Wer war Ingeborg Bachmann? Ina Hartwig

Diese Biografie zur berühmten Dichterin und Roman-Autorin ist eine in Bruchstücken. So auch der Untertitel.

Was leistet diese Biografie?

Ausgehend von einem ikonografischen Foto der Bachmann richtet Ina Hartwig ihre Aufmerksamkeit auf verschiedene Aspekte des Lebens von Ingeborg Bachmann explizit ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Konsistenz. Fotos aus unterschiedlichen Jahren bereichern und pointieren die gewählte biografische Form: da gibt es das Mädchen, die Diva, die Dame von Welt, die Scheue, die Selbstbewusste, die Kranke. Bachmann gehört nicht zu meinen erklärten Lieblingsautorinnen, dennoch habe ich diese Biografie außerordentlich genossen.

Biografische Phasen

Hartwig wählt zum Beispiel die Gerüchte um den Tod Bachmanns als historischen Anker, ebenso ihre Liebesgeschichte mit Paul Celan und ihr Leben als Stipendiatin im Berlin der 1960er Jahre:

  • Krieg am Sterbebett
  • Der Mann mit dem Mohn
  • Berlin, Germany

Themen

Politisches Engagement sowie eine Reise in den Orient und das Thema „Vater“ nutzt Hartwig für weitere Schlaglichter auf Ingeborg Bachmann in den Kapiteln

  • Körperwerk der Politik
  • Orgie und Heilung
  • Guter Vater, böser Vater

„Ingeborg Bachmann gilt als weltentrückte „Schmerzensfrau“ der deutschsprachigen Literatur. Auf solches Raunen verlässt sich Ina Hartwig nicht. In ihrer neuen Biografie über die Schriftstellerin wird sie erfrischend konkret – ihr Buch ist ein anekdotenreiches Zeitpanorama. „Wer war Ingeborg Bachmann?“ – mit diesem bodenständigen, äußerst unaufgeregten Titel gibt die Biografin Ina Hartwig die Richtung an: Fern von allem Pathos zeichnet die Publizistin und Kritikerin die Lebensstationen der österreichischen Dichterin nach. Und dieser Blick tut gut bei einer Autorin, bei der es die Mythenbildung leicht hatte: Bachmanns kometenhafter Aufstieg in den Fünfzigerjahren, ihre glamourösen Auftritte, ihre Beziehungen zu Paul Celan und Max Frisch und ihr rätselhafter Tod 1973 waren jahrzehntelang die Grundlage für immer neue Projektionen.“ (Quelle Deutschlandfunk Kultur)

Erinnerungen von Zeitzeugen

Hartwig leistet sich bruchstückhaftes Erzählen, sie nimmt sich selbst interpretatorisch zurück. Das gelingt und ist interessant, da sie Erinnerungen von Zeitzeugen verwendet, deren hohe Subjektivität sie bewusst einsetzt, um so das widerspruchsvolle Bild von „der Bachmann“ zu entwickeln:

  • Ein Kritiker
  • Gespräche mit Zeitzeugen

Methodisch ähnlich, jedoch als Biografie einer Gruppe junger Frauen geht Lyndall Gordon in „Shared Lives“ vor.

Nachtwachen von Bonaventura. August Klingemann

Die Nachtwachen sind 1804 anonym erschienen und haben zunächst niemanden so recht interessiert.

Das Interesse kam später…

Wer hat sie wohl geschrieben? Goethe vielleicht sogar? Oder Schelling, E.T.A. Hoffmann, Brentano oder F.G. Wetzel? So rätselte man dann.

Was passiert in den 16 Nachtwachen? Sie sind ein böser Eintopf aus Theater-Stück-Zitaten, Puppen- und Marionetten-Spiel-Sequenzen, Maskenspielen, Erzählungen aus dem Leben, überführt in neue Theaterstücke.

Da wird das Drama „Der Mensch“ aufgegeben, sein Autor erhängt sich nach längerer Ansprache an sein nie gehabtes Publikum: „Der Mensch taugt nichts, darum streiche ich ihn aus. Mein Mensch hat keinen Verleger gefunden weder als persona vera noch ficta, für die lezte (meine Tragödie) will kein Verleger die Druckkosten herschießen, und um die erste, (mich selbst) bekümmert sich gar der Teufel nicht, und sie lassen mich verhungern (…).“

Da fallen die Schauspieler für Ophelia und Hamlet aus ihren Theater-Rollen und verlieben sich im echten Leben. Woran sie den Verstand verlieren: So Ophelia an Hamlet, „Du stehst einmal als Stichwort in meiner Rolle, und ich kann dich nicht herausreißen, so wenig wie die Blätter aus dem Stücke, worauf meine Liebe zu dir geschrieben ist. So wil ich denn, da ich mich aus der Rolle nicht zurücklesen kann, in ihr fortlesen bis zum Ende (…). Dann sage ich dir, ob außer der Rolle noch etwas existiert und das Ich lebt und dich liebt.“

Da sitzt im Irrenhaus ein Mann, der sich einbildet, der Weltenschöpfer zu sein. Enttäuscht von seiner Schöpfung führt er Selbstgespräche: „Aber dies winzige Stäubchen, dem ich einen lebendigen Athem einbließ und es Mensch nannte, ärgert mich wohl hin und wieder mit seinem Fünkchen Gottheit, das ich ihm in der Übereilung anerschuf, und worauf es verrückt wurde. (…) Beim Teufel! Ich hätte die Puppe ungeschnitzt lassen sollen! – Was soll ich nur mit ihr anfangen? – Hier oben sie in der Ewigkeit mit ihren Possen herumhüpfen lassen?“

… und noch viel mehr dergleichen. Alles zusammengehalten durch einen menschenfeindlichen Nachwächter als Erzähler.

