Outsider: always almost, never quite. Brian Sewell

Mir war bisher gar nicht aufgefallen, dass Brian Sewell, ein 2015 verstorbener englischer Kunsthistoriker, äußere Ähnlichkeiten mit Loriot hat.

Darum geht es hier aber nicht.

Brian Sewell, enfant terrible der englischen Kunstkritik und Schrecken aller Promotoren zeitgenössischer Kunst, hat eine Autobiographie geschrieben, die in zwei Bänden erschienen ist und deren ersten Teil ich gerade gelesen habe. Der Untertitel passt ausgezeichnet: „Always almost, never quite“.

Am Einband lag es nicht, dass ich dieses Buch gekauft habe. Entscheidend war, dass ich ausgezeichnete und in jeder Hinsicht idiosynkratische DVDs mit/von ihm gesehen habe, insbesondere die Reihe über die „Grand Tour“, und auch etliche seiner Kunstkritiken in diesem Blog besprochen habe. Für all diejenigen, die gut gesprochenes Englisch mögen, ist er auch ein akustisch-ästhetischer Gewinn. Ein Kommentator des Guardian beschreibt es so: „(…) he sounds, as I duly noted, like a dowager duchess carefully recalling a large turd she was once mistakenly served during tea at Claridge’s.“

Soviel zum Drumherum.

Der erste Band umfasst die Zeit von seiner Geburt 1931 bis zu seinem Ausstieg bei Christie’s 1967. Der Klappentext gibt eine recht gute Zusammenfassung: „Outsider is the life of a child, boy, adolescent, student and young man in London between the Great Depression of the 30s and the sudden prosperity and social changes of the 60s, affected by the moral attitudes of the day, by the Blitz, post-war austerity and the new freedoms of the later 50s that were resisted with such obstinacy by the old regime. It is about education in the almost forgotten sense of the pursuit of learning for its own sake. It is about the imposed experiences of school and National Service and the chosen experience of being a student at the Courtauld Institute under Johannes Wilde and Anthony Blunt. It is about sex, pre-pubertal, in adolescence and in early adulthood, and the price to be paid for it. It is about art and the art market in the turbulent years of its change from the pursuit of well-connected gentleman to the professional occupation of experts.“

So etwas wie diese Autobiographie habe ich noch nicht gelesen. Was für ein unmittelbares, direktes, ungeschöntes und vorbehaltloses Panorama der Zeit! Was für ein Selbstbewusstsein, sich selbst so ins Auge zu sehen und das Gesehene und Erlebte aufzuschreiben. Den Anspruch, den er als Kunsthistoriker und -kritiker hatte, wendet er auch auf seine Memoiren an: „(…) if I did not tell the whole truth it would not be truth at all. (…) approaching my eightieth year and old enough to be neither embarrassed nor ashamed, I no longer feel the need for reticence.“

Seine Erfahrungen im Courtauld-Institut und bei Christie’s sind faszinierend und bringen einen ins Grübeln. „Macht und Mensch“ ist immer wieder eine ungünstige Kombination, auch in der scheinbar erhabenen und zivilisierten Arena der Hochkultur, zumal wenn sie durch grundsätzliche Interessenkonflikte noch virulenter gemacht wird.

Seine Ausflüge ins sehr Private sind bestimmt nichts für jeden Leser. Dessen war sich Sewell bewusst:
„I have dug deep into indiscretion and some may say that I have dug deeper into prurience; perhaps I have, but again it is for the benefit of readers who are troubled by their private natures and feel that they alone are driven so. I have no doubt that many who admire me – my ‚doting elderlies‘, as an old woman friend once dubbed them – will be disgusted. So be it – truth is nothing if not whole.“

Der Guardian hat aber für mich recht, wenn er in seiner – auch sonst sehr lesenswerten – Rezension schreibt: „Outsider is a delicious read.“

Naked emperors: Criticisms of English contemporary art. Brian Sewell

Balsam für die geschundenen Nerven und Minderwertigkeitskomplexe all derer, die mit zeitgenössischer Kunst wenig anfangen können und oft von Kunstverständigen und Künstlern als Ignoranten und Banausen apostrophiert werden. Biestig für die zeitgenössischen Künstler und ihre Förderer, die sich von einem kompetenten und eloquenten Kritiker konfrontiert sehen. Für alle gemeinsam aber ein Buch, das hält, was es verspricht: Kritische Äußerungen über die englische zeitgenössische Kunst.

