Die irische Aeneis. Übersetzt von George Calder

Wieder ein Beitrag aus der Serie obskurer Werke aus Irland. Irgendwann vor 1400 entstand in Irland eine der frühesten Adaptionen der Aeneis von Vergil in eine einheimische Sprache überhaupt. „Übersetzung“ wäre falsch, denn die Aeneis, auf Irisch „Imtheachta Aeniasa“ oder die „Fahrten des Aeneas“, wurde tatsächlich ver-irisch-t.

Aufgeschrieben ist dieses Werk im sogenannten Book of Ballymote, in dem sich auch andere klassische Werke in irischer Verkleidung wiederfinden, unter anderem eine äußerst faszinierende, ebenfalls sehr irische Version der Odyssee.

Es gibt eine ganze Reihe von Aspekten, die dieses Werk sehr interessant machen. Da ist zunächst wie erwähnt der sehr frühe Zeitpunkt der Adaption irgendwann im 14. Jahrhundert. Obwohl Dichtung in Irland weit verbreitet und gut etabliert war, wählte der Verfasser keine irischen Hexameter, sondern eine Prosaübertragung, eventuell um einen historisch-faktischen Charakter der Aeneis zu betonen.

Vor allem aber sticht die „Irisierung“ hervor.

Ein Keltologe, Edgar Slotkin, hat die Verfahrensweise des Verfassers so beschrieben: „His concern was not so much a translation from one language to another but from one culture to another (…) The Irish Aeneid is periphrastic. Words are not fixed, but nothing essential is omitted. (…) The substantial additions the translator made to the original are (…) not new themes or content, but native elaborations on content which he encountered there.“ Ein anderer Keltologe, Erich Poppe, beschreibt die irische Aeneis „as the product of the fusion of a developed vernacular stylistic and narrative tradition with a learned and historiographical interest in events of classical antiquity. (…) Imtheachta Aeniasa can tell its modern readers much about the mentality and interests of its medieval Irish audience, precisely because it departs characteristically from its source.“

Sprachlich macht sich die Irisierung dadurch bemerkbar, dass der Verfasser in bestem irischen Sagenstil schreibt: Die Vergil’schen Epitheta und Vergleiche verschwinden. Statt dessen finden sich viele Alliterationen und Aneinanderreihungen von wohlklingenden Synonymen. Auch gibt es die für irische Sagen typischen, etwas barock und floral anmutenden Beschreibungen von handelnden Personen.

Hierfür lohnt es sich, einige Beispiele zu geben.
Für die Beschreibung eines aussichtslosen Plans:
„is lam a nead nathrach, is lua fri broth & lem chind fri hall“,
auf Englisch: „it is a hand in a nest of serpents, it is a kick against goads and a dash of a head upon a rock“

Für  Alliterationen bei der Beschreibung von Personen:
„Ba suairc sochraidh sognimach saerchlanda socheniuil in ingen sain“,
auf Englisch: „That daughter was gentle, of beautiful form and good actions, free-born and noble.“

Und für eine längere Passage eine Beschreibung von Aeneas bei seiner ersten Begegnung mit Dido, nur in Englisch, wobei manche englische Worte etwas unpassend wirken – hierfür kann aber das irische Original nichts:
„Pleasant, comely, lovely, and well-born was the hero that came there – fair, yellow, golden hair upon him; a beautiful ruddy face he had; eyes deep-set, lustrous in his head like an image of a god, the expression which Venus, his mother, with love’s splendour, threw into his face, so that whoever looked upon him should love him.“

Gelesen habe ich die 1907 erstmals erschienene irisch-englische Ausgabe von George Calder, die recht gut als Nachdruck zu bekommen ist. Interessant ist der Text allemal. Sonst hätte ein anderer irischer Dichter, Seamus Heaney, nicht auch eine Übersetzung der Aeneis versucht.

How architecture works: A humanist’s toolkit. Witold Rybczynski

An anderer Stelle habe ich ein Buch über Andrea Palladio von Witold Rybczynski empfohlen. Allerdings: Nicht immer schreibt man auf demselben Niveau. Sein Buch „How architecture works“, ebenfalls mit – allerdings deutlich breiterem – Fokus auf Architekturgeschichte, ist eine Enttäuschung.

