H wie Habicht. Helen MacDonald

Die Bestseller und der Blogger

Die Verlage tun einiges, um dieses Buch – „H wie Habicht“ von Helen Macdonald – ramschig zu machen. Die englische Ausgabe prahlt mit „Costa Book of the Year“ auf dem Cover (Costa ist eine britische Coffee-To-Go-Kette). Die deutsche hält da mit: „Spiegel-Bestseller“, werden wir informiert. Für Leser wie mich, bei denen Bestsellerlisten ein skeptisches Lächeln im Gesicht auslösen, ist das natürlich nichts.
Falconer and Author Helen Macdonald on Dialogue - YouTube

Gekauft und gelesen habe ich es aber dann doch, allerdings erst, als es nicht mehr auf den Bestsellerlisten war (und obendrein gebraucht – reduziert das finanzielle Risiko, ein Buch gekauft zu haben, das mir dann wie erwartet nicht gefällt…). Gereizt hat mich das Thema: Mensch schafft sich einen Habicht an, richtet ihn zur Jagd ab und lernt sich dadurch selber besser kennen. Und die Kombination mit dem Bestsellertum: Wie kann so etwas in den Mainstream gelangen?

Helen Macdonald: Schreiberin von Naturthemen

Helen Macdonald, Jahrgang 1970, ist Wissenschaftshistorikerin an der Universität Cambridge und schreibt offensichtlich gerne über Naturthemen, insbesondere Greifvögel. Vor ihrem Habichtbuch, erschienen 2014, hat sie bereits eines über Falken geschrieben.
Helen Macdonald on What Falconry Can Teach Us About Our ...

„H wie Habicht“ ist, wie ich finde, ein sehr seltsames und äußerst bemerkenswertes Buch.

Autobiographie und Biographie und Kulturgeschichte und Ornithologie und….

  • Es ist ganz offensichtlich autobiographisch: Es geht um die Autorin selbst in dem Jahr nach dem Tod ihres Vaters, der eine große Rolle in ihrem Leben gespielt hat. Zusätzlich ist es auch fremd-biographisch: In diese Autobiographie eingewoben ist die Lebengeschichte von T.H. White, der heute am meisten  durch seine Bücher über die Artussage bekannt ist, ebenfalls einen Habicht abrichtete und darüber auch ein Buch geschrieben hat, welches Macdonald schon in jungen Jahren erstmalig las. White wird von Macdonald als psychisch schwer angeschlagen, fast pathologisch geschildert, eine weitere Parallele zu ihrer eigenen Verfassung nach dem Tod ihres Vaters. Beide werden außerdem  grundsätzlich als Menschen beschrieben, die eher für sich sind, keine Herdentiere.
  • Ornithologisch ist das Buch: Man erfährt viel über Habichte. Und kulturgeschichtlich , denn man lernt auch eine Menge über Falknerei in der Geschichte und in verschiedenen Kulturkreisen.

Die Autorin und der Habicht: eine gelungene Koexistenz

  • Das Buch kommt mit wenig aus. Zwei Hauptpersonen: Macdonald und White. Jeweils dazu: ein Habicht. Andere Menschen tauchen auf, aber immer nur vorübergehend, unwesentlich, Statisten. Auch der Plot ist einfachst: Vater gestorben – jungen Habicht gekauft und abgerichtet – gemeinsame Jagderlebnisse – vorübergehende Abgabe des Habichts zur Mauser.
  • Macdonald entgeht jeglicher Gefahr, den Habicht zu vermenschlichen. Ja, er (genauer: sie, mit Namen Mabel) ist ihr Gegenüber, ihre Partnerin in diesem Buch. Aber der Habicht ist eine Persönlichkeit für sich, definitiv kein Mensch, ganz anders, ganz Habicht. Diesen Greifvogel für sich zu lassen, ihn nicht zu vereinnahmen, ist vielleicht die größte Leistung von Macdonald in diesem Buch.

