A book forged in hell: Spinoza’s scandalous treatise and the birth of the secular age. Steven Nadler

Schlimmer verflucht als ihn hatte man noch keinen in der Amsterdamer Gemeinde, weder früher noch später. Baruch Spinoza, 23 Jahre alt, Jude von Geburt und Philosoph aus Neigung im 17. Jahrhundert, muss fliehen:

„Mit dem Urteil der Engel, mit dem Ausspruch der Heiligen, mit der Zustimmung des Gebenedeiten Gottes und dieser ganzen heiligen Gemeinde und dieser heiligen Bücher, mit den Sechshundertdreizehn Geboten, die in ihnen geschrieben sind, mit dem Fluch, mit dem Joshua Jericho verflucht hat, und mit dem Fluch, mit dem Elisha die Burschen verflucht hat, und mit allen Flüchen, die im Gesetz geschrieben sind, verbannen, verstoßen, verwünschen und verfluchen wir Baruch de Espinosa. Verflucht sei er bei Tag und verflucht sei er bei Nacht, verflucht sei er, wenn er sich hinlegt, verflucht sei er, wenn er aufsteht, verflucht sei er, wenn er hinein geht und verflucht sei er, wenn er hinaus geht. Möge ihm der Herr, der dann in diesem Mann, in dem alle Flüche, die im Buch dieses Gesetzes geschrieben sind, liegen werden, seinen Zorn und Missgunst zum Brennen und, mit allen Flüchen des Himmels, welche im Buch des Gesetzes geschrieben sind, seinen Namen unter dem Himmel auslöschen und, zu seinem Übel, aus allen Stämmen Israels entfernen wird, nicht verzeihen. Und ihr, die dem Herrn, eurem Gott, ergeben seid, seid alle heute am Leben. Wir warnen, dass niemand mit ihm weder mündlich noch schriftlich kommunizieren noch ihm irgendeinen Gefallen tun noch mit ihm unter einem Dach noch ihm näher als vier Ellen sein noch irgendein von ihm geschriebenes Blatt lesen darf.“
Hier das Original in Portugiesisch (die Amsterdamer Juden waren Sepharden mit Portugiesisch bzw. Spanisch als offizieller Sprache):

Die Christen waren da gerne mit dabei, sogar Leibniz regte sich auf. Der katholische Index verbotener Bücher war um einen Titel reicher. Man war sich einig: Ein schlimmer, gottloser, umstürzlerischer Mensch. Er muss weg. Und vor allem auch seine Bücher!

Neugierig auf Spinoza wurde ich durch die Philosophiegeschichte von Anthony Gottlieb.
An den Originaltext seines „Tractatus theologico-politicus continens dissertationes aliquot, quibus ostenditur Libertatem  Philosophandi non tantum salva Pietate, & Reipublicae Pace posse concedi: sed eandem nisi cum Pace Reipublicae, ipsaque Pietate tolli non posse“ habe ich mich noch nicht gewagt. Allerdings ist die Neugier nach dem Lesen des Buchs von Nadler noch größer geworden.

Der Grund der Aufregung?
Logisch sauber argumentiert und auch für Nicht-Philosophen sehr gut zu verstehen, zerlegt Spinoza so ziemlich alles, was den Mächtigen in Politik und Religionen für ihren Machterhalt (und vielleicht auch für ihren Glauben) wichtig war. In der Zusammenfassung der wichtigsten Punkte von Nadler:
„Spinoza was the first to argue that the Bible is not literally the word of God but rather a work of human literature; that ‚true religion‘ has nothing to do with theology, liturgical ceremonies, or sectarian dogma but consists only in a simple moral rule: love your neighbor; and that ecclesiastic authorities should have no role whatsoever in the governance of a modern state. He also insisted that ‚divine providence‘ is nothing but the laws of nature, that miracles (…) are impossible and belief in them is only an expression of our ignorance of the true causes of phenomena, and that the prophets of the Old Testament were simply ordinary individuals who (…) happened (…) to have particularly vivid imaginations. The book’s political chapters present as eloquent a plea for toleration (…) and democracy as has ever been penned.“

Seine Vorgänger wie Maimonides, Hobbes und seine Nachfolger wie Locke haben zwar vielleicht ähnlich radikal gedacht und argumentiert wie er, aber sie haben sich oft vorsichtiger ausgedrückt. Spinoza folgt allein der Logik seiner Argumentation, denkt und schreibt frei und unabhängig.

Logisches, unabhängiges, freies Denken und Schreiben ist ihm auch ein besonderes Anliegen, wie schon der lateinische Untertitel seines Tractatus theologico-politicus sagt: Nicht nur kann Freiheit des Denkens („libertas philosophandi„) gewährt werden, ohne dass es Religiosität und Frieden schadet, sondern im Gegenteil man zerstört diese, wenn man die Freiheit des Denkens beseitigt.
Meinungs- und Redefreiheit sind Grundvoraussetzung für ein dauerhaft funktionierendes, sich gut entwickelndes Gemeinwesen.

Und das Buch von Nadler?

