Nachtwachen von Bonaventura. August Klingemann

Die Nachtwachen sind 1804 anonym erschienen und haben zunächst niemanden so recht interessiert.

Das Interesse kam später…

Wer hat sie wohl geschrieben? Goethe vielleicht sogar? Oder Schelling, E.T.A. Hoffmann, Brentano oder F.G. Wetzel? So rätselte man dann.

Was passiert in den 16 Nachtwachen? Sie sind ein böser Eintopf aus Theater-Stück-Zitaten, Puppen- und Marionetten-Spiel-Sequenzen, Maskenspielen, Erzählungen aus dem Leben, überführt in neue Theaterstücke.

Da wird das Drama „Der Mensch“ aufgegeben, sein Autor erhängt sich nach längerer Ansprache an sein nie gehabtes Publikum: „Der Mensch taugt nichts, darum streiche ich ihn aus. Mein Mensch hat keinen Verleger gefunden weder als persona vera noch ficta, für die lezte (meine Tragödie) will kein Verleger die Druckkosten herschießen, und um die erste, (mich selbst) bekümmert sich gar der Teufel nicht, und sie lassen mich verhungern (…).“

Da fallen die Schauspieler für Ophelia und Hamlet aus ihren Theater-Rollen und verlieben sich im echten Leben. Woran sie den Verstand verlieren: So Ophelia an Hamlet, „Du stehst einmal als Stichwort in meiner Rolle, und ich kann dich nicht herausreißen, so wenig wie die Blätter aus dem Stücke, worauf meine Liebe zu dir geschrieben ist. So wil ich denn, da ich mich aus der Rolle nicht zurücklesen kann, in ihr fortlesen bis zum Ende (…). Dann sage ich dir, ob außer der Rolle noch etwas existiert und das Ich lebt und dich liebt.“

Da sitzt im Irrenhaus ein Mann, der sich einbildet, der Weltenschöpfer zu sein. Enttäuscht von seiner Schöpfung führt er Selbstgespräche: „Aber dies winzige Stäubchen, dem ich einen lebendigen Athem einbließ und es Mensch nannte, ärgert mich wohl hin und wieder mit seinem Fünkchen Gottheit, das ich ihm in der Übereilung anerschuf, und worauf es verrückt wurde. (…) Beim Teufel! Ich hätte die Puppe ungeschnitzt lassen sollen! – Was soll ich nur mit ihr anfangen? – Hier oben sie in der Ewigkeit mit ihren Possen herumhüpfen lassen?“

… und noch viel mehr dergleichen. Alles zusammengehalten durch einen menschenfeindlichen Nachwächter als Erzähler.

Und all das gemacht – wie man heute weiß – vom besten Theater-Macher seiner Zeit: August Klingemann. Dessen Faust-Drama vor Goethes gespielt wurde, der Goethes Faust uraufführte und mit zahlreichen Aufführungen beider Varianten des Stoffs Theater-Geschichte schrieb.

Und was sagen uns die Nachtwachen?

„Die Frage scheint auf eine merkwürdige und verwirrende Weise, die indessen gerade zum Reiz des Buches beitragen mag, ins Leere zu führen, in eine Leere ähnlich der, von der im Buch selbst (…) die Rede ist. Man hat das Gefühl, eine Maske nach der anderen, Zwiebelschale auf Zwiebelschale gleichsam abzuziehen (…). Larve, Rolle und Schauspiel werden zu Metaphern für ein krisenhaftes Verhältnis des Ichs zur Wirklichkeit und zu sich selbst, indem es, auf sich reflektrierend, in der eignen Tiefe bald alles, bald nichts findet“, so Jost Schillemeit. Mehr zu den „Nachtwachen von Bonaventura“ hier…
Gelesen habe ich die Ausgabe des Inselverlags mit einem guten Nachwort von Jost Schillemeit und Illustrationen von Lovis Corinth, auf die sich gut verzichten läßt.

