Der Hals der Giraffe: Bildungsroman. Judith Schalansky

Da mir das neueste Buch von Judith Schalansky sehr gut gefallen hatte – gerade in diesem Blog besprochen! -, habe ich gleich noch ein zweites gelesen. „Der Hals der Giraffe: Bildungsroman“.
Der Hals der Giraffe by Judith Schalansky

Hals der Giraffe?
Stimmt, kommt an einer Stelle im Buch vor, Haken dran.

Bildung?
Ja, immerhin spielt das Buch im Wesentlichen in einer Schule, also einer Bildunganstalt, auch Haken dran.

Roman?
Hier komme ich ins Grübeln, also erst einmal kein Haken.
Der Hals der Giraffe" von Judith Schalansky - Bakterie müsste man ...

Warum ich grübele, verrate ich gleich. Worum es in dem Buch geht, verrät der Klappentext: „Anpassung im Leben ist alles, weiß Inge Lohmark. Schließlich unterrichtet sie seit mehr als dreißig Jahren Biologie. In einer Stadt im hinteren Vorpommern. Dass ihre Schule in vier Jahren geschlossen werden soll, ist nicht zu ändern – die Stadt schrumpft, es fehlt an Kindern. Aber noch vertreibt Inge Lohmark, Lehrerin vom alten Schlag, mit ihrem Starrsinn alles Störende. Als sie schließlich Gefühle für eine Schülerin entwickelt und ihr Weltbild ins Wanken gerät, versucht sie in immer absonderlicheren Einfällen zu retten, was nicht mehr zu retten ist.“

Also meine Grübelei. Selber hätte ich die Bezeichnung Roman nicht gewählt. Eher handelt es sich um eine etwas lang gewordene Erzählung oder Kurzgeschichte (über 200 Seiten). Oder um eine Novelle, immerhin gibt es ein oder zwei Kandidaten für die wundersame Begebenheit. Aber für einen Roman ist das Buch etwas wenig-dimensional, etwas zu geradlinig, etwas unkomplex. Dasselbe gilt übrigens für die Charaktere, inklusive der Person, aus deren Perspektive und mit deren Gedanken alles erzählt wird, Inge Lohmark, die Lehrerin.

Gut ist das Buch schon, egal ob Roman oder nicht. Das Urteil „bester Roman des Jahres“ allerdings, das 2011 im Deutschlandfunk verkündet wurde, vermag ich nicht zu teilen. Im Unterschied zum „Verzeichnis einiger Verluste“ ist es vielleicht noch früh-hellenistisch. Schalansky zeigt, was sie als Schriftstellerin technisch kann und was sie als Mensch alles weiß. Aber das alles wirkt noch etwas unausbildet und ungelenk, noch nicht recht fertig und abgerundet, wie gewollt, aber noch nicht ganz gekonnt, kurz: noch staksig wie eine Giraffe. Auch die eingestreuten Illustrationen haben noch keine Bedeutung, außer einfach Illustration zu sein. Man kann das Buch nicht nach dem Verlustverzeichnis lesen, ohne zu denken: Ah, darauf hat sich die Autorin vorbereitet, so sollte das werden. Und ist ein wenig enttäuscht von der Giraffe.

Also: Erst die Giraffe lesen, dann die Verluste hinnehmen!

Verzeichnis einiger Verluste. Judith Schalansky

Aufmerksam machte mich eine Besprechung in der „Zeit„. Angesprochen hat mich dabei das positive Fazit der Rezensentin, Juliane Liebert, und der Titel des Buches: „Verzeichnis einiger Verluste“. Also habe ich mein erstes Buch von Judith Schalansky bestellt und zwischenzeitlich auch gelesen.

Wilhelm-Raabe-Literaturpreis für Judith Schalansky - "Sie erfindet ...

Die Buchgestaltung

Das Buch ist von der Autorin selbst gestaltet. Einladend ist der Einband eher nicht. Schwarz mit vielen Farbverlusten, so als habe man die Druckerschwärze nicht ordentlich aufgetragen oder als sei das Buch nicht mehr ganz neu. Wenn man von der Seite schaut, wird es interessanter: Das normale Weiß der Buchseiten löst in regelmäßigen Abständen eine schwarzen Linie ab, was für Liebhaber von Strukturen ein zufriedenstellendes regelmäßiges Streifenmuster ergibt. Beim Aufschlagen des Buchs erweisen sich die schwarzen Linien als ebensolche Seiten, die immer am Anfang eines Kapitels stehen. Nachlässig betrachtet sind sie nur schwarz, gegen das Licht gedreht sieht man schemenhaft in schwarz auf schwarz ein Bild des jeweiligen Kapitelthemas. Auffällig auch: Alle Kapitel – zwölf an der Zahl – haben die gleiche Länge.