Sehr gut lesbar. Durchaus auch spannend und unterhaltsam. Macht die Argumentation von Spinoza in ihren wesentlichen Aspekten sehr transparent und nachvollziehbar. Vielleicht gelegentlich etwas redundant geschrieben. Mit ausreichend Einbettung in die Biographie von Spinoza. Gut ausgewählte Anekdoten. Bietet zusätzlich eine sehr hilfreiche Einordnung in den politisch-religiös-kulturellen Hintergrund Hollands und Amsterdams im 17. Jahrhundert. Macht deutlich, warum sich Amsterdam für mehrere Jahrzehnte den alternativen Namen „Eleutheropolis“ verdient hat.

Und der Fluch?
Hat nicht gewirkt. Vielleicht hat also Spinoza Recht mit seinen Argumentationen?

The dream of enlightenment: The rise of modern philosophy. Anthony Gottlieb

„Men must think for themselves.“ Dieser möglichen Quintessenz der Werke von Locke, einem der Protagonisten der Philosophie der Aufklärung, folgt Anthony Gottlieb im zweiten Band seiner Philosophiegeschichte aufs Beste.

Gottlieb ist ein erstaunlicher Autor. Er vermittelt sehr überzeugend den Eindruck, dass er all die Philosophen und ihre Werke, über die er schreibt, tatsächlich selbst gelesen hat. Dass er sich eigenständig Gedanken gemacht hat über das Gelesene und nicht nur bei anderen abschreibt. Dass er es verglichen hat mit dem, was andere über diese Philosophen gesagt oder oft: behauptet haben. Dass er die Ergebnisse auf eine pointierte, amüsante und interessante, leichtfüssig-tiefschürfende Art und Weise literarisch-sorgfältig zu Papier gebracht hat. Dass er dafür sogar noch einen Verlag gefunden hat. Und – vielleicht das Erstaunlichste überhaupt – dass er zahlreiche Leser findet. Vielleicht eine der besten Nachrichten bisher im Jahr 2017.

Auf den meisten englischen Büchern finden sich Zitate aus Rezensionen. Immer sind diese positiv. Deutlich seltener kann man sich selbst diesen Zitaten am Ende vorbehaltlos anschließen. Bei diesem Buch gelingt das: „delightfully written und wonderfully instructive“, „as enjoyable as he is intellectually stimulating“, „written with both wit and scholarship“, „never seen a discussion of philosophy as fun to read“. Besonders gelungen ist wieder einmal eine Rezension im Guardian, die auch eine gute inhaltliche Zusammenfassung des Buchs bietet (auf die Leser dieses Blogs sonst – wie so oft – verzichten müssen, da wir ja zum Selberlesen anregen wollen).

Ach, und mutig ist Gottlieb auch, indem er sich konzentriert. Er beginnt mit der Beobachtung: „Western philosophy is now two and a half millenia old, but a great deal of it came in just two staccato bursts lasting some 150 years each. The first was in the Athens of Socrates, Plato and Aristotle (…). The second was in northern Europe, in the wake of Europe’s wars of religion and the rise of the Galilean science. It stretches from the 1630s to the eve of the French Revolution in the late eighteenth century.“ Alles, was nicht wesentlich ist, lässt Gottlieb weg, und beginnt seine Geschichte der Philosophie der Aufklärung mit Descartes. Mit Hume ist dann Schluss. Pech für Francis Bacon (der aber dann doch in Zitaten zu seinem Recht kommt), Pech auch für Rousseau und Voltaire (die aber im Schlusskapitel nebeneinander, wie im Pantheon, mit ihren Unterschieden, wie in ihrem Leben, gewürdigt werden).

Ohne auch nur im Ansatz schematisch zu wirken, sondern mit (fast) soviel Variationsreichtum wie Bach in seinen Goldberg-Variationen, stellt Gottlieb immer die Biographie, die Hauptwerke, die philosophischen Hauptgedanken und auch die Nachwirkung der verschiedenen Philosophen dar. Praktisch immer ist er frei von Ehrfurchtsgeraune. Nie versteckt er eigene gedankliche Leere hinter obskurantistischen Formulierungen, wie sie manche Philosophen und viele deutsche Wissenschaftler pflegen. Wenn Gottlieb selbst etwas nicht überzeugt oder einleuchtet, dann schreibt er das auch und reduziert so die Hürde auch für philosophisch weniger hartgesottene Leser. Wenn Leibniz etwas nicht besonders gut mit einem Beispiel erklärt, schreibt Gottlieb: „This little thought-experiment does not settle anything, but it neatly expresses a common intuition.“ Woraus auch zu erkennen ist, dass Gottlieb uneitel und nicht besserwisserisch schreibt, frei von herablassender Häme, die journalistisch geprägten Autoren sonst gelegentlich mit in die Feder fließt. Es scheint ihm viel Vergnügen zu bereiten, anderen Philosophen hinterherzudenken.

Vor diesem Buch hätte ich nicht gedacht, dass ich Neugier und Lust entwickeln könnte, den Tractatus theologico-politicus von Spinoza oder gar das historisch-kritische Wörterbuch von Pierre Bayle zu lesen. Da habe ich mich sehr getäuscht.

Übrigens: Vom ersten Band war ich ebenfalls schon letztes Jahr sehr angetan wie in einem anderen Blogbeitrag vermerkt.

Und außerdem: Im spanisch- oder holländisch-sprachigen Ausland gibt es Gottlieb schon in Übersetzung. Im Land der Dichter und Denker offenbar nicht.