Die Oden. Horaz

Einige Autoren – wie zum Beispiel Haruki Murakami, der Autor des letzten Beitrags – werden hoch gehandelt und sogar für den Literatur-Nobelpreis diskutiert. Würde ich das noch erleben können, wäre ich gespannt, welche Rolle er in 50 Jahren noch spielen wird. Andere Autoren haben den Test der Zeit, sogar der Jahrtausende schon hinter sich, und behaupten sich unverdrossen. Einer hiervon ist sicherlich der römische Dichter Quintus Horatius Flaccus, kurz: Horaz.

Horaz lebte – siehe der fotografische Beleg – von 65 bis 8 vor unserer Zeitrechnung, und ist einer der wichtigsten Dichter der Zeit von Kaiser Augustus.  Seit damals ist Horaz beliebt und gefürchtet als Quelle lateinischer Zitate. Wenig ist vor ihm sicher, und vor wenigem er selbst. Als generelle Lebensmaxime, Name von Unternehmensberatungen sowie von Pflegeshampoos ist sein „carpe diem“ immer noch im Einsatz.

Und sogar Reifen lassen sich mit Horaz anscheinend besser verkaufen.

Neben Satiren und den sogenannten Epoden sind die Oden das Hauptwerk von Horaz. Geschrieben im Jahr 23 sind sie sprachlich am ausgefeiltesten und hatten bis heute den größten Einfluss vor allem auf  die westliche Literatur und Kultur. Sie sind der Inbegriff klassischer Dichtung. Und sie sind so allgemeingültig und so auf den Punkt geschrieben, dass sie auch heutigen Lesern ohne Weiteres zugänglich sind.

Als Beispiel möchte ich die 9. Ode des ersten Buches nehmen, da sie jahreszeitlich besonders gut passt und recht typisch für die Oden ist:


Permitte Divis caetera: qui simul
Stravere ventos aequore fervido
   Deproeliantis, nec cupressi,
       Nec veteres agitantur orni.
Quid sit futurum, fuge quaerere; &
Quem fors dierum cumque dabit, lucro
   Adpone: nec dulcis amores
       Sperne puer, neque tu choreas.
Donec virenti canities abest
Morosa; nunc & campus, & areae,
   Lenesque sub noctem susurri
       Conposita repetantur hora:
Nunc & latentis proditor intimo
Gratus puellae risus ab angulo;
   Pignusque dereptum lacertis,
      Aut digito male pertinaci.

Die „Lateinoase“ (die gibt es! und man kann sich dort ganz gut aufhalten!) übersetzt:
„Siehst du, wie der durch hohen Schnee strahlende Soracte dasteht und wie die sich abmühenden Wälder die Last nicht mehr aushalten und wie die Flüsse von scharfer Kälte erstarrten?
Vertreibe, reichlich Holz auf den Herd legend, den Frost und hole, o Thaliarch, freigiebiger den vier Jahre alten Wein im Sabinerkrug hervor.
Gestatte das andere den Göttern. Sobald sie die kämpfenden Winde auf dem tosenden Meer beruhigt haben, werden weder die Zypressen noch die alten Bergeschen hin- und herbewegt. 
Vermeide es zu fragen, was morgen sein wird, und was das Schicksal dir auch immer an Tagen gewähren wird, nimm es als Gewinn und verachte nicht die süßen Liebschaften, Junge, nicht die Reigentänze, 
solange das launische Greisenalter fern der Jugend ist. Bald mögen Feld, Flächen und leises Geflüster in der Nacht zu geregelter Stunde gesucht werden, 
bald das willkommene Lächeln als Verräter des sich versteckenden Mädchens vom geheimen Winkel und das ihren Armen oder ihrem kaum beharrlichen Finger entrissene Pfand.“