Mal schauen, ob dieser Primat von Form und Gestalt den Ansprüchen der jeweiligen Kapitel-Inhalte gerecht wird.

Der Buchinhalt

Auch beim Inhaltsverzeichnis wird die Liebe der Autorin zur Gestaltung deutlich: Symmetrisch aufgebaut. In der Mitte die zwölf Kapitel, darum herum am Anfang nicht nur ein Vorwort, sondern auch eine Vorbemerkung, am Ende nicht nur ein Personen-, sondern auch ein Bild- und Quellenverzeichnis.

Die Kapitel haben als Titel immer etwas, das verloren gegangen ist: Tuanaki – ein Insel im Pazifik, die es nicht mehr gibt; kaspischer Tiger – ausgestorben; Sapphos Liebeslieder – (im wesentlichen) nicht überliefert; Hafen von Greifswald – ein Gemälde von Caspar David Friedrich, verbrannt; Palast der Republik – abgerissen.
Judith Schalansky: "Verzeichnis einiger Verluste" - Die Welt, ein ...

Jedem Kapitel vorangestellt, kursiv gedruckt, Informationen zum Thema, enzyklopädisch, immer zwei Einträge, einer mit *, einer mit ✝. Danach geht Schalansky frei mit der Materie um. Spätestens hier wird es literarisch, kreativ, sprudeln Ideen. Verluste werden mit anderen Verlusten kombiniert, verschränkt, verwoben. Mal gibt es einen autobiographisch anmutenden Reisebericht zu einer Stätte der Kindheit der Autorin (Hafen von Greifswald), mal einen stream-of-consciousness von Greta Garbo (Der Knabe in Blau), ein anderes Mal bleibt sie im Enzyklopädischen und gibt viele Textfragmente, Eindrücke zum Kapitelthema (Sapphos Liebeslieder). So unterschiedlich die Kapitel dadurch werden, so abwechslungsreich, überraschend, überzeugend und anregend sind sie.

Womit wir zur Sprache kommen.

Die Buchsprache

Alle Beobachtungen zu diesem Buch in diesem Blogbeitrag  machen den Eindruck eines gelehrten Prunkstücks. Das Buch ist auf Schau aus, von der Gestaltung bis zu den akademisch-gelehrt-recherchierten Inhalten. Es will gesehen werden, trotz seines Titels nicht verloren gehen. Hellenistisch. So wie man es von einem Schriftsteller-Gelehrten an der Bibliothek von Alexandria erwarten würde, von Kallimachos etwa oder von Lykophron.

Und hierzu passt auch die Sprache. Fast jedes Kapitel verwendet einen anderen Sprachstil, ein anderes Vokabular. Dabei bleibt ihre Syntax immer literarisch, ähnlich der antiken Kunstprosa, Apuleius fällt einem ein oder Heliodor oder Lukian oder auch Cicero und Demosthenes. Man muss sich schon konzentrieren auf ihre wohlkonstruierten Sätze mit ihren Parataxen, Chiasmen, Oxymora und all den anderen Stilmitteln klassisch-antiker Rhetorik. Sehr gekonnt, sicherlich nicht bescheiden.

Ein Buchverlust?

Bei so viel Zur-Schau-Stellung und Glänzen-Wollen: Was macht das mit den Verlusten des Buchtitels?

Erstaunlicherweise schafft es Schalansky, den Verlusten gerecht zu werden. Sie hat nicht nur Technik, sondern auch Tiefgang. Sie bleibt mit all ihren schriftstellerischen und gestalterischen Raffinessen vorsichtig, zurückhaltend, melancholisch, nachhörend, bleibt sensibel für Werden und Vergehen, für Vergessen und Erinnern.

Ein Buch, das hoffentlich nicht so schnell verloren gehen wird.

Hain – Geländeroman. Esther Kinsky

„Hain – Geländeroman“ von Esther Kinsky ist sehr ungewöhnlich. Selten habe ich ein Buch gelesen, das derart traurig, derart schön, so abgeklärt und so emotional zugleich ist.

Hain: Geländeroman

Gedichte in Prosa

Das Buch ist eine Art Sammlung von Gedichten in Prosa. Es geht um Italien im Winter. Um verlassenen Landschaften in Kälte und Nässe. Die Ich-Erzählerin beschreibt ihre Reisen durch das winterliche Italien per Auto, Zug und Bus. Reisen zu verschiedenen Städten und durch unterschiedliche Landstriche.

