Alles zerfällt. Chinua Achebe

„Things fall apart“, der erste Roman von Chinua Achebe, erschien 1958. Mit mehr als 60 Jahren Verspätung habe ich ihn jetzt endlich auch gelesen.
On Things Fall Apart and Things Falling Apart: Simon van Schalkwyk ...

Albert Chinualumogu Achebe, *1930 in Nigeria, † 2013 in den USA, gilt als einer der Väter der modernen afrikanischen Literatur – woran auch immer man das festmacht. Jedenfalls war er sehr erfolgreich als Schriftsteller und wurde in mehr als 50 Sprachen übersetzt. Eine Übersetzung ins Englische war dabei nicht erforderlich, da Chinua Achebe bereits auf Englisch schrieb.
Vielleicht hat das dabei geholfen, einer dieser Väter zu werden (Literaturen haben übrigens eigentlich immer nur Väter, sind also ein biologisches Phänomen – oder kennt jemand z.B. eine der Mütter der modernen afrikanischen Literatur?), denn sonst hätte man ihn im Westen eventuell gar nicht oder erst viel später kennengelernt.
Chinua Achebe | The Dorothy & Lillian Gish Prize

Wikipedia fasst „Things fall apart“ zusammen: „Darin erzählt Achebe die Geschichte der nigerianischen Igbo in den 1890er Jahren. Der Bildungsroman schildert in realistischer Erzählweise im ersten Teil Wirtschaft, Kultur, Traditionen, Religion und Geschlechterverhältnisse einer Dorfgemeinschaft. In einem zweiten und dritten Teil werden die Auswirkungen der neuen christlichen und kolonialistischen Einflüsse auf das Dorfleben dargestellt.“

Das klingt ordentlich trocken. Eher wie eine akademische, anthropologische Abhandlung. Oder wie das Werk, das der britische District Commissioner als Krönung seines administrativen Lebenswerks zu schreiben gedenkt, sein Arbeitstitel: „The Pacification of the Primitive Tribes of the Lower Niger“.
„One must be firm in cutting out details.“

Ruhig und unaufgeregt, sachlich und ohne offensichtliche Wertungen, einfach und unprätentiös schreibt Chinua Achebe. Er läßt seinen Lesern Zeit nachzudenken. Sie können zu eigenen Einschätzungen und Wertungen kommen. Zugleich weiß man bereits nach der ersten Seite, dass man das Buch auf jeden Fall zu Ende lesen wird.

Vor der Ankunft der Missionare und Kolonialherren wird das Dorf als  Gemeinschaft geschildert. Es gibt Zusammenhalt, Solidarität, verbindliche gemeinsame Regeln. Wahrlich nicht alles ist einfach – Zwillinge zum Beispiel werden getötet, da sie als unheilvoll gelten -, aber es ist eine tatsächlich funktionierende, gemeinsam getragene Gemeinschaft.
Origin of Igbo tribe in Nigeria ▷ Legit.ng

Diese Basis wird von den christlichen Missionaren und Kolonisatoren untergraben. Der traditionellen Gemeinschaft gelingt es nicht, erfolgreich Widerstand zu leisten. Sie wird letztlich durch ihre eigenen Mechanismen zerstört. Es ist Sache der Götter, sich gegen eine andere, neue Religion zu wehren. Sobald die ersten Dorfbewohner zum Christentum übergetreten sind, kann man die Christen nicht mehr angreifen: Man kämpft nicht gegen Mitglieder der eigenen Familie. Und außerdem bietet die koloniale Zeit mehr Möglichkeiten, zu Wohlstand zu kommen – und Eigennutz war noch immer der Feind von Gemeinschaft.
Igbo People Language, Culture, Tribe, Religion, Women, Food, Masks

Die Hauptfigur des Romans, Okonkwo, der größte Krieger seines Dorfs, wohlhabend und sehr anerkannt in seiner Gemeinschaft, möchte die Kolonisatoren vernichten oder vertreiben, zur Not allein. Er sieht, dass sie die Gemeinschaft und alles, was ihm wichtig ist, zerstören. Als es darauf ankommt, macht sein Dorf aber nicht mit. Und gegen oder ohne seine Gemeinschaft  kann und möchte er dann doch nicht. Okonkwo kämpft nicht, er erhängt sich. Wie seine Gemeinschaft im übertragenen Sinne auch.

