Die irische Aeneis. Übersetzt von George Calder

Wieder ein Beitrag aus der Serie obskurer Werke aus Irland. Irgendwann vor 1400 entstand in Irland eine der frühesten Adaptionen der Aeneis von Vergil in eine einheimische Sprache überhaupt. „Übersetzung“ wäre falsch, denn die Aeneis, auf Irisch „Imtheachta Aeniasa“ oder die „Fahrten des Aeneas“, wurde tatsächlich ver-irisch-t.

Aufgeschrieben ist dieses Werk im sogenannten Book of Ballymote, in dem sich auch andere klassische Werke in irischer Verkleidung wiederfinden, unter anderem eine äußerst faszinierende, ebenfalls sehr irische Version der Odyssee.

Es gibt eine ganze Reihe von Aspekten, die dieses Werk sehr interessant machen. Da ist zunächst wie erwähnt der sehr frühe Zeitpunkt der Adaption irgendwann im 14. Jahrhundert. Obwohl Dichtung in Irland weit verbreitet und gut etabliert war, wählte der Verfasser keine irischen Hexameter, sondern eine Prosaübertragung, eventuell um einen historisch-faktischen Charakter der Aeneis zu betonen.

Vor allem aber sticht die „Irisierung“ hervor.

Ein Keltologe, Edgar Slotkin, hat die Verfahrensweise des Verfassers so beschrieben: „His concern was not so much a translation from one language to another but from one culture to another (…) The Irish Aeneid is periphrastic. Words are not fixed, but nothing essential is omitted. (…) The substantial additions the translator made to the original are (…) not new themes or content, but native elaborations on content which he encountered there.“ Ein anderer Keltologe, Erich Poppe, beschreibt die irische Aeneis „as the product of the fusion of a developed vernacular stylistic and narrative tradition with a learned and historiographical interest in events of classical antiquity. (…) Imtheachta Aeniasa can tell its modern readers much about the mentality and interests of its medieval Irish audience, precisely because it departs characteristically from its source.“

Sprachlich macht sich die Irisierung dadurch bemerkbar, dass der Verfasser in bestem irischen Sagenstil schreibt: Die Vergil’schen Epitheta und Vergleiche verschwinden. Statt dessen finden sich viele Alliterationen und Aneinanderreihungen von wohlklingenden Synonymen. Auch gibt es die für irische Sagen typischen, etwas barock und floral anmutenden Beschreibungen von handelnden Personen.

Hierfür lohnt es sich, einige Beispiele zu geben.
Für die Beschreibung eines aussichtslosen Plans:
„is lam a nead nathrach, is lua fri broth & lem chind fri hall“,
auf Englisch: „it is a hand in a nest of serpents, it is a kick against goads and a dash of a head upon a rock“

Für  Alliterationen bei der Beschreibung von Personen:
„Ba suairc sochraidh sognimach saerchlanda socheniuil in ingen sain“,
auf Englisch: „That daughter was gentle, of beautiful form and good actions, free-born and noble.“

Und für eine längere Passage eine Beschreibung von Aeneas bei seiner ersten Begegnung mit Dido, nur in Englisch, wobei manche englische Worte etwas unpassend wirken – hierfür kann aber das irische Original nichts:
„Pleasant, comely, lovely, and well-born was the hero that came there – fair, yellow, golden hair upon him; a beautiful ruddy face he had; eyes deep-set, lustrous in his head like an image of a god, the expression which Venus, his mother, with love’s splendour, threw into his face, so that whoever looked upon him should love him.“

Gelesen habe ich die 1907 erstmals erschienene irisch-englische Ausgabe von George Calder, die recht gut als Nachdruck zu bekommen ist. Interessant ist der Text allemal. Sonst hätte ein anderer irischer Dichter, Seamus Heaney, nicht auch eine Übersetzung der Aeneis versucht.

The Colloquy with the Ancients. Übersetzt von Standish Hayes O’Grady

Das Hauptwerk des irischen Finn-Zyklus – ein weiterer Beitrag zu einem obskuren, aber dadurch nicht weniger interessanten Werk der irischen Literatur.

