Was tut eine junge Frau, wenn sie keinen Mann bekommt, weil es zu wenige Männer gibt?
Und wenn sie auf die standesgemäße Versorgung durch einen Ehemann angewiesen ist? Und wenn sie im England des 18. oder 19. oder frühen 20. Jahrhunderts lebt?
Ganz einfach: Sie geht dort hin, wo die Männer in der Überzahl sind. Nach Indien.
Ab dem späten 19. Jahrhundert, als die britische Herrschaft in Indien (the Raj) ihren Höhepunkt hatte, gingen viele junge britische Männer nach Indien, wo sie als Administratoren, Soldaten oder Geschäftsleute arbeiteten. Zahllose junge Frauen folgten ihnen auf den neuen Dampfschiffen und über die neue, kürzere Reiseroute durch den Suez-Kanal. Man nannte diese jungen Frauen die „Fishing Fleet“: Töchter, die in England erzogen worden waren und nun nach Indien zurückkehrten, junge Frauen mit Einladungen von verheirateten Schwestern oder Freundinnen und viele, viele andere. Viele der jungen Frauen hatten nur ein Ziel: einen Mann zu finden. Möglichst schnell.
Hier eine Hörprobe des Audio-Buchs.
Eines war sicher: Allein das Zahlenverhältnis von 1 jungen Frau auf 4 unverheiratete Männer stellte sicher, sie würden eine tolle Zeit haben. Im frühen 20. Jahrhundert gab es in all den größeren Zentren eine quirlige gesellschaftliche Szene: Bälle, Parties, Amateur-Theater-Aufführungen, Picknicks, Tennis-Parties, Kino, Elefanten-Ritte, Tigerjagden und luxuriöse Dinner bei befreundeten Maharadschas.
Aber nach der Hochzeit sah es häufig anders aus. Das Leben der jungen Frauen veränderte sich häufig auf dramatische Weise: Oft fanden sie sich gestrandet an einem einsamen Punkt in der Weite Indiens. Wenige oder keine Europäer waren in der Nähe, Krankheiten und Sterbefälle gehörten zum Alltag. Per Kamel oder Pferd ritten diese Frauen dann mehrere Stunden im hochgebundenen Abendkleid zu einem Ball oder zum Club. Für eine Zahnbehandlung waren nicht selten Reisen von 50 Stunden Dauer normal. Und dennoch: Viele Frauen des Raj hatten Augen und Ohren für den exotischen Zauber Indien. „The Fishing Fleet“ ist ihnen gewidmet.
Zum historischen Hintergrund hier History Today mit weiteren Informationen.
Anne de Courcy ist eine britische Schriftstellerin und Journalistin. Sie war in den 1970er Jahren Woman’s Editor der London Evening News, arbeitete danach für den Evening Standard und später die Daily Mail. Zu ihren ausgezeichneten Biografien gehören THE VICEROY’S DAUGHTERS, DIANA MOSLEY und DEBS AT WAR sowie SNOWDON.