Erstaunliche Ironie dabei: Nur die Fremden können ihn abhängen und bestatten – seine Dorfgemeinschaft lässt ihn, der sie retten wollte, auch hier allein. Man braucht die Soldaten des District Commissioners. „It is against our custom. (…) It is an abomination for a man to take his own life. It is an offence against the Earth, and a man who commits it will not be buried by his clansmen. His body is evil, and only strangers may touch it. That is why we ask your people to bring him down, because you are strangers.“

Ein seltsames, fremdes Buch über uns.

Black and british: a forgotten history. David Olusoga

2016 erschienen. Ein mutiges Buch. Überfällig. Gelungen. David Olusogas Geschichte über das Verhältnis zwischen Großbritannien und seiner nicht-weißhäutigen Bevölkerung ursprünglich afrikanischer Abstammung, auf Englisch: den „black British people“.

Beginnen möchte ich mit Ratlosigkeit: Wie nennt man diese Bevölkerungsgruppe eigentlich auf deutsch, ohne in irgendeiner Ecke zu landen? Da ich hierfür keine Antwort habe und finde, behelfe ich mich mit der (relativ) anerkannten englisch-sprachigen Variante. Apropos: Genau unter „Black British“ findet sich bei Wikipedia ein ausgezeichneter Beitrag, vielleicht sogar auch von David Olusoga.

Unbedingt lesenswert übrigens auch, bevor man mit dem Buch startet: ein Interview mit Olusoga im Guardian.

Warum schätze ich dieses Buch von Olusoga?

Ein weiter historischer Bogen
Olusoga beginnt in der Antike und endet im frühen 21. Jahrhundert. Alleine der Hinweis, dass es bereits zum Beispiel in der Römerzeit „Black British“-Personen in Großbritannien gegeben hat, erweitert das Blickfeld. Das Thema ist nicht neu.

Alle Seiten werden gehört
Typischerweise lässt Olusoga bei wichtigen Weichenstellungen der Geschichte alle Parteien zu Wort kommen. Das hilft den Lesern sehr dabei, eine eigene Haltung entwickeln zu können. Gut auch: Olusoga hält mit seiner eigenen Einschätzung nicht hinter dem Berg, ohne sie missionierend oder dogmatisch zu verfechten.

Keine Berührungsängste
Olusoga schildert auch Ereignisse, Meinungen, Denkmuster, die auch heute noch bestimmt für viele Briten unangenehm sind (wie sie das wahrscheinlich auch für viele Deutsche wären, wenn man sie mit ihrer ebenfalls wenig ruhmreichen Geschichte in Berührung bringt). Er tut dies betont sachlich, kenntnisreich, ausgewogen. Er sucht keine billigen Effekte.

Gute Mischung aus Überblick und Details
Für mich als Leser gelingt Olusoga eine gute Balance. Ich habe den Eindruck, gut informiert zu werden. Die Details überlasten nicht. Der gebotene Überblick hat die nötige Tiefe.

Neuland
Zwar gab es natürlich schon eine ganze Reihe wissenschaftlicher Abhandlungen zu Einzelthemen vor diesem Buch von Olusoga. So weit ich weiß, ist dieses Buch aber die erste substanzielle populärwissenschaftliche Gesamtdarstellung. Also ein bahnbrechender aktueller Klassiker.

Erhellend
Mir war nicht bewusst, wie systematisch die britische Geschichtsschreibung um das Verhältnis zu den Black British bereinigt wurde und wird. Dass die Plantagen im britischen Nordamerika und in der Karibik ihren wirtschaftlichen Erfolg der Sklavenarbeit verdankten, wurde in weiten Teilen z.B. der Literatur nicht angesprochen (siehe Jane Austens „Mansfield Park“!). Dass im ersten Weltkrieg viele Black British Soldaten mitkämpften, konnte man auf der Siegesparade nicht erkennen: Sie durften nicht mit dabei sein.