Und all das gemacht – wie man heute weiß – vom besten Theater-Macher seiner Zeit: August Klingemann. Dessen Faust-Drama vor Goethes gespielt wurde, der Goethes Faust uraufführte und mit zahlreichen Aufführungen beider Varianten des Stoffs Theater-Geschichte schrieb.

Und was sagen uns die Nachtwachen?

„Die Frage scheint auf eine merkwürdige und verwirrende Weise, die indessen gerade zum Reiz des Buches beitragen mag, ins Leere zu führen, in eine Leere ähnlich der, von der im Buch selbst (…) die Rede ist. Man hat das Gefühl, eine Maske nach der anderen, Zwiebelschale auf Zwiebelschale gleichsam abzuziehen (…). Larve, Rolle und Schauspiel werden zu Metaphern für ein krisenhaftes Verhältnis des Ichs zur Wirklichkeit und zu sich selbst, indem es, auf sich reflektrierend, in der eignen Tiefe bald alles, bald nichts findet“, so Jost Schillemeit. Mehr zu den „Nachtwachen von Bonaventura“ hier…
Gelesen habe ich die Ausgabe des Inselverlags mit einem guten Nachwort von Jost Schillemeit und Illustrationen von Lovis Corinth, auf die sich gut verzichten läßt.

Die Manns: Geschichte einer Familie. Tilmann Lahme

image

Gewaltig ist der Berg aller bisherigen Veröffentlichungen über Thomas Mann selbst und auch über sein Umfeld. Das Buch „Die Manns: Geschichte einer Familie“ ergänzt ein wichtiges Schäufelchen Erde im oberen Bereich.

Etwas skeptisch bin ich an „Die Manns“ herangegangen mit der Befürchtung, eventuell eine Hagiographie in die Finger zu bekommen oder ein etwas oberflächliches Werk, das die Popularität des Themas nutzend (man denke an die noch gar nicht so alte Fernsehserie von Breloer über die Familie Mann!) versucht, Bestseller-Zahlen zu erwirtschaften, oder gar ein Buch, das umständlich die literarischen Erzeugnisse der Familie auf- und nacherzählt.

Gelesen habe ich das Buch beeindruckt und mit viel Vergnügen. Sehr gefallen hat mir, dass Lahme keinen der Protagonisten – Thomas Mann, seine Ehefrau Katia Mann sowie die sechs Kinder Elisabeth, Erika, Golo, Klaus, Michael und Monika Mann – wichtiger macht als die anderen oder sie aus einer einzelnen Perspektive wie z.B. ihr Verhältnis zu Thomas Mann betrachtet.

Ebenfalls angetan bin ich davon, dass Lahme nicht polemisiert im Sinne einer Anti-Hagiographie und die Schattenseiten der Familie besonders hervorhebt: Die Familie und ihre Mitglieder werden in all ihrem Handeln und all ihren Haltungen und Meinungen beschrieben; Lahme wertet nicht, er stellt dar und überlässt Urteile den Lesern, so sie denn urteilen wollen.

Beachtlich das Geschick, mit dem Lahme die Fülle des Stoffs – 80 Jahre Familien- und internationale Geschichte, 8 Manns mit ihren Ehepartnern, Lebenspartnern, Kindern, Freunden…. – auf gut 400 Seiten so aufbereitet, dass man nie in Details erstickt, sondern durch Kombination aus prägnant zusammenfassender Beschreibung einerseits und andererseits Zitat wie Anekdote den Eindruck bekommt, einen guten Überblick mit vertiefenden Einblicken zu erhalten.

Gefreut hat mich, dass der S. Fischer-Verlag, in dem das Buch erschienen ist, anscheinend auch wenig oder gar nicht versucht hat, auf die Beschreibung der Rolle von Verlag und Verleger zum Beispiel während des Nationalsozialismus Einfluss zu nehmen. Das Buch wirkt generell angenehm frei von Zensur in jeder Hinsicht – wahrscheinlich begünstigt dadurch, dass die 8 Manns zwischenzeitlich alle nicht mehr am Leben sind; und hat damit auch der genannten Breloer-Serie einiges voraus.

Als Leseprobe vielleicht der letzte Absatz des Buches:
„Auf dem Kilchberger Friedhof, hoch oben im Ort, mit weitem Blick über den Zürichsee und die Berge, liegt das Grab der Manns. (…) Ein dezenter Grabstein für Vater und Mutter, die Namen, die Lebensdaten lateinisch. Die Grabplatten für die Mann-Kinder liegen vor dem Stein der Eltern: Erika, Michael, Monika und Elisabeth. Es fehlen zwei. Der als Erster starb, Klaus Mann, liegt in Cannes. Auch Golo Mann hat, seinem ausdrücklichen Wunsch folgend, seinen Platz anderswo gefunden: auf demselben Friedhof wie die Familie, in derselben Erde, aber so weit entfernt wie möglich  auf der kleinen Anlage, in einem Einzelgrab nahe der Friedhofsmauer. Was bleibt, sind Bücher und Geschichten. Eine davon ist die von der erstaunlichen Familie, der ‚amazing family‘.“

Gelesen und genossen habe ich die 2. Auflage von Oktober 2015.