Emma – Das Leben der Lady Hamilton. Gilbert Sinoué

Sie galt als eine der schönsten Frauen ihrer Zeit. Die meist porträtierte war sie ganz sicher. Als „Super-Model des 18. Jahrhunderts“ hat der WDR Lady Hamilton bezeichnet.


Lady Hamilton kam aus einfachsten Verhälnissen, lebte als ausgehaltene Frau, reiste nach Neapel, heiratete den Adeligen Sir William Hamilton, wurde Vertraute einer Königin, verliebte sich in Admiral Nelson, starb einsam und verarmt in England. Was man unbedingt über sie wissen muß: nur mit der Hilfe von Tüchern und wenigen Requisiten stellte sie eine Fülle antiker Figuren nach. Ihr sensibler Ausdruck von Gesicht und Körperhaltung waren in ganz Europa als die „Attitüden der Lady Hamilton“ berühmt. Auch Goethe war fasziniert von ihrer Darstellungskunst.

„Zahllos sind die Legenden, die sich um Lady Hamilton (1765-1815) ranken. Das bigotte 19. Jahrhundert hielt sie für eine Prostituierte, weil sie arm war und sich von einem reichen Mann angeln und heiraten ließ. Auf der weißen Weste des englischen Nationalhelden Nelson war sie der dunkle Fleck. Sicher ist, sie war die prominenteste, die erfolgreichste Aufsteigerin ihrer Zeit, nicht zuletzt wegen ihrer Schönheit die meist porträtierte Frau des 18. Jahrhunderts“, so der Klappentext.

Die Biografie ist gut lesbar geschrieben, sie zeichnet ein gutes Porträt sowohl von Lady Hamilton wie auch von der spannenden Zeitgeschichte. Wo immer die Quellenlage unsicher ist, räumt der Autor dies ein. Wann immer er spekuliert, berichtet er dies.

Emma, Lady Hamilton, zeigt als große Liebende eine weitere Facette: den recht zerschossenen Kriegshelden Nelson – ein Auge und ein Arm fehlen nach Kriegshandlungen gegen Napoleons Truppen im Mittelmeer – päppelt sie gesund. Die beiden verlieben sich heftig, Sir William toleriert ihre Beziehung.

 

 

„Tatsächlich lebten der Liebhaber und seine Geliebte von da an endgültig in ihrer eigenen Welt. Bald verletzten sie alle Regeln, brachen alle Tabus, boten den Konformisten die Stirn, schmähten Tugendwächter und Tugendhafte. Kurz gesagt: Sie haben sich geliebt, sich zu sehr geliebt, sich auch zweifellos zu wenig geliebt, aber im Unterschied zu denjenigen, die den Stab über sie gebrochen haben, haben sie ihr Leben gelebt.“

Holy Disorders. Edmund Crispin

Spannung plus absurde Plots, intelligente Dialoge plus Action: das sind die Zutaten für ungewöhnlich gute Krimi-Unterhaltung. Oder: Diese ist die natürliche Konsequenz, wenn man einen Oxford-Don, Kirchenmusik, ein Schmetterlingsnetz und Schwarze Magie zusammenmischt.

Worum geht es? In einer historischen Kleinstadt werden Morde in der Kathedrale verübt. Professor Gervase Fen studiert vor Ort das Verhalten der Motten und bittet seinen Freund Geoffrey Vintner darum, die Gottesdienste in der Kathedrale auf der Orgel zu begleiten. Beide werden in einen wirren Plot verwickelt, in dem Spione und Drogen, Geistliche und Hexen ihre Rollen spielen…und auch noch ein Psychoanalytiker, der den Glauben an seinen Beruf verloren hat…

„He (Geoffrey Vintner) felt as unhappy as any man without pretension to the spirit of adventure might feel who has received a threatening letter accompanied by sufficient evidence to suggest that the threats contained in it will probably be carried out. (…) He groped in his coat pocket, pulled out a large, ancient revolver, and looked at it with that mixture of alarm and affection which dog-lovers bestow on a particularly ferocious animal.“

Crispin hat jedenfall eine Leidenschaft für viele, lange, mehrsilbige und oft ein wenig daneben liegende Adverben. Die Lektüre würde sich deshalb auch dann lohnen, wenn ihr gewünschtes Ziel nur die Verbesserung des eigenen englischen Wortschatzes wäre.