Die Resistenz der Vorurteile
Nicht zuletzt bringt Olusoga bedrückend viele Belege dafür, dass die Menschheit nicht recht lernt. Wenn es um den eigenen Vorteil geht oder einfach nur eng wird, kommt dem Menschen jede Minderheit immer gerade recht. Wenn diese Minderheit dann auch noch wegen ihrer Hautfarbe auffällig ist, hat sie erst recht Pech gehabt. Und Vorteile können gar nicht so dumm, so böswillig und so widerlegt sein, als dass sie nicht weiter Verwendung und Zustimmung finden.

Ein gutes Buch für Menschen, die mehr wissen wollen und Aufklärung schätzen.

Hut ab übrigens vor Großbritannien: Die BBC hat sogar eine Fernsehserie zu diesem Buch gedreht. Allerdings: Auf DVD gibt es sie leider nicht.

Colour Bar – A United Kingdom. Susan Williams

„Colour Bar“ von Susan William erzählt von einer großen Liebe, politischen Winkelzügen, Rassentrennung und der Entwicklung Afrikas. Wie der Umschlagtext verrät: „The true story of a love that shook an empire”.

Dieses Buch habe ich richtig gerne gelesen, weil es ganz gegensätzlichen Ansprüchen gerecht wird. Es ist unterhaltsam, in Teilen geradezu spannend und es zeichnet politisches Weltgeschehen mit all seinen widersprüchlichen Zielen im Detail nach. Thematischer Fokus ist die Kolonialgeschichte des südlichen Afrikas in der Zeit von den späten 1940er Jahren bis in die 60er Jahre. Im Auge des Sturm stehen das heutige Botswana und der Prinz einer der Bevölkerungsgruppen.

Die Liebesgeschichte

1947 verlieben sich in London der Erbe eines afrikanischen Reichs und eine Versicherungsangestellte in leitender Position ineinander. Ruth Williams und Seretse Khama heiraten gegen alle Widerstände. Die afrikanische Gruppe der Bangwato akzeptiert schließlich die Frau ihres designierten Königs. Aber Großbritannien sowie die Weißen in Südafrika, dem damaligen Süd-Rhodesien und dem damaligen Südwest-Afrika halten es für fatal, eine gemischte Ehe zu akzeptieren. Das Buch skizziert gut nachvollziehbar an seinen beiden Hauptfiguren die letztlich rassistische Grundhaltung in der westlichen Welt nach dem Ende des 2. Weltkriegs.

„He was the heir to an African Kingdom. She was a white English insurance clerk. When they met and fell in love, it would change the world. This is the inspiring true story of Seretse Khama and Ruth Williams, whose marriage send shockwaves through the establishment, defied an empire – and finally, triumphed over the prejudices of their age”, so der Klappentext.

Botswana

Sehr gut nachvollziehbar schildert „Colour Bar“, wie sich die Kolonial-Politik Großbritanniens stark an den Bedürfnissen Südafrikas orientierte. Auf Druck Südafrikas wurden politische Entscheidungen getroffen, die expliziten Zusagen gegenüber der schwarzen Bevölkerung in diesen Ländern entgegen liefen. Lügen, militärische Gewalt, Exil und Haftstrafen waren hierbei übliche Mittel. Im damaligen Bechuanaland-Protektorat verhinderten die Briten den rechtmäßigen und von der Bevölkerung gewünschten Thronnachfolger Seretse Khama. Wie er uns seine Frau nach England ins Exil gingen, er auf die Nachfolge verzichtete, um zurückkehren zu können, und schließlich erster Präsident des unabhängigen Botswana wurde, erzählt das Buch.

Apartheid versus Unabhängigkeit für afrikanische Länder

Der Autorin Susan Williams gelingt es weiterhin nachzuzeichnen, auf welche Weise sich Wertvorstellungen in der westlichen Welt langsam änderten und dazu führten, dass Südafrika mit seiner Apartheidspolitik zunehmend allein da stand, Kolonial-Mächte bereit waren, afrikanische Länder in die Unabhängigkeit zu entlassen und generell die Aufmerksamkeit geschärft wurde für Ungerechtigkeiten gegenüber einzelnen Bevölkerungsgruppen.

„Colour Bar“ sollte man gelesen haben. Für weitere Anregungen geht es hier zur Buchbesprechung des Guardian.

Re-creating Ourselves – African Women & Critical Transformations. Molara Ogundipe-Leslie

Dieses Buch beschreibt die Rolle afrikanischer Frauen in verschiedenen Kulturen und unterschiedlichen historischen Kontexten aus einer feministischen Perspektive.

