Vorhang. Agatha Christie

Agatha Christie setzt in ihren Krimis eine ganze Reihe von Detektiven ein. Tuppence & Tommy kennen nicht so viele, Parker Pyne noch weniger. Miss  Marple und Hercule Poirot dagegen sind mindestens so bekannt wie Sherlock Homes. Während Miss Marple bei Christie über alle Krimis hinweg nicht altert, ist das bei Poirot anders. Irgendwann beginnt er, seine Haare zu färben, später trägt er eine Perücke. Und in einem Krimi stirbt er dann sogar. Dieser Krimi heißt „Vorhang“.
Curtain (Hercule Poirot, #42) by Agatha Christie

Geschrieben hat Christie diesen Roman in den 1940er Jahren. Erschienen ist er aber erst ein Jahr vor ihrem eigenen Tod, im Jahr 1975.

„Vorhang“ folgt den Regeln einer klassischen antiken Tragödie: Die Einheit von Ort und Zeit wird eingehalten, wenn man von einem kurzen zeitlich später gelagerten Nachspiel absieht. Dabei spielt der Krimi genau dort, wo Poirot schon seinen ersten Agatha Christie-Fall gelöst hat: In Styles Court. Das Personal ist überschaubar, weniger als zehn Personen. Auch passiert nicht viel. Es wird vor allem gesprochen. Und Arthur Hastings, Hercule Poirots Watson, denkt viel nach.
Curtain: Poirot's Last Case | Agatha Christie | Reprint

Der Mörder in „Vorhang“, Stephen Norton, ist schwer zu fassen. Denn er tötet nicht selbst. Er lässt töten.

Menschen haben immer wieder den Wunsch oder den Impuls, jemand anderen ums Leben zu bringen, werden jedoch im Normalfall durch ihre intrinsische moralische Instanz  doch daran gehindert. Durch psychologisch geschickte Beeinflussung gelingt es dem Mörder immer wieder, diese moralische Instanz außer Kraft zu setzen.

Der Mörder ist ein Meister seines Faches, denn er schafft dies auch beim grundanständigen Hastings – und zum Schluß sogar beim hochmoralischen Poirot, der die Tötung eines anderen Menschen für durch nichts zu rechtfertigen hält: Poirot tötet Norton. Damit ist auch ein Weiterleben Poirots für Poirot nicht mehr möglich.
Quel Natale in cui Agatha Christie uccise Poirot - Il Foglio

Norton macht – bezogen auf Individuen – genau das, was Demagogen im großen Stil machen. Es fällt nicht schwer, bei diesem in den 40er Jahren geschriebenen Krimi eine Parallele zu Hitler und dem dritten Reich zu ziehen. Interessant ist, dass Christie in „Vorhang“ die von einem Demagogen verführten Menschen letztlich entlastet. Sie waren nur begrenzt zurechnungsfähig. Interessant auch, dass Christie die Ermordung eines Demagogen, der zum Töten anstiftet, moralisch anscheinend für vertretbar, ja geradezu für notwendig hält.

Ein sehr tiefgründiger, stiller und verstörender Krimi, den man gelesen haben sollte.