Die Übersetzung ist sehr wörtlich und gymnasial hinreichend mindestens für ein „gut“. Sie gibt sich Mühe. Gute Dichtung ist sie nicht. Aber das ist vielleicht eines der Haupthemmnisse für Horaz: Er lässt sich nicht wirklich überzeugend übersetzen (ähnlich wie klassische chinesische Gedichte). Zu viel geht verloren. Das Versmaß mit seinen Längen und Kürzen in Kombination und Reibung zur normalen Betonung der Worte, das im Deutschen immer als Hebungen und Senkungen im Einklang mit der Wortbetonung widergegeben wird: fad und platt und plump mit seinem dammda-dammdada-dammda-damm. Die freie und damit absichtsvolle Stellung der Worte, die die Bestandteile eines Satzes kunstvoll und nuancenreich ineinander verweben kann, funktioniert im Original problemlos, lässt sich jedoch im Deutschen überhaupt nicht nachbauen, ohne gestelzt, vollständig obskur oder beginnend verrückt zu wirken (wer so etwas einmal lesen möchte, ist mit der Horaz-Übersetzung von Bernhard Kytzler bei Reclam bestens bedient). Und wenn man das Gedicht anders, freier nachdichtet? Dann ist es nicht mehr von, sondern nach Horaz.

Ein guter Grund also, die Lateinkenntnisse wieder auszugraben (oder neu anzulegen?) – der ästhetische Genuss ist es wert. Nicht nur zu Weihnachten oder wenn Schnee liegt.

Naokos Lächeln. Haruki Murakami

Vor fast 30 Jahren, 1987, erschien der fünfte Roman von Haruki Murakami, sein Titel: ノルウェイの森 (Noruwei no mori), auf Englisch: Norwegian Wood, auf Deutsch: Naokos Lächeln. Dieses Buch etablierte den Ruhm und die Verehrung Murakamis bei der (nicht nur) japanischen Jugend.

Sinn und Unsinn deutschsprachiger Buchtitel kommentiere ich in diesem Fall nicht. Nur soviel: Der Bezug auf das gleichnamige Lied der Beatles erschließt sich auf japanisch und englisch unmittelbarer.

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Murakami, geboren 1949, ist ein Garant hoher Verkaufszahlen. Seine Romane sind in mehr als 50 Sprachen übersetzt, etliche verfilmt; er selbst ist vielfach preisgekrönt. Artikel auf Wikipedia über ihn gibt es sogar in fast 70 Sprachen – hier der Link zu einer ebenso kurzen wie graphisch gelungenen Variante für all diejenigen, die einmal eine neue Sprache ausprobieren wollen.

In diesem Roman geht es um Verlust, Orientierungslosigkeit, Beziehungen, vielleicht um Liebe, jedenfalls um Sex, auch Selbstmord im Japan der späten 60er Jahre.

Murakami schreibt flott, eher umgangssprachlich (zumindest in der Übersetzung) und unprätentiös. Die Atmosphäre ist oft etwas surreal und leicht geheimnisvoll. Er verwendet meist einen nicht-allwissenden Ich-Erzähler. Rückblenden sind ein sehr beliebtes Element. Sexszenen werden relativ regelmäßig, ohne dabei in irgendeiner Weise sparsam zu sein, eingestreut.

Ich muss gestehen, bei mir ist kein Funke übergesprungen. Zu lässig geschrieben, zu lang, zu flach und platt, zu sehr auf Wirkung ausgerichtet, zu wenig spannend, die Charaktere trotz vieler Details zu scherenschnittig und durchsichtig. Dass Murakami angeblich immer wieder für den Literatur-Nobelpreis gehandelt wird, erschließt sich mir nur aus den Verkaufszahlen. Andererseits: Vielleicht sind seine anderen Werke deutlich besser. Oder: Es geht gar nicht um literarische Qualität. Und auch: Ich kann es nicht beurteilen, denn ich habe den Roman nicht bis zum Ende gelesen….

Eine beliebige, aber durchaus typisch-seicht-plätschernde Leseprobe aus der englischen Übersetzung (in der ich gelesen habe):
„Reiko gave a deep sigh (…), then folded her hands on her knees.
‚This will be your bed,‘ she said, patting the sofa. ‚We’ll sleep in the bedroom, and you’ll sleep here. You should be all right, don’t you think?‘
‚I’m sure I’ll be fine.‘
‚So, that settles it,‘ said Reiko. ‚We’ll be back around five. Naoko and I both have things to do until then. Do you mind staying here alone?‘
‚Not at all. I’ll study my German.‘
When Reiko left, I stretched out on the sofa and closed my eyes. I lay there steeping myself in the silence (…).“

Keine Empfehlung also. Wird aber den Bestseller-Zahlen nicht schaden.