How Architecture Works: A Humanist's Toolkit von [Rybczynski, Witold]

Warum? Weil das Buch nichts von dem hält, was der Titel verspricht. Jedenfalls nicht bis zu der Seite, auf der ich dann ermattet das Lesen beendet habe (und ich war wirklich recht tapfer und lange dabei….). Der Grad an Abstraktion, um erklären zu können, wie Architektur funktioniert, wird nie erreicht, ein Toolkit nie abgeleitet. Statt dessen viele Details zu vielen Gebäuden und vielen Architektenbüros mit viel zu wenigen Illustrationen, von denen viele obendrein nicht das Gewünschte illustrieren.

Da mag ich auch nichts zitieren…

Schade, schade. Lag’s am Verlag? Zu wenig Zeit und Muße? Anspruch zu hoch geschraubt? Zu sehr vom vergangenen Erfolg verwöhnt?

Dennoch: Sein Buch über Palladio ist tatsächlich ausgezeichnet.

The dream of reason: A history of Western philosophy from the Greeks to the Renaissance. Anthony Gottlieb

Lesbar und verständlich, überhaupt nicht flach, voller Einsichten, macht Spaß. Sieht nach ziemlich voller Punktzahl aus für den ersten Teil der Philosophiegeschichte von Anthony Gottlieb, der den Zeitraum von der griechischen Antike bis zur Renaissance umfasst.

Gottlieb denkt gerne selbst, hat Humor und kann schreiben. Das hat ihm schon dabei geholfen, Executive Editor des Economist und Gast-Fellow in Harvard und Oxford zu werden/zu sein. Das hilft dem Leser und der Leserin, sich mit  Anaxagoras, Sextus Empiricus, Duns Scotus und Pico della Mirandola genussvoll zu beschäftigen.

Beeindruckend, wie Gottlieb den Überblick behält zwischen den verschiedenen Philosophenschulen, ihren Spielarten, Vertretern, Nachfolgern, Gegnern, wie er Entwicklungslinien bis in die Gegenwart aufzeigt und nicht zuletzt, wie er immer wieder die Relevanz von Philosophie für die Naturwissenschaften, für die Technik, für das heutige Leben aufzeigt.

Das Vergnügen beginnt schon mit der Einleitung und dort im ersten Absatz: „The last thing I expected to find when I began work on this book, many years ago, is that there is no such thing as philosophy. Yet that, more or less, is what I did find, and it explained a lot. Determined to forget what I thought I knew, I set out to look at the writings of those from the past 2,600 years who are regarded as the great philosophers of the West. My aim (politely described by friends as ‚ambitious‘ when they often meant ‚mad‘) was to approach the story of philosophy as a journalist ought to: to rely only on primary sources, wherever they still existed; to question everything that had become conventional wisdom; and, above all, to try and explain it all as clearly as I could.“

Aristoteles fand ich persönlich immer etwas sperrig und spröde und abschreckend. Noch nie habe ich einen so guten Überblick über ihn bekommen wie in diesem Buch. Gottlieb hat es geschafft, dass ich fast (aber nur fast) einmal wieder etwas von ihm im Original lesen möchte.
Für über 1600 Jahre war er nicht nur in Philosophie und Logik – for better, for worse – das Maß der Dinge. Gottlieb:
„If Aristotle had never existed, it would be pointless to try to invent him. Nobody would believe that there could have been such a man, and quite right too. (…) his surviving works run to almost one and a half million words. There is good reason to think that this is no more than a quarter of what he wrote; all of his works that were polished for publication have been lost (…). Any credible description of the impressiveness of his work would be an Understatement. (…) The surviving works (…) include books dealing with ethics, political theory, rhetoric, poetry, constitutional history, zoology, meteorology, astronomy, physics, chemistry, scientific method, anatomy, the foundations of mathematics, language, formal logic, techniques of reasoning, fallacies, and other subjects (…)“

Unter den Philosophiegeschichten definitiv ganz weit vorne dieses Buch. Und auch der Folgeband scheint gelungen, wenn man den Rezensionen Glauben schenkt.

 

 

 

Abhandlung über das erste Prinzip. Johannes Duns Scotus

Kölner Lokalpatriotismus ist heute an der Reihe. Angedroht hatte ich ihn unauffällig schon an anderer Stelle. Thema also: Ein Hauptwerk von Johannes Duns Scotus, seine „Abhandlung über das erste Prinzip“, auf Latein „Tractatus de primo principio“.