Der Finn-Zyklus ist neben dem Ulster-Zyklus – zu dem die schon besprochene Táin Bó Cúailnge gehört – der zweite Hauptkreis von frühen, im Kern vorchristlichen Sagen Irlands. Im Mittelpunkt steht Finn mac Cumail,  der eine Truppe von mehr oder weniger gesetzlosen Jäger-Kriegern, die Fianna (daher auch der Name einer politischen Partei Irlands, der Fianna Fáil) anführt, eine Art Robin Hood also. Finn hat – wie sich das für eine mythische Person gehört – übermenschliche Kräfte. So verfügt er auch über einen Zahn der Weisheit: Wenn man seinen Daumen daranhält, erschließt sich einem die Wirklichkeit. Um welchen Zahn im Gebiss es sich dabei handelt, ist allerdings – zum Leidwesen aller dontologisch Interessierten – leider nicht überliefert.

Zwei der Hauptbegleiter von Finn sind Oisín und Caílte mac Rónáin. Der erstgenannte mag den einen oder anderen Leser – und zwar völlig zurecht! – an Ossian erinnern, den Helden der Sagen des Nachdichters Macpherson.

So viel zum Drumherum.

Acallam na senórach, „Das Gespräch der alten Männer“, ist erstmalig in Handschriften von um 1200 überliefert. Keine der Handschriften – auch nicht die jüngeren aus dem 13. bis 16. Jahrhundert – macht recht glücklich, da der Text jeweils arg mitgenommen ist. Da muss man sich das Werk im guten Zustand halt vorstellen.

Oisín und Caílte mac Rónáin, die alten Männer des Titels, sind mittlerweile steinalt. Alle anderen Mitglieder der Fianna sind längst verstorben. Dafür ist das Christentum in Gestalt des heiligen Patrick eingetroffen. Womit wir die drei Hauptteilnehmer des titelgebenden Gesprächs beieinander haben.

Interessant ist der Text wegen seiner Struktur aus Rahmenhandlung – das Gespräch zwischen den drei Männern – und eingebetteten Geschichten aus der Blütezeit der Fianna. Interessant auch wegen dieser Geschichten selbst, die zum großen Teil sonst nirgends überliefert sind und auch wieder spätere Werke der irischen Literatur beeinflusst haben (zum Beispiel hat Flann O’Brien für seinen Roman „In Schwimmen-zwei-Vögel“ einen Ortsnamen verwendet, der hier zuerst erwähnt wird – dieses Buch wiederum hat James Joyce beeindruckt).
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Vor allem fasziniert aber, wie in diesem Werk eine vorchristliche, also zutiefst heidnische Vergangenheit in das Christentum eingemeindet wird:

„There they were until the morrow’s morning came, when Patrick robed himself and emerged upon the green; together with his three score priests, three score psalmodists, and holy bishops three score as well, that with him disseminated faith and piety throughout Ireland. Patrick’s two guardian angels came to him now: Aibellan and Solusbrethach, of whom he enquired whether in God’s sight it were convenient for him to be listening to stories of the Fianna.“

Und so wird auch das Aufschreiben unzivilisierten Sagen zur guten christlichen Pflicht gemacht:

„‚Success and benediction!‘ said Patrick: ‚a good story it is that thou hast told us there; and where is Brogan the scribe?‘ Brogan answered: ‚here, holy Cleric.‘ ‚Be that tale written by thee‘; and Brogan performed it on the spot.“
So ähnlich wird jede Geschichte beendet, die von Caílte oder Oisín erzählt wird.

Bemerkenswert ist, wie weit entfernt die Gedankenwelt von unserer heutigen ist. Dies wird besonders frappierend, wenn es um Verwandtschaftsbeziehungen und Ortsnamen geht. Bezeichnungen von Orten waren den Kelten grundsätzlich sehr wichtig:

„Then Patrick set out, and the way that he took was into Feeguile; into Drumcree, which at this time is called ‚Kildare‘; across the sruithlinn in Durrow, and over the Barrow; over tOchar Leighe, i.e. ‘the stone causeway of Cuarneit’s daughter Liagh,’ where Liagh perished; into ‘the old Plain of Dian mac Dilenn’s daughter Roichet, now called ‘Moyrua of Rechet;’ into (….)” und so weiter über viele Zeilen.