Schwebende Intensität

  • Getragen wird alles durch die Intensität, mit der Macdonald schreibt. Alles ist sehr real, unmittelbar. Man sieht den Habicht quasi vor sich, spürt sein Gewicht, seine Kraft, sieht seine Augen, seinen Schnabel, seine Klauen. Ebenso real sind erstaunlicherweise die Gedanken von Macdonald, ihre Gefühle, ihr Verhältnis zum Habicht, ihr Nachdenken über sich, das Leben, die Umwelt, ihren Vater.
  • So real dies alles ist, so schwebend, so atmosphärisch bleibt es gleichzeitig. Alles ist wie in einem Morgennebel im Herbst im Fenland um Cambridge, wenn man mit sich und seinem Habicht allein ist, es riecht nach Holzfeuer und feuchtem Laub.

Ach so, fast vergessen, Empfehlung natürlich. Ist doch klar. Sonst hätte das Buch doch nicht den Samuel-Johnson-Preis gewonnen.

How to Train Your Raptor | The New Yorker

Der begrabene Riese. Kazuo Ishiguro

Und dann überrascht Kazuo Ishiguro doch wieder. Gerade hatte ich gedacht, ich wüsste jetzt, wie und worüber er schreibt. Dann kam mir „The buried giant“ in die Hände, erschienen 2015.

Ein Roman aus der Frühzeit Britanniens. Ort und Zeit der Handlung: Irgendwo im Grenzgebiet zwischen den Sachsen und den keltischen Vor-Einwohnern. Die Römer sind schon eine ganze Weile wieder außer Landes, aber ihre Ruinen gibt es noch. König Artus  ist vor nicht allzu langer Zeit gestorben. Die Wikinger betreiben ihr Plünderungsgeschäft.

Ein Roman wie von Walter Scott. Ivanhoe ist gedanklich nie weit weg, wenn einem der Ritter Winstan begegnet. Oder ein Roman wie  die keltischen Originale der Artussage aus Wales und Cornwall. Gawain, der Neffe von Artus, lebt noch und ist als sehr alter Ritter auf seinem sehr alten Pferd aktiv: Seine Aufgabe ist noch nicht erledigt – da kann man nicht einfach so sterben oder in Ruhestand gehen. Auch gibt es einen leibhaftigen Drachen. Und Feenwesen, mit denen nicht gut Kirschen zu essen ist. Sogar Riesen. Oder ein Roman wie von Tolkien also, Fantasy oder wie immer das heißt.

Je länger man liest, desto klarer aber wird dann doch: Es ist ein typischer Roman von Ishiguro, nur verkleidet. Sparsame Sprache, überschaubares Personal, überlegter Aufbau von Sätzen, Kapiteln und Buch. Vor allem: Die Lieblingskonflikte von Ishiguro. Was tut „Pflicht“ mit den Menschen? Kann es funktionierende Beziehungen zwischen Menschen wirklich geben? Wie geht man mit den Sünden der Vergangenheit in der Gegenwart um? Kann der Mensch aus seiner Haut oder gehören Krieg, Konflikt, Verstricklung und Sünde zu seinem ureigenen Wesen?

„The buried giant“ kommt so dicht an ein happy end wie sonst noch kein anderer Roman von Ishiguro, einem sehr alten Ehepaar sei Dank. Aber wie immer bleibt es in der Schwebe, verschwindet die Melancholie nicht, kann es für das Paar noch anders kommen. Vor allem ist schon sicher, dass für die Menschen insgesamt in der nächsten historischen Etappe wieder Krieg ansteht. Denn Frieden gibt es nur durch Zauber oder durch ein Wunder, wenn die Erinnerung ausgeblendet wird und man vergißt, wofür man doch eigentlich Wieder-Schlecht-Machung braucht. Und Wunder gibt es ja bekanntlich nicht so oft. Vielleicht sogar nur im Märchen.

Der Guardian, den ich ja oft zitiere, schrieb: „Focusing on one single reading of its story of mists and monsters, swords and sorcery, reduces it to mere parable; it is much more than that. It is a profound examination of memory and guilt, of the way we recall past trauma en masse. It is also an extraordinarily atmospheric and compulsively readable tale, to be devoured in a single gulp. The Buried Giant is Game of Thrones with a conscience, The Sword in the Stone for the age of the trauma industry, a beautiful, heartbreaking book about the duty to remember and the urge to forget.“

Der ewige Gärtner. John le Carré

James Bond für den anspruchsvolleren Leser (und bei James Bond werden ja schon eher LesER angesprochen). Spionage- und Wirtschaftsromane auch für die Leserin. John le Carré ist seit längerer Zeit ein Autor mit Bestseller-Garantie, eine Perle für den Buchhandel in absatzschwächeren Zeiten.

