Sensations: The story of British art from Hogarth to Banksy. Jonathan Jones

Dieses neue Buch von Jonathan Jones kommt so frisch von der Druckerpresse, dass man beim Lesen aufpassen muss, keine Druckerschwärze an die Finger zu bekommen: „Sensationen“. Das Cover passt zum Titel, ein springendes Pferd wie im Zirkus, es schaut im Sprung nach rechts und blickt dem Leser (oder natürlich der Leserin) direkt in die Augen.
Whistlejacket - Wikipedia

Jonathan Jones ist nicht neu in diesem Blog. Sein Buch über das Liebesleben von Künstlern der Renaissance und dessen Auswirkungen auf deren Kunst haben wir schon besprochen.

In diesem Buch wagt er sich an ein erheblich größeres Thema, eine Geschichte der britischen Kunst seit Hogarth. Da braucht man neben fundierter Kenntnis auch einen langen Atem; darf sich nicht in Details verlieren, aber gleichzeitig auch nicht zu sehr an der Oberfläche verharren. Auch andere (und bekanntere) Autoren haben sich daran schon verhoben. Der einzige, den ich kenne, der dies bisher geschafft hat, war ein deutsch-britischer Kunsthistoriker, Nikolaus Pevsner, mit seinem Buch „The Englishness of English art“.
Viewing “Mr. Turner” | Vissi d'arte

Vermutlich um sich nicht zu verirren, konzentriert sich Jones darauf, eine Hypothese zu verfolgen:
„In this book I will argue that the greatest British art, from Stubbs to Freud, expresses this empirical and sensationalist theory of knowledge. All the greatest artists in the story that follows – with one brilliantly provocative exception – made it their business to look with open eyes at raw fact.“

Eine zweite Hypothese folgt daraus: Vor der wissenschaftlichen Revolution in England kann es keine große britische Kunst gegeben haben. Jones:
„(Zur Zeit von Hogarth) there was no British art worlds to move up in. There were barely any British artists in the modern sense of the world – and no famous ones, let alone geniuses whose works live in history. How many people can name a British-born artist who worked before the 1700s? Art, for the British upper classes, was essentially something that came from abroad.“

Im großen und ganzen gelingt es Jones, seine Hypothesen zu bestätigen. Außerdem sind sie allemal interessant und anregend genug, um über die eigenen Kenntnisse britischer Kunst nachzudenken. Jones‘ Highlights der britischen Kunst: Hogarth, Gillray, Wright of Derby, Constable, Turner, Bacon, Freud. Wenn diese sieben Namen eine Hügelkette bilden, dann sind Hogarth, Turner und Bacon ihre höchsten Erhebungen. Richtig schlecht wegkommen: die Präraffaeliten und die Young British Artists, wie sie von Saatchi popularisiert worden sind.

Jones ist immer stark, wenn es darum geht, einzelne Werke in Ruhe und bei eingeschaltetem Verstand anzuschauen und auf sich wirken zu lassen. Seine Bildbeschreibungen sind sorgfältig und ausgesprochen sensibel. Er bringt Bilder völlig nachvollziehbar und geradezu intuitiv auf einen Punkt, auf den man selber nicht gekommen wäre. Wirklich große Klasse.
Micrographia under the microscope – University of Glasgow Library Blog

Die britische Kunstgeschichte gelingt Jones bis Francis Bacon. Danach reißt der Faden etwas ab. Vielleicht weil die Gegenwart immer zu präsent und vielteilig ist? Oder weil ihm die Zeit ausging? Oder weil er einen großen Teil der zeitgenössischen britischen Kunst für wenig gelungen hält? Auf jeden Fall wird Jones zum Schluss eilig und hektisch, hetzt von Namen zu Namen, verliert sich im Beliebigen. Das ist nicht Seins, er braucht die Ruhe und die Distanz.

Aber alles bis Francis Bacon sollte man lesen. Dann bekommt man einen neuen, etwas anderen Blick auf die britische Kunst.
„What have a pickled shark, a painted horse and a giant louse got in common?“
Dieses Buch gibt die Antwort.

Naked emperors: Criticisms of English contemporary art. Brian Sewell

Balsam für die geschundenen Nerven und Minderwertigkeitskomplexe all derer, die mit zeitgenössischer Kunst wenig anfangen können und oft von Kunstverständigen und Künstlern als Ignoranten und Banausen apostrophiert werden. Biestig für die zeitgenössischen Künstler und ihre Förderer, die sich von einem kompetenten und eloquenten Kritiker konfrontiert sehen. Für alle gemeinsam aber ein Buch, das hält, was es verspricht: Kritische Äußerungen über die englische zeitgenössische Kunst.