Josiah Wedgwood – Entrepreneur to the Enlightenment. Brian Dolan

Wedgwood? Das sind doch diese kitschigen englischen Väschen und Tellerchen, oder?

„Wedgwood“ war einmal DAS Porzellan (eigentlich Keramik) für Europa, für Amerika, für Russland. Königinnen und Zarinnen, Adelige und Wohlhabende in fast aller Herren Länder wollten Wedgwood. Und waren bereit, sehr viel Geld dafür zu zahlen. Wie kam das?

Das Buch von Brian Dolan zeichnet nach, wie ein Junge aus einer eher ärmlichen Familie zu einem hochgeachteten, berühmten und reichen Töpfer werden konnte, der fast 300 Menschen in seinem Werk beschäftigte.

Wer war Josiah Wedgwood?

Josiah Wedgwood (1730 – 1795) war ein englischer Töpfer und Geschäftsmann, Gründer der Wedgwood Company. Er gilt als Erfinder der industriellen Fertigung von Töpferwaren  durch Arbeitsteilung und auf diese Weise stark reduzierten Produktionskosten. Seine Erfindungen weckten Begeisterung bei Kunden und wurden rasend schnell – wo immer möglich – von seinen Konkurrenten kopiert.

Was zeichnte Josiah Wedgwood aus?

Wedgwood glaubte als Mitglied einer reform-protestantischen Minderheit daran, dass die Erforschung der Natur ihre tiefe Würdigung als Gottes Schöpfung darstellt. Er sah unternehmerischen Erfolg als Verantwortung zur Förderung des Gemeinwesens.

Erfindertum

Wegdwood war nicht nur ein hervorragender Töpfer, er war auch ein systematischer, kreativer Erfinder. In den Nächten experimentierte er mit Metallen, um unterschiedliche Glasur-Effekte zu erzielen, mit Brenntemperaturen, Ton-Zusammensetzungen und neuen Formen. Seine Experimente hielt er in seinen Notizbüchern in Code fest.

Marketing-Geschick

Fast scheint Wedgwood geahnt zu haben, was seine Klientel wünschen können müsste. Alle Ansatzpunkte verfolgte er mit Methoden, die sehr modern wirken. Schaufenster-Gestaltung, Produkt-Zyklen und Testimonials bekannter Personen: All dies setzte er ein.

Glück

Wedgwood hatte Glück – und hat dieses am Schopf gepackt: Seine Frau Sarah Wedgwood sah sich als Unternehmer-Frau, er fand in der Lunar Society Freunde, die eine bessere Ausbildung genossen hatten und seine Ideale teilten, er erfüllte die ausgefallenen Wünsche mächtiger Kunden.

Meilensteine

Helles Steingut in der Farbe von Porzellan

Wedgwood erfand eine Glasur, die – bis dahin in einzigartiger Weise – Geschirr fast weiß und ebenmäßig glatt aussehen ließ. Die Keramik wirkte fast wie Porzellan. Hiervon ließ sich auch Königin Charlotte begeistern. Danach die russische Zarin.

Jasper-Ware

 Eine sehr erfolgreiche Erfindung Wedgwoods war ein durchgefärbter, matter Ton. Auf diesen konnte er außerdem hauchdünne weiße Schichten aufbringen. Beliebt waren Kannen, Tassen, Schmuck, aber auch Schuhschnallen aus diesem Material.

Dekorative Vasen

Wedgwood nutzte die Begeisterung der Adligen und akademisch Gebildeten für die Antike, indem er klassizistische Motive verwendete. Außerdem: Als er bemerkte, wie groß die Leidenschaft für antike Vasen wurde und wieviel Geld Sammler für diese ausgaben, hatte er die brilliante Idee, extrem hochwertige dekorative Vasen herzustellen. Sein Coup war die Kopie einer römischen Glasvase, die sogenannte Portland Vase (Foto rechts). Wedgwoods Kopien von dieser waren eine Sensation. Mehr Publicity geht nicht.

Buchbeschreibung: „An intriguing examination of the life and times of Josiah Wedgwood, potter to the Queen, and an Enlightenment pioneer. Brian Dolan combines the remarkable story of Josiah Wedgwood, the English potter whose works are among the finest examples of ceramic art, with the story of the 18th-century world of industry, fashion and connoisseurship.“

Ein tolles Buch!