Für mich war es der erste le Carré-Roman, den ich gelesen habe. „Bestseller“-Schlagzeilen und -Listen schrecken mich meistens ab, die will/muss ich nicht lesen, das machen ja schon die anderen. Es war daher auch ein Zufall, der mich mit diesem Buch zusammenbrachte. Mir gefiel der Einband in einem Secondhand-Buchgeschäft; der Preis reduzierte das Risiko; auch fand ich den Buchtitel „The constant gardener“ ansprechend.

Also gekauft, dann gelesen, jetzt die Besprechung.

Der Autor
John le Carré, Brite, wurde in den frühen 30er Jahren geboren. Nach einer Zeit, in der er selbst für den britischen Geheimdienst gearbeitet hatte, wurde er durch Spionageromane berühmt. Titel sind z.B. „Der Spion, der aus der Kälte kam“ oder „Dame, König, As, Spion“.

Der ewige Gärtner
Vielleicht nicht der typischste seiner Romane, denn Spionage steht nicht im Vordergrund des Geschehens.

Statt dessen geht es dieses Mal um die Machenschaften der pharmazeutischen Industrie, die – zumindest in diesem Roman – Medikamente in Ländern der dritten Welt an Menschen testet, kritische Nebenwirkungen unter den Teppich kehrt und noch kritischere Personen aus dem Weg schafft. Verstrickt in diesen Skandal sind eigentlich alle, die in diesem Roman vorkommen, außer natürlich den „Guten“. Und das ist vor allem das Ehepaar, das im Zentrum des Romans steht: Tessa Quayle, die in diesem Skandal auf eigene Faust ermittelt und öffentlich macht – sie wird denn auch recht schnell (quasi vor Seite 1) auf unangenehme Weise ermordet. Ihr Ehemann Justin, der ihren Ermittlungen nachreist, um ihr wieder nahezukommen, und zum Schluss auch stirbt, offensichtlich ebenfalls ermordet, aber zumindest halb tat man seiner suizidalen Absicht dabei wohl auch einen Gefallen.

Die Handlung wirkt ein wenig reißerisch und gut-menschig mit ihrem gegen die Pharma-Industrie (und gegen Kolonialismus, Sexismus, Rassismus, …) erhobenen Zeigefinger. Andererseits – siehe diverse öffentlich gewordene Skandale bei Pfizer und anderen Unternehmen – scheint die Realität immer wieder noch reißerischer und bedrückender als der Roman.

Am Besten gefallen mir die Passagen des Buchs, in denen das britische Establishment eine Rolle spielt. Die britische High Commission in Nairobi, die Chefs Eton- und Oxford-erzogen. Die Ironie und der Sarkasmus von le Carré ein wenig zu stark nach Klischee, aber gut gemacht und gut geschrieben.

Ein Beispiel für den Stil von le Carré:
„Justin Quayle buried his much-murdered wife in a beautiful African cemetery called Langata under a jacaranda tree between her stillborn son Garth and a five-year-old Kikuyu Boy who was watched over by a plaster-cast kneeling angel with a shield declaring he had joined the Saints. Behind her lay Horatio John Williams of Dorset, with God, and at her feet Miranda K. Soper, loved for ever.“

Werde ich weitere Bücher von le Carré, dem Besteller-Autor lesen? Vielleicht, und das ist doch dann ein ziemlich positives Fazit.

Murder in the afternoon. Frances Brody

Nachdem ich mich kritisch geäußert habe über die Krimis von Jacqueline Winspear, braucht es positive Abwechslung. Da kommt die Krimiserie von Frances Brody mit der Detektivin Kate Shackleton gerade recht.

Die Literary Review bemerkt: „Kate Shackleton joins Jacqueline Winspear’s Maisie Dobbs in a subgroup of young, female amateur detectives matured by their wartime experiences. They make excellent heroines.“

Damit sind die Gemeinsamkeiten aber auch erschöpfend behandelt. Denn Frances Brody ist die deutlich bessere Krimi-Autorin. Bei ihr haben die Charaktere mehr Tiefe, entsteht echte Spannung. Ihr Schreibstil ist lebhafter, facettenreicher, amüsanter. Man merkt, dass sie auch als  Bühnenautorin erfolgreich ist. Zwischenzeitlich hat sie in der Krimi-Reihe mit Kate Shackleton neun Romane veröffentlicht. Murder in the afternoon, erschienen 2011, ist die Nummer 3.