Johannes Duns Scotus lebte in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Geboren in Schottland wurde er Franziskaner, starb mit etwa 40 Jahren und fand seine letzte Ruhestätte in Köln. Simple Quizfrage also für Kölner und Franziskaner: In welcher Kirche befindet sich sein Grabmal? Natürlich in der Minoritenkirche!

Leicht hatte er es also nicht immer, der Duns Scotus…

Andererseits hat er es seinen Lesern auch nicht leicht gemacht. Nicht nur sind seine Werke wegen der wohl auch für ihn überraschenden Kürze seines Lebens alle unvollständig und unfertig geblieben. Auch sollte man Logik, Metaphysik und Scholastik schon mögen, um jede Feinheit richtig goutieren zu können.

Für Einsteiger beschränke ich mich in Anbetracht der Außentemperaturen von aktuell über 30° auf zwei Aspekte. Der eine wird Unternehmensberater vor allem von McKinsey und deren Kunden interessieren. Der andere ist von allgemeinem Interesse und kann auch beim Hühnchen-Grillen im Freundes- und Familienkreis bedenkenlos zum Besten gegeben werden.

Wer McKinsey kennt, kennt MECE: „mutually exclusive, collectively exhaustive“. Das braucht man, um komplexe Themen trennscharf und vollständig in ihre Bestandteile zu zerlegen, die man dann anschließend der Reihe nach bearbeitet. Duns Scotus hat das zwar nur von Aristoteles gelernt, aber prägnant formuliert:
„Manifestatio vero divisionis tot requirit: primo, ut dividentia notificentur et sic ostendantur contineri sub diviso; secundo, ut dividentium repugnantia declaretur; et tertio, ut probetur dividentia evacuare divisum.“
Man merkt schon hier: Duns Scotus hat drei Kriterien, McKinsey nur zwei – da ist den Kollegen die Unterteilung nicht vollständig gelungen, also nicht MECE…
Auf deutsch in der Übersetzung von Wolfgang Kluxen (dessen Ausgabe ich – allerdings nur in Teilen – gelesen habe), die allerdings weniger klar ist als das Original:
„Die Darlegung einer Einteilung erfordert nun folgendes: Erstens, die Einteilungsglieder sind (begrifflich) zu bestimmen und von daher ist zu zeigen, daß sie im Eingeteilten enthalten sind; zweitens, es ist darzutun, daß die Einteilungsglieder sich ausschließen; und drittens, es ist nachzuweisen, daß die Einteilungsglieder das Eingeteilte ausschöpfen.“

Jetzt zum allgemein Interessanten: Was war zuerst, die Henne oder das Ei?
Als Scholastiker kann man diese Frage tatsächlich schlüssig beantworten, und zwar unabhängig davon, welche „ordo“, also welche Ordnung man verwendet, die des Vorranges oder die der Abhängigkeit (für die Grillparty: „ordo eminentiae“ oder ordo dependentiae“). Nach der Ordnung des Vorranges kommt die Henne zuerst, denn „was immer dem Wesen nach vollkommener und vorzüglicher ist, ist in diesem Sinne früher.“ Nach der Ordnung der Abhängigkeit gewinnt ebenfalls die Henne, denn ohne Henne wird aus dem Ei kein Huhn schlüpfen (zumindest nicht im relevanten Damals, als es noch keine Brutautomaten gab): Das Ei ist vom Huhn abhängig, nicht umgekehrt. Auf scholastisch:
„Prius secundum naturam et essentiam est quod contingit esse sine posteriori, non e converso.“ Oder: „Der Natur und dem Wesen nach früher ist, was wohl ohne das Spätere sein kann, nicht aber umgekehrt.“

So dass wir das jetzt auch endlich geklärt haben.

Das vollkommene Haus: Eine Reise mit dem italienischen Renaissance-Baumeister Andrea Palladio. Witold Rybczynski

Wenn ich „Das vollkommene Haus“ von Witold Rybczynski im Zusammenhang mit Andrea Palladio schon empfehle, dann kann ich das natürlich auch etwas ausführlicher tun.

