toll. Alle sind sie eitel und auf ein positives Image in der Öffentlichkeit aus.
Die Götter – ebenfalls dem Jetset durchaus vergleichbar – sind übrigens auch nicht besser. Die ganze Geschichte wird angezettelt, weil Aphrodite, die Göttin der Liebe, sich an Hippolytos dafür rächen will, dass er Artemis Gefolgschaft und damit Keuschheit geschworen hat. Und Artemis kann ihm da auch gerade nicht helfen, weil eine griechische Götterkrähe der anderen die Augen nicht auskratzt. Immerhin stellt sie zum Schluss seine Ehre wieder her, da sie die Verleumdung durch Phaidra aufdeckt – und sie droht, als Nächstes ihrerseits aus Rache an Aphrodite den Tod eines Liebes-Anhängers zu befördern.

Also alle so wie wir alle.

Wie Euripides sprachlich alle Konflikte auf ihre Essenz bringt und sie pointiert-nuancenreich formuliert, wie er die Charaktere mit wenigen Worten umreisst, wie modern sein Menschenverständnis ist, wie poetisch er schreiben kann, ist ein echter Genuss.

Besonders beeindruckend vielleicht eine längere Rede von Hippolytos, in der er seinem Frauenhass Ausdruck verleiht (Verse 617ff.) – schon die ersten beiden Verse reichen fast:
„ὦ Ζεῦ, τί δὴ κίβδηλον ἀνθρώποις κακὸν
γυναῖκας ἐς φῶς ἡλίου κατώικισας;“
„Was hast du doch der Menschen gleißend Ungemach,
Die Fraun, o Zeus, an dieses Sonnenlicht gebracht?“

Oder später:
„τούτωι δὲ δῆλον ὡς γυνὴ κακὸν μέγα•
προσθεὶς γὰρ ὁ σπείρας τε καὶ θρέψας πατὴρ
φερνὰς ἀπώικισ‘, ὡς ἀπαλλαχθῆι κακοῦ.“
„Dass Fraun ein großes Übel sind, beweist ja dies:
Ihr Vater, ihr Erzieher gibt noch reichen Schatz
Und läßt sie ziehen, um des Übels los zu sein.“

Poetischer eine Chorpartie (Verse 732ff.):
„ἠλιβάτοις ὑπὸ κευθμῶσι γενοίμαν,
ἵνα με πτεροῦσσαν ὄρνιν
θεὸς ἐν ποταναῖς
ἀγέλαις θείη•
ἀρθείην δ‘ ἐπὶ πόντιον
κῦμα τᾶς Ἀδριηνᾶς
ἀκτᾶς Ἠριδανοῦ θ‘ ὕδωρ,
ἔνθα πορφύρεον σταλάσσουσ‘
ἐς οἶδμα τάλαιναι
κόραι Φαέθοντος οἴκτωι δακρύων   
τὰς ἠλεκτροφαεῖς αὐγάς•“
„Könnt ich in Tiefen der Waldschluchten gelangen,
Wo mich als beschwingten Vogel
In geflügelten Schwärme versetzt ein Gott,
daß ich könnte zu Adrias
Ferner Flut mich erheben,
Hin zum Strom des Eridanos,
Wo von Helios‘ armen Töchtern
Im Jammer um Phaethons Ende
Hinab in die düstre Brandung
Sich ergießt bernsteinschimmernder Tränenglanz.“