 

Und das sagt Crispin über sich selbst: „Edmund Crispin was born in 1921 of Scots-Irish parentage. (…) He has been a pianist, organist and conductor since the age of fourteen and was for two years an assistant master at a public school. He travelled a certain amount before the war, particularly in Germany, where he totally failed to prognosticate the subsequent course of events. Edmund Crispin’s real name is Bruce Montgomery, and he is a composer as well as a writer. His recreations are swimming, excessive smoking, Shakespeare, the operas of Wagner and Strauss, idleness, and cats. His antipathies are dogs, the French Film, the Renaissance of the British Film, psychoanalysis, the psychological-realistic crime story, and the contemporary theatre.“

Da weiß man doch, worauf man sich einläßt, oder?

Image result for Edmund Crispin
Mehr zu Edmund Crispin bei unseren Empfehlungen der besten unbekannten Krimis.
Hier gibt es weitere Krimis, die wir besprochen haben.
Lese-Empfehlungen zu Detektivgeschichten finden sich unter beste Bücher: Krimis.

The unexpected Professor: An Oxford life in books. John Carey

The unexpected professor war ein unerwartetes Vergnügen. Die Autobiographie von John Carey (* 1934), emeritierter Englisch-Professor und Fellow des Merton College, ist in vielerlei Hinsicht ein klassisches Beispiel der Kategorie „Autobiographie eines Oxford-Professors“, aus anderem Blickwinkel betrachtet jedoch fällt sie vollständig aus dem Rahmen.

Wie die meisten Autobiographien beginnt The unexpected professor mit Geburt und Kindheit und arbeitet sich chronologisch voran. Nur Ereignisse, Dinge, Menschen mit Relevanz für die Person des Autoren werden erwähnt. Alle Wertungen, Schwerpunkte, Auslassungen sind subjektiv seine eigenen. Auch die typischen Charakteristika einer Oxford-Professoren-Geschichte sind vorhanden: Understatement und Ironie, eindrucksvolle College-Architektur, viel Portwein, seltsame Gebräuche, exzentrische Kollegen.

Anders ist diese Autobiographie jedoch, da sie eine ungewöhnliche Beziehung in den Mittelpunkt stellt: „something more personal – a history of English literature and me, how we met, how we got on, what came of it“. Das Wort Liebesbeziehung hierfür zu verwenden, ist wahrscheinlich nicht verkehrt.

Normale biographische Details und Anekdoten werden verwendet, da sie begründen, warum Carey wann was gelesen hat und warum er Literatur so interpretiert, wie er sie interpretiert: Auch strukturieren sie seine Lese-Erfahrungen und ergeben die Kapitelfolge: „Grammar School“, „Playing at Soldiers“, „Undergraduate“…. Nicht zuletzt bringt das Biographische dem Leser auch den Menschen John Carey näher, vermittelt seine Austerität, seinen Humor, seine Komplexe, seine Liebenswürdigkeit:
„At about the same time Gill, very courageously, agreed to marry me, and share my worldly goods, which still amounted, in effect, to the Bakelite radio and the electric coffee pot. So quite early in the morning on Ascension Day, 7 May 1959, I bought a bottle of champagne from Christ Church buttery, and (we) drank to one another’s futures beside the round pond in the middle of Tom Quad, while the goldfish gleamed and the waterlilies spread their petals and Mercury, with jets of water dancing round him, stood on one leg on his plinth and pointed to the sky. It was a most un-Carey-like episode. Champagne! In the morning!“

Damit ist dieses Buch eine ganz seltsame, eigenartig faszinierende, für mich sehr einnehmende Mischung aus Lebenserfahrungen und sehr persönlicher Einführung in die englische Literatur, aus Tutorium und Beziehungsgeschichte, aus Großartigem und Bescheidenheit.