Die Übersetzung von Standish Hayes O’Grady (1832-1915) stammt zwar aus dem Jahr 1892, ist aber ein echter Klassiker und vermittelt ein gutes Sprachgefühl des irischen Originals.

Táin Bó Cúailnge from the Book of Leinster. Herausgegeben von Cecile O’Rahilly

Frühe irische Literatur ist wahrscheinlich auf der Popularitätsliste in Deutschland auf keinem Spitzenplatz zu finden. Das macht sie aber nicht unbedeutend, geht sie doch auf sehr alte mündliche Überlieferungen zurück und ist die erste europäische Literatur in Landessprache seit dem römischen Reich.
In dieser frühen irischen Literatur wiederum steht „Táin Bó Cúalnge“, auf deutsch „Der Rinderraub von Cooley“, ganz weit vorn.

Worum geht’s?
Der Klappentext fasst den Inhalt recht gut zusammen: „The Táin Bó Cuailnge, centre-piece of the eighth-century Ulster cycle of heroic tales, is Ireland’s greatest epic. It tells the story of a great cattle-raid, the invasion of Ulster by the armies of Medb and Ailill, queen and king of Connacht, and their allies, seeking to carry off the great Brown Bull of Cuailnge. The hero of the tale is Cuchulainn, the Hound of Ulster, who resists the invaders single-handed while Ulster’s warriors lie sick.“

Und warum ist das interessant?
Weil eine Welt dargestellt wird, die gut zu der in den homerischen Epen passt oder zu der in einigen heutigen nordafrikanischen Ländern, in denen der Besitz von Rindern, Rinderdiebstähle, Ehre und Krieg eine zentrale Rolle spielen. Rinder standen an der Spitze der Eigentumspyramide, vor Schweinen, Pferden, Schafen, Schmuck und Kleidung, zuletzt Gebrauchsgüter wie Geschirr. Weil viele Elemente dargestellt werden, die sehr gut das Bild ergänzen, das römische Schriftsteller um Christi Geburt von den Kelten gezeichnet haben. Weil die Sage einer offensichtlich  nicht christlichen Gesellschaft von irischen Mönchen rezipiert, verändert und aufgeschrieben wird. Wahrscheinlich auch, weil der Text zumindest in einer Rezension, der des  Buchs von Leinster – literarisch echte Qualitäten hat.

Wie muss man sich das vorstellen? Schon recht wild und sehr fremd und sehr gewaltsam, aber auch poetisch.  Hier ein Beispiel:
Is and sin cétríastarda im Choin Culaind co nderna úathbásach n-ilrechtach n-ingantach n-anachnid de. Crithnaigset a chairíni imbi immar chrand re sruth nó immar bocsimind ri sruth cach ball & cach n-alt & cach n-inn & cach n-áge de ó mulluch co talmain. Ro lá sáebchless díbirge dia churp i mmedón a chracaind. Táncatar a thraigthe & a luirgne & a glúne co mbátar dá éis. Táncatar a sala & a orccni & a escata co mbátar riam remi. Táncatar tullféthi a orcan co mbátar for tul a lurggan comba méitithir muldorn míled cech meccon dermár díbide. Srengtha tollféithe a mullaig co mbátar for cóich a muneóil combá métithir cend meic mís cach mulchnoc dímór dírím dírecra dímesraigthe díbide.“
Schon sehr anders als andere europäische Sprachen…. Auf Englisch:
„Then his first distortion came upon Cú Chulainn so that he became horrible, many-shaped, strange and unrecognisable. His haunches shook about him like a tree in a current or a bulrush against a stream, every limb and every joint, every end and every member of him from head to foot. He performed a wild feat of contortion with his body inside his skin. His feet and his shins and his knees came to the back; his heels and his calves and his hams came to the front. The sinews of his calves came on the front of his shins and each huge, round knot of them was as big as a warrior’s fist. The sinews of his head were stretched to the nape of the his neck and every huge, immeasurable, vast, incalculable round ball of them was as big as the head of a month-old child.“