Bas Buch verspricht „eine Reise mit dem italienischen Renaissance-Baumeister Andrea Palladio“. Das ist eine kolossale Untertreibung: Es sind in Wahrheit ganz viele sehr unterschiedliche Reisen, die Rybczynski kunstvoll miteinander verbindet, um ein sehr mehrdimensionaler Bild der Villen von Palladio entstehen zu lassen. Da gibt es die physische Reise, die den Autoren tatsächlich nach Norditalien geführt hat. Eine Reise durch die Entwicklung von Palladios Architektur verbunden mit dessen Biographie ist außerdem dabei, denn er beginnt mit einer der frühesten Villen, der Villa Godi, und endet mit der spätesten, der Villa Rotonda (eine Coda über die Villa Saraceno nicht mitgerechnet…). Nebenbei berührt er dabei auch die anderen Gebäudetypen, die Palladio errichtet hat. Nicht zu vergessen eine Fahrt durch die Architekturgeschichte von der Antike bis zu den Echos Palladios in der zeitgenössischen Architektur, die zugleich eine Weltreise ist. Ach so, ein sozialgeschichtliches Panorama wird nebenbei auch noch aufgespannt. Und vielleicht ist noch eine autobiographische Reise ist mit dabei.

Auf all diese Reisen begibt sich Rybczynski mit schlenderndem Gang, genüsslich schweifendem Blick, mußevoller Reflexion, humorvoll-plauderndem Ton und viel Sensibilität. Es reist sich leicht mit ihm.

Ebenso intuitiv wie überraschend ist der Ansatz Rybczynkis, dass die Villen Palladios ganz wesentlich zum Bewohnen gebaut wurden. Dieser Bewohnbarkeit von Gebäuden mit teils fast 10 Meter Deckenhöhe, palastartigen Portikus und anderen eher Distanz auslösenden Elementen spürt er nach. Daher betritt er auch Untergeschosse, die als Wirtschaftsräume genutzt wurden, klettert ins Obergeschoss, das als Getreidespeicher genutzt wurde und entdeckt, dass auf dem Bauplan einer Villa auch Toilettenräume eingezeichnet sind. Er vermisst die Proportionen der Räume, der Säulenstellungen, der Gebäude. Er lässt Raumfolgen auf sich wirken. Er bewohnt für mehrere Tage eine Villa mit Freunden. Sein Fazit ist der Buchtitel. Villen Palladios lassen sich für ihn beschreiben als „das vollkommene Haus“.

Es ist ein Gewinn, dass Rybczynski mit Sprache umgehen kann und auch abstraktere, technische Überlegungen  und Beschreibungen sehr plastisch werden lässt (und verdaubar macht). Ein Beispiel  zur Basilica in Vicenza:

„Goethe bezeichnete die Architektur als verstummte Tonkunst, was dieses außergewöhnliche Bauwerk gut beschreibt. Ich weiß nicht, welche Art von Musik Goethe hörte, als er die Basilika sah, aber ich höre Percussion – den großen Jazz-Drummer Philly Joe Jones, mein Jugendidol. Die hohen Halbsäulen bilden den stetigen Rhythmus der bass drum, den Palladio betont, indem er das extrem breite Kranzgesims durchbricht und über jedem Kapitell verkröpft. Die Statuen, die jede Halbsäule in Attikahöhe bekrönen, setzen einen hohen Beckenschlag. Die beiden Arkadengeschosse weisen leicht unterschiedliche Rhythmen auf, das römisch-dorische Untergeschoss ist mit seinem stakkatoartigen Fries stärker artikuliert, während das ionische Obergeschoss zarter und glatter wirkt. Am Ende des neunjochigen Gebäudes markiert ein Bündel aus drei Halbsäulen (bekrönt von drei Statuen) eine Pause – einen Trommelwirbel -, bevor sich der Rhythmus hinter der Ecke fortsetzt. Die Serlianabögen flechten einen gewundenen Backbeat, durchbrochen vom doppelten Tom-tom-Schlag der Oculi und den Rimshots der Schlusssteine in Markenform oder mascheroni.“

Von allen Büchern über Palladio, die ich bisher in der Hand hatte, hat dieses meine Wahrnehmung  am meisten verändert und am besten beschrieben.

Rybczynski, geboren 1943, ist ein kanadisch-amerikanisch-polnischer Architekt und Professor für Urbanistik. Sein Hauptthema: Wohnen.