Landschaft als Thema

Kinsky hat die Gabe, ganz genau hinzuschauen: Sie betrachtet die Details ihrer Umgebung. Die abgestorbenen Äste wie den Müll auf den Wegen, die Vögel wie den Nebeldunst. Diese Details kann sie in poetischer Sprache beschreiben. Doch nicht nur dies. Der Blick nach außen wird ergänzt durch den nach innen, um demjenigen nachzuspüren, was durch Gesehenes ausgelöst wurde. So ist die Reise durch die Landschaft für die Erzählerin auch eine Reise zur Selbsterkenntnis.

„Wolken schoben sich zwischen den Hügeln heran und hüllten alles in klammes Weiß. Ein ganz dünner Regen fiel, manchmal waren die Tropfen so fein und schwebend, dass es wohl nur die Wolke selbst war, die ihre Feuchtigkeit ausbreitete. Die weißen Felder gerieten in Bewegung, gaben Durchblicke frei, der Friedhof trat hervor, Bruchstücke der Außenmauer, der Gräberwände, der Bäume – inmitten des Gestaltlosen ringsum wirkte er viel näher als sonst.“

Tod als Thema

Winter in Italien ist der Weg für die Erzählerin, sich auf verschlungenen Pfaden dem Verlust des Partners und dem des Vaters anzunähern. In Rückblenden erfahren Leser von Reisen der Kindheit mit dem Vater auf der Suche nach etruskischen Totenstädten und Reisen der Erwachsenen mit dem mittlerweile gestorbenen Partner. Erinnerungen ergänzen die aktuelle Reise.

„Wir saßen in der weißlichen Sommerluft von Norditalien, die sehr anders war als die Luft in Rom, hörten das Rauschen der Autobahn in der Ferne und aßen unseren Reiseproviant, während mein Vater uns erklärte, dass das Mosaiklegen ein große Kunst war, bei der die Abertausenden von kleinen ungefähren Vierecken aus Halbedelsteinen, buntem und weißem Glas und Ton vermischt mit Blattgold in einem solchen Winkel zueinander stehen mussten, dass alles im fertigen Bild gleich gut zu sehen war und auch in der Wölbung einer Kuppel aussehen musste wie auf einer Ebene ausgebreitet. So wie hier, sagte mein Vater, mit einer weiten Geste auf die flache schattenlose Landschaft zeigend, in der ein Pappelhain lag und ein verfallenes Gehöft wie eine Insel inmitten von stoppelbedeckten Feldern.“

 

  • Hintergrund-Informationen zu Ester Kinsky bei Perlentaucher.
  • Sehr empfehlen kann ich auch ihren früheren Roman „Am Fluss“.

Nonna. Thomas de Padova

Thomas de Padova war Eingeweihten bisher nur als Wissenschaftsjournalist beim Tagesspiegel und Verfasser lesbar geschriebener Sachbücher insbesondere über astronomische und andere naturwissenschaftliche Themen bekannt.

Jetzt hat er den Sprung in die Literatur und ins Autobiographische gewagt. Auch hier gelingt ihm das Schwimmen aufs Beste.

Der Klappentext verrät über den Inhalt von „Nonna“:
„Jeden Sommer verbrachte Thomas de Padova in einem Dorf am Meer in Apulien, Geburtsort seines Vaters, Großvaters und Urgroßvaters – drei Männer, die irgendwann aus Italien aufbrachen in die Welt. Seine Großmutter blieb. Jahr für Jahr erwartet sie ihn, still auf einem Stuhl sitzend, im Dunkel ihres Zimmers: eine alte, schwarz gekleidete Frau, die ohne Kühlschrank lebt. Warum hat der Großvater seine Frau immer behandelt, als existierte sie nicht? Was hat die beiden vor mehr als einem halben Jahrhundert aneinandergebunden?“

Mich hat das Buch sehr an das 1945 erschienene, ebenfalls autobiographische  Werk „Christus kam nur bis Eboli“ von Carlo Levi erinnert. Beide Bücher leben vom Kontrast zwischen einerseits dem eher Großstädtischen, Weltläufigen, Modernen, aus dem der Erzähler kommt, und dem Ländlich-Dörflichen, Provinziellen und Archaischem auf der anderen, in das er reist/reisen muss. In beiden Fällen wird weder das eine noch das andere als überlegen dargestellt. Der jeweilige Erzähler versucht das für ihn andere und Fremde zu begreifen und zu verstehen, ohne es sich aneignen zu wollen – höchstens vielleicht als Teil der eigenen Geschichte. Gemeinsam ist beiden Büchern auch die sehr ruhige, unprätentiöse Schreibweise, die den Leser in den Bann ziehen kann und die vielleicht auch gut zu dem Ländlich-Archaischen der Umgebung passt.

Eine Empfehlung meinerseits, besonders für sehr warme Sommertage wie in Apulien.