Dem irischen Mönch, der die Sage aufgeschrieben hat, war die Sache nicht ganz geheuer. Zwar lautet der vorletzte Absatz auf Irisch: „A blessing on every one who shall faithfully memorise the Táin as it is written here and shall not add any other form to it.“ Aber dann weiter auf Latein: „But I who have written this story, or rather this fable, give no credence to the various incidents related in it. For some things in it are the deceptions of demons, others poetic figments; some are probable, others improbable; while still others are intended for the delectation of foolish men.“

Die in jeder Weise ausgezeichnete Ausgabe mit Originaltext und Übersetzung von Cecile O’Rahilly ist problemlos antiquarisch zu bekommen. Noch einfacher zu erhalten sind die Übersetzung einer anderen, früheren Fassung der Táin von Thomas Kinsella und eine Art originalnahe Nacherzählung von Ciaran Carson. In Deutsch findet sich leider nur eine Übersetzung von Ernst Windisch von 1905, und nach der muss man eine ganze Weile suchen.

 


 

Elizabeth Bowen – Portrait of a Writer, Victoria Glendinning

Elizabeth Bowen, eine der bekanntesten anglo-irischen Schriftstellerinnen, ist heute außerhalb Großbritanniens kaum bekannt. Auch heute noch interessant ist ihr familiärer Hintergrund: geboren 1899 in eine Familie des irischen Landadels, die ihre Wurzeln in England hatte und von dort unter Cromwell ausgewandert war.

Bowen selbst sagte über sich selbst, sie sei die letzte Vertreterin der Anglo-Iren, die noch authentisch vom Leben zwischen den beiden Kulturen berichten können.

Als Schriftstellerin war Bowen sehr erfolgreich. Ihre Romane und Erzählungen werden mit der Literatur Virginia Woolfs und Jane Austens verglichen.

Wie gestaltet Victoria Glendinning die Biografie? Sie erzählt linear, das Innenleben Bowens kommt kaum vor, ihre Bedeutung als Schriftstellerin – trotz des Untertitels – ebenfalls eher am Rande. Dennoch wird die ungewöhnliche Persönlichkeit Bowens deutlich. Dies gelingt Glendinning durch Anekdoten aus dem Alltag der Schriftstellerin. Glendinning veröffentlichte außerdem Biographien über  Edith Sitwell, Vita Sackville-West, Rebecca West, Leonard Woolf, Anthony Trollope, Stamford Raffles und Jonathan Swift. Die vorliegende ist bestimmt nicht ihre beste.

Leser und Leserinnen, die sich für irische Geschichte interessieren, wird der Roman Bowens „The Last September“ gefallen. Hier beschreibt Bowen das Leben der anglo-irischen Oberschicht in Irland, ihre Feste zusammen mit den Offizieren der englischen Truppen, ihr Zusammenleben mit irischen Nachbarn und Bediensteten. Erzählte Zeit ist der Sommer von 1920, in dem der irische Unabhängigkeitskrieg  eskalierte. An seinem Ende waren viele der repräsentativen Herrenhäuser von protestantischen anglo-irischen Familien ausgebrannte Ruinen.

Mein persönliches Lieblingsbuch von Bowen ist „The Little Girls“, eines des letzten Bücher Bowens. Hierin versuchen drei Frauen, alle haben die 50 überschritten, an ihre Kindheit anzuknüpfen. Ein Buch, das „Identität“ und „Erinnerung“ auf ihre Bedeutung abklopft. Als Mädchen haben die drei Hauptfiguren jede einen Gegenstand in eine Kiste gelegt. Nur das Mädchen selbst wußte, was für ein gegenstand dies war. gemeinsam haben sie dann die Kiste vergraben. Was ist mit ihr passiert? Die Klärung dieser Frage treibt die Handlung voran.