Besonders anregend ist, was Carey über einzelne Texte und Autoren (leider fast ausschließlich Männer…) sagt. So erfährt man seine – nicht nur positiven – Gedanken zu John Milton und Samuel Beckett, zu John Donne und George Orwell, zu D.H. Lawrence und Joseph Conrad. Nachvollziehbar werden seine Überlegungen durch viele exzellent gewählte, auch lange Zitate.
Mir selbst war Milton zum Beispiel bisher eher fremd, und ich fand ihn abweisend. Nicht gewusst hatte ich dabei, dass „it has been estimated that, under the Presbyterian Blasphemy Ordinance of 1648, (… he would have been) liable to five death sentences and eight terms of life imprisonment.“ Jetzt bin ich neugierig auf ihn.

Erfrischend auch seine offenen Worte zu der einen oder anderen ungenießbaren wissenschaftlichen Publikation: „A new custom (…) was for authors to preface their terrible tomes with pages of effusive thanks to all those – teachers, academic colleagues, friends, parents, partners, children, childminders, and as like as not the family dog – without whom the volume would never have come into being. I cursed them all fervently in my heart.“

Und dann ist da noch das Schlußkapitel „So, in the End, Why Read?“. Seine Gründe:

  • „… reading opens your mind to alternative ways of thinking and feeling. (…)
  • Book-burners try to destroy ideas that differ from their own. Reading does the opposite. It encourages doubt. (…)
  • Reading distrusts certainty. (…)
  • Reading punctures pomp. (…)
  • Reading is contemptuous of luxury. (…)
  • Reading makes you see that ordinary things are not ordinary. (…)
  • Reading is vast, like the sea, but you can dip into it anywhere and be refreshed.
  • Reading takes you into other minds and makes them part of your own.
  • Reading releases you from the limits of yourself.
  • Reading is freedom.“

Alexander der Große: Sohn der Götter. Alan Fildes und Joann Fletcher

Offensichtlich ein Buch, das man lesen sollte in den heutigen Zeiten, denn Alexander der Große war immer ein Vorbild für Regenten mit großem Anspruch, egal ob sie Cäsar, Napoleon oder anders hießen und heißen. Einen Aspekt wollten sie jedoch nie kopieren: Alexander starb im Alter von nur 32 Jahren.

Die Geschichte Alexanders des Großen ist schnell erzählt. Geburt als Sohn des Makedonenkönigs Philipp II, der schon damit begonnen hatte, aus dem völlig unbedeutenden Makedonien eine Militärmacht zu machen – Erziehung unter anderem durch Aristoteles – durch militärische Eroberung Aufbau des damals größten Weltreichs aller Zeiten (Griechenland, der gesamte nahe und mittlere Osten, Teile Indiens und Afghanistans, Ägypten, Libyen….), erste Rebellionen auch von seinen Freunden und Vertrauten, Tod im Jahr 323 vor unserer Zeitrechnung, Beerdigung in Alexandria. Mit ihm endete eine Epoche. Er begründete mit dem Hellenismus eine neue: kosmopolitisch, griechisch-geprägt, in seinem gesamten Herrschaftsgebiet. Danach übernahmen die Römer.

Die für den Erfolg wichtige mythische Überhöhung gibt es auch: Philipp II. war gar nicht sein Vater, sondern Zeus selbst; seine Mutter war eine Nachfahrin Achills; die Götter waren für ihn, wie die Orakel bestätigten; die Ägypter verehrten ihn sogar als Gott; er selbst fand das wohl recht angemessen und nachvollziehbar.

Und die Machtgeschichte obendrein. Sie ist so, wie solche Machtgeschichten meistens sind. Loyal gegenüber seinen Freunden und gegenüber Gegnern, die sich eines Besseren besannen – erbarmungslos gegenüber illoyalen Freunden und allen anderen, die sich ihm in den Weg stellten – bereit, große Opfer bei Soldaten und Zivilbevölkerung in Kauf zu nehmen.

Immerhin scheint er auch belesen, gebildet, intelligent und intellektuell neugierig gewesen zu sein. Und er hatte nie den Anspruch, eroberten anderen Kulturen seine eigene aufzuzwingen, im Gegenteil, er übernahm auch Sitten von ihnen. Das wiederum machte ihn bei seinen eigenen Makedonen etwas unbeliebt.