Andrea Palladio: The architect in his time. Bruce Boucher

Andrea Palladio – so lässt sich argumentieren – ist der einflussreichste Architekt der westlichen Welt. Mit dieser Aussage startet Bruce Boucher sein Buch über einen Menschen, der von 1508 – 1589 gelebt hat, und dessen Werk.

Erstaunlich und erfreulich viele Gebäude von Palladio sind noch im Veneto und in Venedig erhalten. Vielen ging es die meiste Zeit ihres Bestehens sehr gut, da sie immer wertgeschätzt wurden. Hierzu gehören seine Kirchen in Venedig, die Basilica in Vicenza oder auch die sehr berühmte Villa Rotonda. Etliche – wie die Villa Poiana und die Villa Saraceno – haben sehr von seinem 500. Geburtstag vor acht Jahren profitiert, wurden wieder in einen guten Zustand versetzt und sind nun auch der Öffentlichkeit zugänglich. Einige allerdings warten noch auf Geld und Zuwendung und trotzen tapfer Verfall und Erosion.

Palladio hat sehr substanziell gearbeitet: Seinen Beruf hat er richtig gelernt und mit einer Ausbildung zum Steinmetz begonnen. Die Architektur der Antike hat er studiert sowohl in der Literatur durch Vitruv, aber auch vor allem in der Realität durch Aufenthalte vor allem in Rom, Tivoli, Palestrina. Die Werke seiner Zeitgenossen und unmittelbaren Vorgänger hat er besucht. Er hat sich ein exzellentes Netzwerk an Kontakten zu allen, die Rang und Namen im Veneto hatten, aufgebaut und gepflegt. Seine Gebäude sind sehr sorgfältig und haltbar gebaut. Und er hat seine „Quattro libri“ publiziert.

Dann kam auch noch Glück in Gestalt von Inigo Jones dazu, der die Quattro Libri nach England brachte und damit den internationalen Palladianismus startete.

Einige Gebäude sind auf den ersten Blick beeindruckend. Ikonen der Architektur sind sicherlich die schon genannte Villa Rotonda, die Villa Malcontenta oder auch die Villa Cornaro. Andere Gebäude wirken von außen eher spröde, fast spartanisch, ja sogar erschreckend modern – man betrachte nur die Villa Poiana. Aber spätestens, wenn man in seine Räume hineingeht, ist man beeindruckt von den Proportionen, der einfachen Raffiniertheit seiner Konstruktionen, der offenkundigen Bewohnbarkeit selbst von palastartigen Gebäuden.

Bouchers Buch, erschienen in einer aktualisierten und transportablen Version im Jahr 1998, ist eine Bereicherung. Es ist überaus fundiert biographisch, sozialgeschichtlich, historisch wie architekturhistorisch. Die zahlreichen Fotografien sind spezifisch für dieses Buch entstanden. Und er kann schreiben, so dass auch komplexe Sachverhalte nachvollziehbar werden und sich recht flott lesen. Ein Beispiel:
„Palladio’s contact with classical architecture in the 1540s left him dissatisfied with hand-me-down copies, and even with his first publication, L‘Antichità di Roma, he explained his wish to ‘see with my own eyes and measure everything with my own hands.’ (…) Early evidence of this critical stance can be seen in three drawings of capitals and entablatures from Roman triumphal arches (…). All three were copied from earlier sources and show the capital with its entablature moldings rendered in perspective. Obviously the capitals did not please Palladio because in each case he covered the received version with a second piece of paper on which a more accurate capital has been drawn. In other cases, like a beautiful study of three antique bases, the original ink drawing is supplemented by further measurements and sketches made by the architect some years later.”

Für diejenigen, die sich noch auf andere Art mit Palladio beschäftigen wollen, möchte ich noch ein Buch von Witold Rybczynski empfehlen:

Am besten jedoch macht man sich auf ins Veneto, um die Gebäude von Palladio dort zu sehen und zu erfahren. Vielleicht mit dem Buch von Boucher – in Englisch oder in Deutsch – im Handgepäck.