Der Start der nicht unkomplizierten Handlung wird auf der Rückseite des Einbands gut aufbereitet: „Young Harriet and her brother Austin have always been scared of the quarry where their stone mason father works. So when they find him dead on the cold ground, they scarper quick smart and look for some help. When help arrives, however, the quarry is deserted and there is no sign of the body. Were the children mistaken? Is their father not dead? (…) It seems like another unusual situation requiring the expertise of Kate Shackleton. But for Kate this is one case where surprising family ties make it her most dangerous – and delicate – yet…..“

Mit Zitaten am Anfang des Romans arbeitet Brody übrigens genauso gerne wie Winspear. Ihre passen aber noch viel besser zu dem, was dann folgt:
„Saturday
12 MAY, 1923
Great Applewick

Solomon Grundy,
Born on a Monday,
Christened on Tuesday,
Married on Wednesday,
Took ill on Thursday,
Grew worse on Friday,
Died on Saturday,
Buried on Sunday.
That was the end of Solomon Grundy.

Old rhyme.“

Eine  erfreuliche Entdeckung.

Leaving everything most loved. Jacqueline Winspear

Die Autorin, Jacqueline Winspear, Britin mit Wohnsitz in den USA, hochgelobt. Der Krimi, 2013 erschienen, spielt im England der 1930er Jahre. Die Detektivin, Maisie Dobbs, gefeiert als „a revelation“. Das Delikt, Mord an zwei Inderinnen in London, bietet das Potenzial, farbenfroh zu werden.

Da kann ja nicht mehr viel schiefgehen.

Neu-klassisch startet Winspear mit Zitaten, eines von Dante, eines von Kipling. Das dritte, von Beryl Markham, schafft gleich etwas Atmosphäre: „I have learnt that if you must leave a place that you have lived in and loved and where all your yesteryears are buried deep, leave it any way except a slow way, leave it the fastest way you can.“

Dann eine kurze Szene, eine Inderin geht an einem Geschäft vorbei in einer Gegend, wo normalerweise keine Inder zu finden sind. Die Engländer, die sie sehen, runzeln die Stirn.

Anschließend ist die Inderin tot, erschossen, aufgefunden treibend in einem Kanal von einer Gruppe spielender Kinder.

Gar nicht schlecht gemacht, Interesse wird geweckt, Spannung aufgebaut, ein Netz für einen guten Plot gewebt. Die historischen Details für die 30er Jahre sind da, nicht zu viele, nicht zu aufdringlich. Kein Kostümschinken.

Bemerkenswert, dass Winspear Versehrtheit zeigt. Viele der Charaktere leiden unter dem vergangenen ersten Weltkrieg. Einige sind psychisch angeschlagen, viele auch körperlich mit Narben, fehlenden Gliedmaßen, humpelnd. Vielleicht abgeschaut bei der australischen Phryne Fisher-Serie, vielleicht natürlich aber auch selbst erfunden.

Andererseits entsteht – bei mir – keine rechte Begeisterung, die Spannung flacht schnell ab, das Interesse an den Charakteren erlahmt, die Lösung ist nicht mehr lang erwartet. Vieles wirkt zu lang, besonders der Schluss, wo über Seiten hinweg auch der letzte lose Faden noch verwebt und verknotet wird.

Etliches ist mir auch zu platt psychologisierend; vor Allem in den Partien, in denen die Detektivin ihr kleines Team führt. Da wird das kleine Einmaleins der klassischen Führung à l‘ Anglaise lang ausgebreitet: Alle Entscheidungen beim Chef, die aber verständnisvoll darüber nachdenkt, was gerade in ihren Mitarbeitern vorgeht.

Vielleicht auch ein Faktor, dass Winspear zu viele Erzählhaltungen im Wechsel einnimmt, insbesondere den allwissenden Erzähler, der bis in die Seelen schaut, aber auch Ich-Erzählung, die allerdings seltsam in der dritten Person abgewickelt wird.

Ein verhaltenes „Kann man lesen“, mehr wird’s bei mir nicht. Und das Buch an Oxfam weitergegeben. Was irgendwie auch schade ist, denn da wäre mehr drin gewesen.