Faszinierend ist die Biographie Alexanders des Großen allemal. Er war noch blutjung, als er mit seinen Eroberungen begann. Er besiegte Weltreiche und Hochkulturen. Er kam in ferne, unbekannte Länder, die noch nicht einmal die Götter vorher erreicht hatten. Plus eine ordentliche Portion Sex and Crime.

Das Buch von Fildes und Fletcher ist bunt und ordentlich. Die Biographie wird in Kapiteln abgepackt, die jeweils auf zwei oder drei Seiten passen. Es gibt viele farbige Illustrationen. Die Sätze sind kurz und verständlich. Die Herangehensweise ist deskriptiv. Die Person Alexanders wird dabei als Held und Identifikationsfigur dargestellt (so wie das auch Karl May gemacht hätte), problematisiert und in einen größeren Kontext eingeordnet wird sie nicht. Eigentlich erzählen die beiden nur die antiken Quellen nach. Und eigentlich ist das zu wenig: Alexander selbst war da intellektueller.

The Mighty Dead – Why Homer Matters. Adam Nicolson

Ein Buch über Homer und über Gewalt und über Zivilisation. Ungeheuer faszinierend und ebenso schrecklich in seiner kompromisslosen Benennung der Gewaltdarstellungen in Homer als brutale Gewalt.

„The Mighty Dead“ ist unkompliziert zugänglich; sein Autor nutzt Stilmerkmale aus Reisebericht, historischer Forschung und formuliert außerdem einen leidenschaftlichen Appell an die Macht der Poesie.

Das Buch verfolgt zwei unterschiedliche inhaltliche Ziele:

  1. Wie kam es zu den Texten, die wir heute als „Ilias“ und als „Odyssee“ kennen?
  2. Wovon handeln diese Texte? Was sagen sie uns?

Wie sind die Texte der „Ilias“ und der „Odyssee“ entstanden?

Adam Nicolson, Enkel von Vita Sackville-West, beschreibt in seinem Buch, wie europäische Heldenlieder aus unterschiedlichsten regionalen Gebieten für Jahrhunderte mündlich überliefert wurden. Die Sänger, die diese Lieder sangen, waren alle seiner Auffassung nach ein Teil dessen, was wir heute „Homer“ nennen. Die ältesten Teile gehen dabei vermutlich auf die Zeit von 1800 v. Chr. zurück.

Ca. 280 v.Chr. wurden in der Bibliothek von Alexandria Texte erstellt, die sich aus den unterschiedlichen, damals überlieferten Quellen – mündliche Überlieferungen und Papyri – speisten. Schon diese Texte von „Ilias“ und „Odyssee“ weisen Glättungen, Vereinheitlichungen, stilistische Veränderungen auf, so wie sie in der Übersetzungsgeschichte beider antiker Texte immer wieder vorkommen sollten: „Homer“ sollte einfach nicht „primitiv“ sein. Nicolson belegt diese These gut anhand linguistischer Details und durch die Übersetzungsgeschichte.

Vorspeisenplatte: Von wegen dem Homer seiner <i>Ilias</i>

„He (Homer) sang of the past (…): as the violence and sense of strangeness of about 1800 BC recollected in the tranquillity of about 1300 BC, preserved through the Greek Dark Ages, and written down (if not in a final form) in about 700 BC. Homer reeks of long use.“

Wovon handeln „Ilias“ und „Odyssee“?

Funktion der Helden-Gesänge war es, den individuellen Ruhm vor der Vergänglichkeit zu retten. Die Heldentat, der heldenhafte Tod haben nur einen Sinn, wenn sie die Zeit überdauern, wenn sich jemand an sie erinnert. Das immer wieder gesungene, von Generation zu Generation tradierte Lied selbst ist deshalb, laut Nicolson, der Garant für den Ruhm der homerischen Helden. Hierbei reichen Inhalte „Homers“ weit zurück bis in die Bronzezeit: „In his Greek heroes, Homer gives voice to that northern warrior world. Homer is the only place you can hear the Bronze Age warriors of northern grasslands speak and dream and weep. The rest of Bronze Age Europe is silent. Echoes of what was said and sung in Ireland or in German forests can be recovered from tales and poems collected by modern ethnographers, but only in Homer is the connection direct.“

Homerische Gesänge haben den Konflikt „Stadt“ gegen „Gang“ zum Thema, Zivilisation gegen Barbaren. Sie beschreiben den Konflikt zwischen einer städtischen, durch Handel geprägten Zivilisation rund um das Mittelmeer mit einer von Norden kommenden Gruppe von Menschen, die  teil-nomadisch lebte und die kriegerische Auseinandersetzung im Zentrum ihres Lebens sah.