Hawksmoor. Kerry Downes

Christopher Wren? Kenne ich. St Paul’s in London.
John Vanbrugh? Schon einmal gehört. So Monumentalbauten, oder? Blenheim Palace und so.
James Gibbs? Hat der nicht in Oxford etwas gebaut?
Aber Nicholas Hawksmoor??? Nein, ist mir noch nicht untergekommen.
Bildergebnis für nicholas hawksmoor

Architekturhistoriker hätten wahrscheinlich anders geantwortet, aber auch in diesem Kreis zählt Hawksmoor sicherlich nicht zu den Top-Shots unter den Architekten des britischen Barock. Gelebt hat er von 1661 bis 1736. England verlassen hat er nie. Wren, Vanbrugh, Gibbs? Kennt er, hat er mit gearbeitet.

Drei Umstände haben Hawksmoor um seinen Nachruhm gebracht: Er hat sein Handwerk der Architektur richtig gelernt; und damals waren die Amateur- und Quereinstiegsarchitekten viel besser im Rennen. Er war kein Alpha-Tier und hat den anderen das Rampenlicht gelassen. Nur wenige seiner Komplett-Entwürfe sind gebaut worden und erhalten.

Ikonen englischer Architektur wie Castle Howard, Blenheim Palace, Westminster Abbey, Greenwich Hospital, Radcliffe Camera würden ohne seine Entwürfe, ohne seine Mitarbeit sehr anders aussehen. Das für mich beeindruckendste seiner Werke, Easton Neston, hat man ihm lange Zeit nicht zugeschrieben.

Dabei ist gerade Easton Neston in der Fassadengestaltung und in der Dramaturgie der Raumaufteilung unter den sehr gelungenen Lösungen der Architekturgeschichte sicherlich ganz weit vorne dabei. Einen Eindruck vermittelt ein ausgezeichnetes Porträt dieses Gebäude und seiner Geschichte auf einer DVD von Dan Cruickshanck.

Kerry Downes ist ein ausgewiesener Kenner von Hawksmoor. Er schreibt architekturhistorisch sehr bewandert, gelegentlich vielleicht auch zu kenntnisreich für den Laien. Andererseits schafft er es immer wieder, Dinge sehr prägnant auf den Punkt zu bringen, zum Beispiel zum Unterschied zwischen Hawksmoor und Vanbrugh: „(…) the latter’s Approach to architecture was basically simple whereas Hawksmoor’s may fairly be called basically complex.“
Downes‘ Buch erschien 1969. Dafür ist es gut illustriert. Allerdings würde man ihm die zwischenzeitlich viel besser gewordenen Möglichkeiten heutiger Illustrationen wünschen, um alle Nuancen seiner Analysen und Beobachtungen besser zu verstehen.

Introduction to Sally. Elizabeth von Arnim

Schon an anderer Stelle habe ich Bücher von Elizabeth von Arnim empfohlen. Eine ideale Autorin für warme Sommertage, wenn das Monumentalwerk zur Geschichte der europäischen Scholastik unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses von Duns Scotus und Johannes Scotus Eriugena nicht das richtige ist.

„Introduction to Sally“, erschienen 1926, ist nicht mein Favorit unter von Arnims Romanen, aber ein gutes und gut lesbares Buch ist es allemal. Und da sollte man sich vom Einband der Erstausgabe nicht abschrecken lassen.

Die Titelheldin ist schön. Und schöne Frauen haben es nicht leicht.
Das hat schon Apuleius in der Antike gewusst und im Märchen von Amor und Psyche thematisiert. 1911, also etwas dichter am Erscheinungsjahr von Sally, hat Max Beerbohm in Zuleika Dobson die tragikomischen Aspekte in seinem einzigen Roman verarbeitet – eine Verbindung, die schon in einem anderem Blog aufgegriffen wurde. Und Shaws Pygmalion ist auch nicht weit weg.

Die Titelheldin ist schön. Und schöne Frauen können es weit bringen.
Dafür gibt es mehr Belege, als dass es nötig wäre, Beispiele zu nennen.

In Kombination ergibt das eine klassische Spannungskurve mit Exposition, Katharsis und Peripetie, vor allem aber mit einem Happy End – rechtzeitig zum Sommerabend, wenn dann der Cocktail neben einem steht. Die „dei ex machinis“ sind dabei ein englischer Duke und seine Tochter; seine „machina“ ein Rolls Royce, ihre ein englischer Zug in der ersten Klasse.

