Bad medicine: Doctors doing harm since Hippocrates. Eine Geschichte der Medizin von David Wootton

„Murder, mayhem, and the medics“, so könnte man den Titel vielleicht auch formulieren. Reißerisch kann David Wootton also offensichtlich auch. Zumindest legt der Titel dieses Frühwerks von ihm (erschienen erstmalig 2006) das nahe. Sein Thema: die Geschichte der Medizin einmal anders, mit Fokus darauf, was schief gelaufen ist und vor allem warum. Kein Titel eigentlich, wie man ihn bei der superseriösen Oxford University Press erwarten würde.
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Seriös also oder skandalös? Da bleibt nichts außer: lesen.

Bereits in der Einleitung springt einen ein Satz an: „For 2,400 years patients have believed that doctors were doing them good; for 2,300 years they were wrong.“ Aber auch: „So don’t be misled by the title of this book. This is neither an attack on the medical profession nor an indictment of modern medicine. When I was young, doctors twice saved my life: I have the scars to prove it.“

Drei Aspekte in dieser Geschichte der Medizin finde ich bemerkenswert neben allen hochinteressanten medizinhistorischen Details, die er erzählt.

  • „(…) progress in knowledge and progress in therapy are quite distinct (…)“
    Wissensfortschritte gab es viele in der Medizin, nicht zuletzt durch die Anatomie am lebenden oder toten Körper. Erstaunlicherweise hatten diese neuen Erkenntnisse aber bis Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich praktisch keinerlei Auswirkungen auf die Therapie. Aderlass sowie Brech- und Abführmittel blieben die Mittel der Wahl für fast alle Krankheiten außer im orthopädischen oder psychischen Bereich, teilweise noch bis ins 20. Jahrhundert hinein.
    Anders formuliert also: Erkenntnisgewinn bedeutet nicht automatisch auch einen Fortschritt in der Praxis. Das vermutet man intuitiv ja so nicht, hoffnungsfroh (und offenbar naiv) wie man ist.
  • „What we need in (such) cases (…) is a history, not of progress, but of delay; not of events, but of non-events; not of an inflexible logic, but of a slopply logic; not of overdetermination, but of underdetermination. And these cases, it turns out, are in medicine (at least until very recently) the norm, not the exceptions.“
    Wer in welchem Feld auch immer Fortschritte erzielen möchte, braucht also nicht nur die richtigen inhaltlichen Erkenntnisse. Er (oder sie) sollte sich zusätzlich darin auskennen, woran es in der Praxis oft scheitert, selbst wenn die Vorteile völlig offensichtlich sind und einem kaum oder keine Nachteile einfallen. Chirurgen z.B. haben über lange Zeit ihr Möglichstes getan, weiter ohne Einsatz von Anästhesie zu operieren. Wootton: „To think about progress, you must first understand what stands in the way of progress – in this case, the surgeons’s pride in his work, his professional training, his expertise, his sense of who he is.“ Oder an anderer Stelle, etwas allgemeiner formuliert: „The primary obstacle to progress (…) was (…) psychological and cultural. It lay in the doctors‘ sense of themselves, their awareness of their own traditions, their habit of conferring authority upon an established canon and upon established therapies.“
  • Fortschritte wurden oft nur dann tatsächlich erzielt, als es nicht mehr anders ging, als ein „weiter so“ das Ende bedeutet hätte
    Das Aufkommen von statistischen Methoden begann deutlich zu machen, dass Aderlass und die anderen Standardtherapien mehr schadeten als nützte; die Ärzte standen schwer in der Kritik. Die Kliniken standen kurz vor der Schließung, da immer deutlicher wurde, dass sie eher der Sterbebeschleunigung dienten. In beiden Fällen gelang erst danach Neuerungen der Durchbruch.
    This picture represents the cholera outbreak in 1854 and John Snow ...

Wenn man bedenkt, dass in anderen Wissenschaften die Neuzeit schon im 16. oder 17. Jahrhundert begonnen hatte, war die Medizin recht offensichtlich multiresistent gegen Veränderung. Aber gerade Menschen in der heutigen Zeit sollten sich nicht beklagen: Heute hilft Medizin (und Mediziner) oft tatsächlich. Da haben wir Glück, spätgeboren zu sein. Ob die Multiresistenz damit allerdings vollständig überwunden ist?

Zur Geschichte der Medizin haben wir in diesem Blog übrigens auch einige weitere empfehlenswerte Bücher besprochen, zum einen „The smile revolution“ von Colin Jones, zum anderen „Murderous contagion“ von Mary Dobson.

Kleine Anmerkung zusätzlich in eigener Sache: Auch wenn es jetzt eine ganze Reihe von Beiträgen über David Wootton und seine Bücher gibt, das ändert sich auch bald wieder.

Älter werden. Silvia Bovenschen

image„Älter werden“ ist ein Buch über das Älter- und Alt-werden. Bovenschens Ich-Erzählerin führt ein Selbstgespräch, in dem sie Erinnerungen, aktuelle Eindrücke und Reflexionen in Worte fasst. Sie ist oft kritisch – auch mit sich selbst-, manchmal wehmütig, nie resigniert. Die Sprache ist einfach, fast lakonisch und dennoch poetisch:

„Wenn wir Kinder sind, ist immer noch alles möglich. Die Welt ist noch so neu und phantastisch, daß uns der Wechsel in andere Jahrhunderte, andere Weltteile, andere Identitäten keine Mühe macht. Ein strahlender Ritter zu werden, ist nicht unwahrscheinlicher, als einmal zwanzig Jahre alt zu werden. Alles steht noch in der Möglichkeitsform. Mit der Einsicht in die abnehmenden Möglichkeiten aber beschleicht die meisten von uns eine lächerliche Angst, vor sich selbst lächerlich zu werden. (…) Den meisten verdirbt der Gelenkrheumatismus die heroischen Träume. Helden sterben nicht auf Intensivstationen.“

Ein gutes und schönes Buch. Gelesen in der Ausgaben von 2013.