Sehr überzeugend finde ich den Vergleich zu modernen Gang-Werten, den Nicolson zieht. Dieser erinnert mich an die Formulierung Christa Wolffs „Achill, das Vieh“ (Kassandra): Für die „Gang“ zählen Ehre, körperliche Überlegenheit, Tötung des Opponenten als identitätsstiftende Attribute.

Was sagt uns heute noch Homer? Für Nicolson sind die homerischen Gesänge Texte, in denen die Brutalität des Lebens anerkannt wird. Die aber dennoch weiser sind als die in ihnen grausam handelnden Figuren und deshalb Menschlichkeit und Mitleid hochhalten. Inmitten des gegenseitigen Abschlachtens von Griechen und Troern gibt es einen Augenblick gegenseitiger Anerkennung. Priamos, der alte König von Troja, geht zu Achill, der seinen Sohn getötet hat, und bittet ihn um dessen Leichnam. Er erhält ihn. Beide Figuren teilen einen Augenblick gegenseitigen Respekts:
„Priam has brought the virtues of the city into Achilles´s heart. (…) Achilles, the man from the plains, has absorbed the beauty of Priam´s wisdom (…) Achilles will soon be dead, Troy will soon be broken, the Trojan men will soon be slaughtered, Priam among them, horribly murderd by Achilles´s own son, their women abused and enslaved, but here, in poetry, in passing, a better world is momentarily – or in fact everlastingly – seen.“

Vintage Handbags. Marnie Fogg

Diese Geschichte der Handtasche beantwortet die Fragen: Warum tragen Frauen Handtaschen? Und warum sind Handtaschen aus der modernen Modewelt nicht wegzudenken?

Das Buch erzählt von der Entstehung der modernen Handtasche durch die Handwerkskunst von Sattlern wie Hermès und Gucci sowie Herstellern von Reisegepäck wie Prada und Louis Vuitton.

Es berichtet, dass die Handtaschen größer wurden als Frauen längere Zeiten aus dem Haus gingen: wer länger unterwegs ist, braucht eine umfangreichere Ausrüstung für den Tag. Die Handtasche wurde zum „Survival kit“, zum tragbaren Boudoir und mobilen Büro.
Es berichtet aus den Zeiten der beiden Weltkriege, in denen Frauentaschen Tornister-ähnlich wurden und quer über dem Oberkörper getragen werden konnten, damit die Hände freiblieben.
Es erzählt aber auch davon, wie in den 1920er Jahren winzige Abendtaschen entstanden, die sich während des Tanzens in der Hand halten ließen.
Und es erzählt wie die Handtasche von der Investition fürs Leben zu einem eigenständigen modischen Stilmittel wurde. Aus diesem sich dann die „It“-Bag der 1990er entwickeln konnte.

Die Einführung bringt auf den Punkt, warum Handtaschen aus vergangenen Zeiten heute noch interessant sind: „Handbags are a vital accessory to every woman´s life, but their practical purpose is secondary to what they say about the wearer´s sense of style. (…) the vintage bag represents the wearer´s personality, not her bank balance. When cutting-edge fashion becomes available to all, and the time span between the designer handbag and the high street version in the shop becomes so compressed, the uniqueness and rarity of a vintage handbag makes it a desirable commodity.“

Das Buch von Marnie Fogg ist in seinem Mittelteil chronologisch nach Jahrzehnten von 1900 bis 1990 aufgebaut. Hier erhält man eine Mini-Zusammenfassung der Zeitgeschichte und der Modegeschichte. Auf dieser Basis entwickelt die Autorin die wichtigsten Handtaschen-Trends des jeweiligen Jahrzehnts, stellt Handtaschen-Modelle und Designer von.
Ein gutes Beispiel ist die Mode-Fotografie, die auch auf dem Buch-Einband verwendet wird: Optimismus und Aufbruchsgefühl finden nicht nur Ausdruck im leuchtend rot- und orangefarbenen Kleid, den roten Schuhen und der roten Handtasche. Sie finden sich ebenfalls im gewählten Hintergrund einer im Rohbau befindlichen Neubausiedlung.