Wie das Foto erkennen lässt, war der 2015 verstorbene Sewell jemand, dem man durchaus selbst-ironische Tendenzen unterstellen kann. Kunst hingegen nahm er sehr ernst. Und das nahm man ihm übel. 1994 hielten es 35 (!) Protagonisten der zeitgenössischen Kunst für an der Zeit, ihm in einem offenen Brief an den „Evening Standard“ (für den Sewell als Kunstkritiker tätig war) vorzuwerfen: „homophobia“, „misogyny“, „demagogy“, „hypocrisy“, „artistic prejudice“, „formulaic insults“ und „predictable scurrility“.

Offensichtlich wurde Sewell als Kritiker sehr ernst genommen, ein verstecktes Kompliment immerhin. Mit einigen der Vorwürfe hatten die Kritiker des Kritikers auch bestimmt recht. Entkräftet haben sie seine Kritik an ihrer Kunst und ihrem Kunstverständnis damit allerdings nicht. Eingeschüchtert haben sie Sewell bestimmt nicht, denn der kritisierte emsig und jetzt noch vielbeachteter weiter.

Ein Ergebnis ist die Zusammenstellung von Artikeln Brian Sewells, die alle im „London Evening Standard“ erschienen sind. Sie sind allesamt auf hohem sprachlichen und auch intellektuellem Niveau auf den Punkt geschrieben, voll wunderbarer Formulierungen, erfrischend boshaft und keinesfalls anbetend Heiligen-verehrend.

Nein, die englische moderne Kunst hat wirklich keinen Fan an Brian Sewell. Dafür aber hat er gute Gründe, die er immer wieder beredt (und ziemlich unwidersprochen) darlegt.

Zu seinen kritischen Argumenten über zeitgenössische Künstler gehört vor allem, dass viele von ihnen letztlich nichts anderes tun, als immer wieder das umgedrehte Urinal von Marcel Duchamps von vor über einhundert Jahren zu kopieren, mit dem dieser damals seine Zeitgenossen provozieren wollte. Auch kritisiert er die Ideenarmut vieler Künstler, die über Jahrzehnte nicht mehr als eine einzige Idee zu variieren scheinen. Und er bedauert, dass echte handwerkliche Kunstfertigkeit nichts mehr gilt.

Den Förderern dieser Kunst wirft er Selbstbereicherung und Volksverdummung vor. In England (und sicherlich nicht nur dort) schiebt sich anscheinend eine recht kleine Clique von Museumsdirektoren und Kuratoren, gemeinnützigen Institutionen, Galeristen, Sammlern und Künstlern wechselseitig die monetären Schneebälle zu.

Dabei findet er nicht alles uniform schlecht, sondern differenziert und nuanciert. Tracy Emin, Damien Hirst, die Chapman Brothers und Lucian Freud zum Beispiel werden jeweils sehr anders von ihm beurteilt. Auch die großen Promotoren der englischen modernen Kunst, die Werbegröße Charles Saatchi und der Tate-Chef Nicholas Serota, werden nicht nur kritisiert, sondern auch in Teilaspekten positiv gewürdigt.

Sewell zu zitieren ist nicht leicht: Die Auswahl ist zu schwierig wegen der Fülle prägnanter Zitate. Zu einer Retrospektive englischer Kunst der Jahre 1965-1975 in der Whitechapel Gallery schreibt er im Jahr 2000:
„In revisiting this pretentious and dull trivia, the Whitechapel Gallery reminds us how arid it all was to both eye and intellect, and how utterly familiar it is, partly because the work of those contributing artists who are still alive has changed so little in the passage of a generation, and partly because so much of what they did has been done again and again by student imitators imitating imitations. It is all very well to argue that art must be disassociated from the skills of art, but to disassociate so far that the skills become disreputable, their exercise clear proof that the practitioner is not an artist, results in visual mayhem (…).“

Oder in einem Artikel von 1999:
„For twenty years I have locked horns with successive chairmen, panjandrums, secretaries and Councillors of the Arts Council, probing their Byzantine methods of selection and appointment, their often outrageous exploitation of appointment for professional advantage, and their buddy-boy and back-scratching patronage and subsidy, and with every poke and prod the stink of corruption has oozed froms this long-standing midden.“

Eine beeindruckende Sammlung knackig-kompetenter Kritiken. Nur das Cover ist völlig unvorteilhaft fad.
Naked Emperors: Criticisms of English Contemporary Art

Gut getroffen und fair – glaube ich – ist sein Nachruf im Guardian.