Triumph der Musik. Tim Blanning

Eine der deutschen Ausgaben hätte einen fast abschrecken können: Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann. Wahrscheinlich kein besonders substanzielles Buch. Eher etwas Leichtes, Schmökeriges. Wie ist denn Tim Blanning an Elke Heidenreich geraten? Und dann auch noch der Titel: „Triumph der Musik“. Hätte fast Rosamunde Pilcher so titulieren können. Oh je. Lieber nicht kaufen.

Aber ich habe diese deutsche Ausgabe erst entdeckt, als ich die englische schon gelesen hatte.

Der deutsche Klappentext trifft den Inhalt gar nicht schlecht: „Wie kommt es, dass Mozart, eines der größten musikalischen Genies, wie ein lästiger Parasit behandelt wurde und völlig verarmt starb, während sich Politiker heute Rat bei U2-Sänger Bono holen und Opernsänger Spitzengagen bekommen? Der renommierte britische Historiker Tim Blanning zeichnet den unglaublichen Aufstieg des Musikers und seiner Kunst vom Barock bis heute nach. Welche gesellschaftlichen, politischen und technischen Neuerungen haben bewirkt, dass die Musik vom kirchlichen und höfischen Beiwerk ins Zentrum einer Massenkultur gerückt ist, deren unangefochtene Protagonisten – weit über den Persönlichkeitsstatus eines Richard Wagner und Franz Liszt hinaus – heute Popstars wie Paul McCartney sind? Reich an Fakten, Anekdoten und verblüffenden Querverweisen ist Blanning eine informative, lehrreiche und höchst unterhaltsame Kultur- und Sozialgeschichte der Musik gelungen.

Also doch ein ausgezeichnetes Buch? Auf demselben hohen Niveau wie Blannings Bücher über Friedrich den Großen und über die Epoche von 1648 bis 1815?
Gut schon, ausgezeichnet eher nicht. Bei aller Brillanz im Einzelnen und auch bei aller umfassenden Belesenheit von Blanning, drei Haken hat das Buch für mich:

  • Blanning beschreibt den Aufstieg der Musik anhand von fünf Elementen: Status, purpose, places and spaces, technology, liberation. Jedem dieser Elemente widmet er ein Kapitel, in dem er dann chronologisch vorgeht, immer von 1700 bis heute. Fünf mal von 1700 bis heute ist aber anstrengend, etwas repetitiv und behindert Blanning darin, die Querbezüge zwischen den fünf Elementen herauszuarbeiten.
  • Vielleicht auch wegen dieses gewählten Buchaufbaus bleibt Blanning oft ungewohnt seicht und hastet gleich wieder weiter. Aspekte werden angerissen, Anekdoten erzählt, aber immer leicht vordergründig.
  • Nicht zuletzt: Die Linie steigt zu ungebrochen, zu triumphalistisch, zu glorios. Von Beethoven bis Bono, von Mozart bis Madonna, von Haydn bis Hip-Hop, von Stradivari bis Stratocaster, die Bedeutung der Musik wächst und wächst, der Triumph wird immer vollkommener, die anderen Künste bleiben mehr und mehr zurück. Sogar die Politik räumt der Musik das Feld.

Auch andere sind nicht durchgehend euphorisch, bei allem verdienten Lob für das Buch, so etwa der Guardian und der Telegraph. Der Telegraph bemerkt aber auch anerkennend: „It may (…) be the only work written by a Cambridge professor to include a comparative description of The Rubadubbers and Bob the Builder“ und  bezeichnet das Buch als „extraordinarily wide-ranging and stimulating“.