Wie das Foto erkennen lässt, war der 2015 verstorbene Sewell jemand, dem man durchaus selbst-ironische Tendenzen unterstellen kann. Kunst hingegen nahm er sehr ernst. Und das nahm man ihm übel. 1994 hielten es 35 (!) Protagonisten der zeitgenössischen Kunst für an der Zeit, ihm in einem offenen Brief an den „Evening Standard“ (für den Sewell als Kunstkritiker tätig war) vorzuwerfen: „homophobia“, „misogyny“, „demagogy“, „hypocrisy“, „artistic prejudice“, „formulaic insults“ und „predictable scurrility“.

Offensichtlich wurde Sewell als Kritiker sehr ernst genommen, ein verstecktes Kompliment immerhin. Mit einigen der Vorwürfe hatten die Kritiker des Kritikers auch bestimmt recht. Entkräftet haben sie seine Kritik an ihrer Kunst und ihrem Kunstverständnis damit allerdings nicht. Eingeschüchtert haben sie Sewell bestimmt nicht, denn der kritisierte emsig und jetzt noch vielbeachteter weiter.

Ein Ergebnis ist die Zusammenstellung von Artikeln Brian Sewells, die alle im „London Evening Standard“ erschienen sind. Sie sind allesamt auf hohem sprachlichen und auch intellektuellem Niveau auf den Punkt geschrieben, voll wunderbarer Formulierungen, erfrischend boshaft und keinesfalls anbetend Heiligen-verehrend.

Nein, die englische moderne Kunst hat wirklich keinen Fan an Brian Sewell. Dafür aber hat er gute Gründe, die er immer wieder beredt (und ziemlich unwidersprochen) darlegt.

Zu seinen kritischen Argumenten über zeitgenössische Künstler gehört vor allem, dass viele von ihnen letztlich nichts anderes tun, als immer wieder das umgedrehte Urinal von Marcel Duchamps von vor über einhundert Jahren zu kopieren, mit dem dieser damals seine Zeitgenossen provozieren wollte. Auch kritisiert er die Ideenarmut vieler Künstler, die über Jahrzehnte nicht mehr als eine einzige Idee zu variieren scheinen. Und er bedauert, dass echte handwerkliche Kunstfertigkeit nichts mehr gilt.

Den Förderern dieser Kunst wirft er Selbstbereicherung und Volksverdummung vor. In England (und sicherlich nicht nur dort) schiebt sich anscheinend eine recht kleine Clique von Museumsdirektoren und Kuratoren, gemeinnützigen Institutionen, Galeristen, Sammlern und Künstlern wechselseitig die monetären Schneebälle zu.

Dabei findet er nicht alles uniform schlecht, sondern differenziert und nuanciert. Tracy Emin, Damien Hirst, die Chapman Brothers und Lucian Freud zum Beispiel werden jeweils sehr anders von ihm beurteilt. Auch die großen Promotoren der englischen modernen Kunst, die Werbegröße Charles Saatchi und der Tate-Chef Nicholas Serota, werden nicht nur kritisiert, sondern auch in Teilaspekten positiv gewürdigt.

Sewell zu zitieren ist nicht leicht: Die Auswahl ist zu schwierig wegen der Fülle prägnanter Zitate. Zu einer Retrospektive englischer Kunst der Jahre 1965-1975 in der Whitechapel Gallery schreibt er im Jahr 2000:
„In revisiting this pretentious and dull trivia, the Whitechapel Gallery reminds us how arid it all was to both eye and intellect, and how utterly familiar it is, partly because the work of those contributing artists who are still alive has changed so little in the passage of a generation, and partly because so much of what they did has been done again and again by student imitators imitating imitations. It is all very well to argue that art must be disassociated from the skills of art, but to disassociate so far that the skills become disreputable, their exercise clear proof that the practitioner is not an artist, results in visual mayhem (…).“

Oder in einem Artikel von 1999:
„For twenty years I have locked horns with successive chairmen, panjandrums, secretaries and Councillors of the Arts Council, probing their Byzantine methods of selection and appointment, their often outrageous exploitation of appointment for professional advantage, and their buddy-boy and back-scratching patronage and subsidy, and with every poke and prod the stink of corruption has oozed froms this long-standing midden.“

Eine beeindruckende Sammlung knackig-kompetenter Kritiken. Nur das Cover ist völlig unvorteilhaft fad.
Naked Emperors: Criticisms of English Contemporary Art

Gut getroffen und fair – glaube ich – ist sein Nachruf im Guardian.