Immer wieder beeindruckend sind die witzig-weisen Formulierungen und Charakterisierungen von Arnims, zum Beispiel:
„Mr. Pinner was a God-fearing man, who was afraid of everything, except respectability. He married Mrs. Pinner when they were both twenty, and by the time they were both thirty if he had had to do it again he wouldn’t have. For Mrs. Pinner had several drabacks. One was, she quarrelled; and Mr. Pinner, who prized peace, was obliged to quarrel too. Another was, she appeared to be unable to have children; and Mr. Pinner, who was fond of children, accordingly couldn’t have them either. And another, which while it lasted was in some ways the worst, was that she was excessively pretty.“

The Colloquy with the Ancients. Übersetzt von Standish Hayes O’Grady

Das Hauptwerk des irischen Finn-Zyklus – ein weiterer Beitrag zu einem obskuren, aber dadurch nicht weniger interessanten Werk der irischen Literatur.

Der Finn-Zyklus ist neben dem Ulster-Zyklus – zu dem die schon besprochene Táin Bó Cúailnge gehört – der zweite Hauptkreis von frühen, im Kern vorchristlichen Sagen Irlands. Im Mittelpunkt steht Finn mac Cumail,  der eine Truppe von mehr oder weniger gesetzlosen Jäger-Kriegern, die Fianna (daher auch der Name einer politischen Partei Irlands, der Fianna Fáil) anführt, eine Art Robin Hood also. Finn hat – wie sich das für eine mythische Person gehört – übermenschliche Kräfte. So verfügt er auch über einen Zahn der Weisheit: Wenn man seinen Daumen daranhält, erschließt sich einem die Wirklichkeit. Um welchen Zahn im Gebiss es sich dabei handelt, ist allerdings – zum Leidwesen aller dontologisch Interessierten – leider nicht überliefert.

Zwei der Hauptbegleiter von Finn sind Oisín und Caílte mac Rónáin. Der erstgenannte mag den einen oder anderen Leser – und zwar völlig zurecht! – an Ossian erinnern, den Helden der Sagen des Nachdichters Macpherson.

So viel zum Drumherum.

Acallam na senórach, „Das Gespräch der alten Männer“, ist erstmalig in Handschriften von um 1200 überliefert. Keine der Handschriften – auch nicht die jüngeren aus dem 13. bis 16. Jahrhundert – macht recht glücklich, da der Text jeweils arg mitgenommen ist. Da muss man sich das Werk im guten Zustand halt vorstellen.

Oisín und Caílte mac Rónáin, die alten Männer des Titels, sind mittlerweile steinalt. Alle anderen Mitglieder der Fianna sind längst verstorben. Dafür ist das Christentum in Gestalt des heiligen Patrick eingetroffen. Womit wir die drei Hauptteilnehmer des titelgebenden Gesprächs beieinander haben.

Interessant ist der Text wegen seiner Struktur aus Rahmenhandlung – das Gespräch zwischen den drei Männern – und eingebetteten Geschichten aus der Blütezeit der Fianna. Interessant auch wegen dieser Geschichten selbst, die zum großen Teil sonst nirgends überliefert sind und auch wieder spätere Werke der irischen Literatur beeinflusst haben (zum Beispiel hat Flann O’Brien für seinen Roman „In Schwimmen-zwei-Vögel“ einen Ortsnamen verwendet, der hier zuerst erwähnt wird – dieses Buch wiederum hat James Joyce beeindruckt).
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Vor allem fasziniert aber, wie in diesem Werk eine vorchristliche, also zutiefst heidnische Vergangenheit in das Christentum eingemeindet wird:

„There they were until the morrow’s morning came, when Patrick robed himself and emerged upon the green; together with his three score priests, three score psalmodists, and holy bishops three score as well, that with him disseminated faith and piety throughout Ireland. Patrick’s two guardian angels came to him now: Aibellan and Solusbrethach, of whom he enquired whether in God’s sight it were convenient for him to be listening to stories of the Fianna.“

Und so wird auch das Aufschreiben unzivilisierten Sagen zur guten christlichen Pflicht gemacht:

„‚Success and benediction!‘ said Patrick: ‚a good story it is that thou hast told us there; and where is Brogan the scribe?‘ Brogan answered: ‚here, holy Cleric.‘ ‚Be that tale written by thee‘; and Brogan performed it on the spot.“
So ähnlich wird jede Geschichte beendet, die von Caílte oder Oisín erzählt wird.