In Sachen Anekdoten ein Auszug über die Liedtraditionen der Franzosen während Ludwig XIV.:
„Especially during the glory days of Louis XIV’s reign (1643-1715), there were so many songs celebrating his latest triumphs as to constitute a musical history of his campaigns, as their self-explanatory titles reveal: ‚On the Second Capture of Besançon during the Months of April and May 1674‘ (…). Some songs even criticised the conduct of the war. The duc de Luxembourg cannot have enjoyed hearing ‚On Henry de Montmorency-Luxembourg Who Did Not Hurry Himself Enough to Help Philippsbourg in 1676‘, for example. The most durable proved to be ‚Marlborough Goes to War‘ (Marlborough s’en va-t-en guerre), sung to the tune of ‚For He’s a Jolly Good Fellow‘.
Da kann man als Leser und Leserin gleich mit den Franzosen mitsummen.

In Summe und trotz der genannten Haken: Gut und flott geschrieben, kenntnisreich, ohne gelehrt zu wirken; man lernt viel dazu, erhält ungewohnte Perspektiven, wird zum Denken (und Musik-Hören) angeregt. Ideal als Weihnachtsgeschenk. Passt also schon gar nicht so schlecht: Edition Elke Heidenreich.

 

 

Outsider II. Brian Sewell

Den ersten Teil der Autobiographie von Brian Sewell, einem sehr einflussreichen britischen Kunsthistoriker und -kritiker, hatte ich schon an anderer Stelle besprochen. Damit es nicht bei einem halben Leben bleiben muss, folgt dieses Mal der zweite Teil, von Sewell auch so betitelt: „Outsider II, always almost, never quite“.

Diese Fortsetzung fängt für mein Empfinden etwas schwach, umständlich und langweilig an. Wahrscheinlich hat sich auch Sewell beim Schreiben ziemlich gequält,  bis endlich Kapitel 8 hinter ihm lag, in dem er sich mit der Blunt-Affäre und seiner eigenen Rolle darin beschäftigt. Ein Autobiograph, der sich volle, ungeschönte Wahrhaftigkeit beim Schreiben als Maßstab gesetzt hat, kann an diesem Kapitel nur scheitern. Und das sah Sewell sicherlich kommen. Scheitern tut er und das Kapitel auch, aber nicht kläglich, sondern durchaus anständig.

Blunt, hier im Bild, war ein Miglied der sogenannten „Cambridge Five“, die als Mitglieder des britischen Geheimdienstes und auch der CIA bis in die 50er Jahre die Sowjetunion mit Informationen versorgten und als erfolgreichste Agenten in westlichen Nachrichtendiensten gelten. Der Roman „Dame, König, As, Spion“ von John le Carré, den wahrscheinlich viele gelesen haben,  befasst sich ebenfalls mit der Affäre.

Sewell war ein Student von Blunt am Courtauld-Institut und danach ein Freund, der auch nach Blunts Enttarnung auf beträchtliches eigenes Risiko weiter zu ihm hielt, ohne mit der Sowjetunion und Blunts Spionage-Tätigkeit zu sympathisieren. Sewells eigene Karriere als Kunsthändler war anschließend irreparabel beschädigt.

Gerne gelesen habe ich die Biographie allerdings erst nach diesem Kapitel, wenn er über seine Zeit als Kunstkritiker schreibt, über sein schwieriges Verhältnis zu seiner Mutter, über seine Erfahrungen mit dem Fernsehen und auch über seinen zunehmend klapperigen und kranken Körper, dessen Herz nach und nach seinen Dienst verweigert. Dies sind die Kapitel, in dem die ungeschönte Offenheit Sewells am Besten zur Wirkung kommt.

Wie immer hält Sewell seine Garantie für gute Zitate und Anekdoten. Als Kunstkritiker des London Evening Standard machte sich Sewell wenig Freunde, hatte aber eine Zeit lang einen Herausgeber, der ihm den Rücken freihielt. Dieser Herausgeber schrieb, als sich der Stabschef des Erzbischofs von Canterbury beschwerte:
„Brian Sewell is indeed intemperate … In recent months I have dealt with outraged correspondences about his column from assorted Zionists, art dealers, Scots, Jews and so on. If there is any section of society he has so far failed to take on, I am sure that he will soon remedy the deficiency. It is probably fair to say that dogs are the only people for whom he feels unqualified enthusiasm … I am sure the Archbishop is quite grown-up enough to take the view that if the likes of Brian Sewell are capable of stoking up fires too hot for him to bear, then he is likely to find the going very tough in the afterlife.“