Ich habe es in einem Buchladen für gebrauchte Bücher gekauft. Nach dem Kauf hatte ich gemischte Gefühle und Erwartungen.

Was ist gut an „Re-creating Ourselves“?

Viele Aspekte waren für mich ganz und gar neu. So zum Beispiel die Möglichkeit von Frauen in afrikanischen Kulturen, eigenständig unternehmerisch tätig zu sein, Ämter zu bekleiden, oder der Schutz, den traditionelle Gemeinschaften Frauen vor der Gewalt ihrer Ehemänner bieten konnten.

Faszinierend finde ich, dass Frauen in der Familie des Vaters oder Bruders männliche Rollen annehmen konnten: Sie konnten in einer Männerrolle „heiraten“ oder die Rolle eines Sohns einnehmen.

Die auch in den traditionellen Gesellschaften mit angelegten Tendenzen, Frauen gering zu schätzen, bekam eine äußere Verstärkung durch die Kolonialmächte: Diese besetzten alle irgendwie relevanten Machtpositionen von Schwarzen immer mit Männern. Hierdurch unterhöhlten oder zerstörten sie potenziell ausgleichende Strukturen, die auch Frauen eingebunden hatten.

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Mit Leidenschaft und Sachkenntnis geht Ogundipe-Leslie die Haltung an, sich zum Sprecher oder zur Sprecherin ungebildeter Frauen aus dem ländlichen Raum zu machen, egal wie gut die Absicht. Sie insistiert darauf, dass auch diese Frauen etwas zu sagen haben und dass man Wege finden muss, sie zu hören.

Ogundipe-Leslie wendet sich ebenfalls gegen eine – nach ihrer Analyse – übliche moderne Rollenzuschreibung für Frauen: Die afrikanische Frau sei dazu da, die Gegenwart mit der traditionellen Vergangenheit zu verbinden; die Männer hätten die Aufgabe, die Gegenwart auf die Zukunft auszurichten.

Was ist weniger gut?

Die für mich eher ungewohnte Schriftsprache von wissenschaftlichem afrikanischem Englisch war für mich nicht immer einfach zu lesen. Insgesamt war das Buch prima, aber mit 253 Seiten zu lang.

Inhalt: Kapitel-Auswahl

  • African Woman, Culture and Another Development
  • Studying Women Through Literature: Theses on Rural Women in Africa
  • The Proletarian Novel in Africa
  • The Representation of Women
  • The Bilingual to Quintulingual Poet in Africa
  • Sisters are not Brothers in Christ

Die Autorin von „Re-creating Ourselves“

Omolara oder Molara Ogundipe-Leslie wurde 1940 geboren. Sie ist eine nigerianische Dichterin, Kritikerin und Feministin. Sie gilt als wegweisende afrikanische Schriftstellerin zu den Themen Afrikanischer Feminismus, Literaturtheorie und Gender Studies, sie ist eine Gesellschaftskritikerin und anerkannte Authorität zu afrikanischen, schwarzen Frauen. Zu ihrer Bekanntheit haben die Bücher beigetragen „Not Spinning on the Axis of Maleness“ und die Anthologie „Sisterhood Is Global: The International Women’s Movement Anthology“.

„Born Abiodun Omolara Ogundipe in Lagos, to a family of educators and clergy, she graduated (BA English Honours) as the first Nigerian with a first-class degree from the University of London. She later earned a doctorate in Narratology (the theory of narrative) from Leiden University, one of the oldest universities in Europe. She has taught English Studies, Writing, Comparative Literature and Gender from the perspectives of cultural studies and development at universities in several continents. She rose to prominence early in her career in the midst of a male-dominated artistic field concerned about the problems afflicting African men and women.“ (Wikipedia)

Zum Buch

“Re-creating Ourselves” ist eine Art Bestandsaufnahmen in der Form von Aufsätzen. Ein wichtiger Aspekt ist hierbei, zu dokumentieren, zu welchem Anlass eine Rede gehalten oder ein Aufsatz erschienen war. Dies führt zu vielen inhaltlichen Wiederholungen. Das Buch ist 1994 erschienen. Die Autorin folgt einem marxistisch-feministischen politischen Ansatz.

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