In einer vorangestellten Übersicht erklärt das Buch, wie es überhaupt dazu kam, dass Frauen Handtaschen zu tragen begannen. Ein letzter Teil am Ende des Buchs stellt die wichtigsten modernen Designer von Handtaschen zusammen. Dieser Teil wirkt allerdings, als ob eine große Portion Marketing-Material von der Autorin unmittelbar von den Designern übernommen wurde.

Das Buch ist ein gut lesbarer Schmöker, reich bebildert und stellt dabei die wesentlichen Entwicklungen klar dar. Für Mode- und Handtaschen-Liebhaberinnen ein Genuß.

Mehr zu schönen Mode-Büchern in unserer Zusammenstellung Beste  Bücher zur Mode.

Der Friedhof von Prag. Umberto Eco

Es hat nicht geklappt. Und ich habe es wirklich versucht. Mehrmals. An mehreren Tagen hintereinander. Zu verschiedenen Tageszeiten. Auch mit unterschiedlichen Getränken. Aber es geht nicht. Ich schaffe es nicht mehr, Bücher von Umberto Eco zu Ende zu lesen. Bei „Der Name der Rose“ war es überhaupt kein Problem. In „Der Friedhof von Prag“ stand für mich eine Mauer auf Seite 46. Dort hörte der Leseweg für mich auf. Und Darüberklettern wollte ich nicht.

Umberto Eco (1932 – 2016) ist zweifellos ist einer der wenigen sehr angesehenen Wissenschaftler (für Semiotik; Dutzende von Ehrenprofessuren), die auch literarisch sehr erfolgreich waren (Verdienstorden; Buchpreise; Bestseller).

„Der Name der Rose“ war ein wirklicher Renner, hoch-spannend, mit seinen inhaltlichen Ausflügen in die Scholastik, die Kirchengeschichte und zu Aristoteles wirklich nicht flach, literarisch ebenfalls anspruchsvoll, sehr gut strukturiert und konzipiert. Lesefreude rundum.

„Das Foucault’sche Pendel“ war dann schon mühsam, aber ich bin immer noch in den dreistelligen Seitenbereich vorgedrungen. Bei „Baudolino“ habe ich ausgesetzt….

Jetzt also „Der Friedhof von Prag“, auf italienisch „Il cimitero di Praga“, der sechste Roman von Eco, erschienen 2010, von Burkhart Kroeber 2011 ins Deutsche übersetzt.

Spannung? Empfinde ich nicht.
Intellektuelle Inhalte? Viele, aber sie wirken wie ein Selbstzweck, wie selbstverliebte Ausflüge, wie Zeigefinger auf den gebildeten Autoren.
Literarisch gekonnt? Gut strukturiert? Ich finde nicht. Bis zu der Stelle, die ich noch erreicht habe, wirkte alles mechanisch, durch-dekliniert, seltsam seelenlos.

Worum wäre es gegangen? Der Klappentext sagt: „Der Italiener Simon Simonini lebt in Paris, und er erlebt eine dunkle Geschichte: geheime Militärpapiere, die der jüdische Hauptmann Dreyfus angeblich an die deutsche Botschaft verkauft, piemontesische, französische und preußische Geheimdienste, die noch geheimere Pläne schmieden, Freimaurer, Jesuiten und Revolutionäre – und am Ende tauchen zum ersten Mal die Protokolle der Weisen von Zion auf, ein gefälschtes »Dokument« für die »jüdische Weltverschwörung «, das fatale Folgen haben wird. Umberto Eco erzählt eine Geschichte des 19. Jahrhunderts – eine Geschichte, die tief in die Vergangenheit eindringt und doch immer auch von unserer Gegenwart erzählt.“