Bemerkenswert ist, wie weit entfernt die Gedankenwelt von unserer heutigen ist. Dies wird besonders frappierend, wenn es um Verwandtschaftsbeziehungen und Ortsnamen geht. Bezeichnungen von Orten waren den Kelten grundsätzlich sehr wichtig:

„Then Patrick set out, and the way that he took was into Feeguile; into Drumcree, which at this time is called ‚Kildare‘; across the sruithlinn in Durrow, and over the Barrow; over tOchar Leighe, i.e. ‘the stone causeway of Cuarneit’s daughter Liagh,’ where Liagh perished; into ‘the old Plain of Dian mac Dilenn’s daughter Roichet, now called ‘Moyrua of Rechet;’ into (….)” und so weiter über viele Zeilen.

Die Übersetzung von Standish Hayes O’Grady (1832-1915) stammt zwar aus dem Jahr 1892, ist aber ein echter Klassiker und vermittelt ein gutes Sprachgefühl des irischen Originals.

The Irish Georgian Society: A celebration. Robert O’Byrne

Um den Trend von Beiträgen zu irischen Themen fortzusetzen, ist heute ein Buch zu einem Verein an der Reihe, der sich 1958 das Ziel gesetzt hat, irische georgianische Architektur zu bewahren und zu pflegen. Zum 50. Jubiläum erschien das Buch „The Irish Georgian Society: A Celebration“.

Die Irish Georgian Society geht auf eine Initiative von Desmond Guinness zurück, einem Erben der Guinness-Dynastie und der Mitford-Familie. Er und seine erste Frau, Mariga Guinness, haben die Society bis heute sehr geprägt.

Das Verhältnis Irlands zu seiner Geschichte war schon immer recht schwierig. Zumindest die Epoche, als auch die heutige Republik Irland eine Kolonie Englands war, wurde und wird oft negativ gesehen oder ignoriert und Irland eine reine Opferrolle zugedacht. Unter anderem deshalb war es über lange Zeit nicht wichtig, beispielsweise Gebäude aus der georgianischen Zeit zu erhalten. Im Gegenteil war es oft sogar explizites Ziel auch von öffentlichen Institutionen, diese Architektur zu beseitigen. Die Verluste seit dem zweiten Weltkrieg sind immens, zum Beispiel in Dublin:
„(…) since 1960 nearly 40 per cent of the city’s Georgian building stock had been destroyed. (…) The oldest part of the city, the Liberties, which was granted a charter by Henry II in 1170, contained so many derelict or demolished buildings that it was used to represent bombed Berlin in the 1965 film ‚The Spy Who Came in from the Cold‘.“

Durch viel ehrenamtlichen Einsatz, Wagemut, gute Verbindungen und auch Geld ist es unter anderem der Irish Georgian Society zu verdanken, dass etliche Gebäude doch noch da sind und irische georgianische Architektur (und die anderer Zeiten) mittlerweile eine passable Wichtigkeit hat. Beispiel sind Henrietta Street (siehe Foto) und Mountjoy Square in Dublin, Castletown, Roundwood, Vernon Mount, Ledwithstown House im Landesinneren.

Das Jubiläumsbuch fällt aus der Reihe ähnlicher Schriften: Es ist nicht selbst-beweihräuchernd, sondern an vielen Stellen voller Humor, voll erfrischender Selbstkritik und gut geschrieben (und illustriert). Es gibt einen guten Einblick in die georgianische Architekturgeschichte, neuere irische Sozialgeschichte und die Herausforderungen, mit denen unmoderne und unpopuläre NGOs zu kämpfen haben können.

Lebendig wird das Buch auch durch zahlreiche Anekdoten. Die Society scheint vielen Leuten oft sehr viel Spaß gemacht zu haben:
„An abiding trait of trips undertaken by the Society and ist members was that they included lunchtime picnics (…). Everyone was meant to contribute something to the meal, usually taken in the shadow of some gaunt ruin and regularly eaten sitting on damp grass in a persistent drizzle. But even in the gloomiest weather conditions, warmth was provided both by the stimulating company and conversation and, just as importantly, by the consumption of alcohol (…). Desmond and Mariga ‚developed the habit of bringing large quantities of vin rosé with them, and of creating a party more or less wherever they went. ‚Vin rosé,‘ said Mariga quite truthfully, ’nourishes the Georgian Society.'“