Ein Beispiel für die mühsame Arbeit, die den Leser erwartet, ist gleich der erste Satz:
„Il passante che in quella grigia mattina del marzo 1897 avesse attraversato a proprio rischio e pericolo place Maubert, o la Maub, come la chiamavano i malviventi (già centro di vita universitaria nel Medioevo, quando accoglieva la folla degli studenti che frequentavano la Facoltà delle Arti nel Vicus Stramineus o rue du Fouarre, e più tardi luogo dell‘ esecuzione capitale di apostoli del libero pensiero come Étienne Dolet), si sarebbe trovato in uno dei pochi luoghi di Parigi risparmiato dagli sventramenti del barone Haussmann, tra un groviglio di vicoli maleodoranti, tagliati in due settori dal corso della Bièvre, che laggiù ancora fuoriusciva da quelle viscere della metropoli dove da tempo era stata confinata, per gettarsi febbricitante, rantolante e verminosa nella vicinissima Senna.“

„Der Passant, der an jenem grauen Morgen im März 1897 auf eigene Gefahr die Place Maubert überquert hätte – „la Maub“, wie sie im Ganovenmilieu genannt wurde (einst Zentrum des universitären Lebens im Mittelalter, Treffpunkt der Studenten, die an der Fakultät der Freien Künste am Vicus Stramineus, heute Rue du Fouarre, studierten, dann Pranger-, Folter- und Hinrichtungsstätte für Jünger des freien Denkens wie Étienne Dolet) -, wäre in eines der wenigen Viertel von Paris gelangt, das von den Planierungen des Barons Haussmann verschont geblieben war, ein Gewirr übelriechender Gassen, zerschnitten vom Lauf der Bièvre, die damals dort aus den Eingeweiden der Metropole herauskam, in denen sie so lange eingepfercht gewesen war, um sich fiebernd, gurgelnd und voller Würmer in die nahe Seine zu ergießen.“

Am Übersetzer lag es dabei wirklich nicht: Hut ab.

Die Stadt der Wunder. Eduardo Mendoza

Ein Autor für Literaturkritiker und Preisverleiher ist Eduardo Mendoza Garriga. Richtig los ging alles mit seinem Roman „Die Stadt der Wunder“ – im spanischen Orginal „La ciudad de los prodigios“. Premio Ciudad de Barcelona, Roman des Jahres 1988 in Frankreich, Franz Kafka-Preis, im vergangenen Jahr sogar der Premio Cervantes…. Mendoza wird wahlweise mit Marcel Proust, James Joyce, Alexandre Dumas verglichen .

In der Stadt der Wunder geht es um zwei Protagonisten. Zunächst und vor allem ist dies das Barcelona der Zeit von der Weltausstellung des Jahres 1888 bis zu der von 1929. In dieser Zeit wurde Barcelona das, was Touristen heute lieben, die Stadt des Architekten Gaudí, der Boulevards, der großzügigen Stadtviertel. Die Erlebnisse dieser Stadt bilden den einen Erzählstrang: Wie sie sich städtebaulich entwickelt, ihr regionales Umfeld, ihr Charakter mit allen Stärken und Schwächen, ihre schwierige Beziehung zu Madrid, die großen Personen in ihrem Leben – ein historisch-urbanes Panorama.
La ciudad de los prodigios de [Garrriga, Eduardo Mendoza]

Der zweite Protagonist heißt Onofre Bouvila, ein Zugereister, der mit viel Entschlossenheit, Kreativität und Skrupellosigkeit seine verbrecherische Karriere vom mittellosen Hungerleider zum reichsten Mann Spaniens vorantreibt. Seine Erlebnisse bilden den zweiten Erzählstrang.

Beide Stränge sind vom ersten Satz an miteinander verwoben und aufeinander angewiesen, denn ohne einander wäre der Roman vielleicht nicht erwähnenswert:
„El año en que Onofre Bouvila llegó a Barcelona la ciudad estaba en plena fiebre de renovación.“ In der (nicht  ganz überzeugenden) deutschen Übersetzung von Peter Schwaar: In dem Jahr, in dem Onofre Bouvila nach Barcelona kam, befand sich die Stadt im Zustand fieberhafter Erregung.“
Mendoza geht in seinem Roman sogar noch weiter und sagt im letzten Satz, dass es mit Barcelona ohne Bouvila nur noch bergab ging/gehen konnte:
„Später, als man Geschichte schrieb, war man der Ansicht, in dem Jahr, in dem Onofre Bouvila aus Barcelona verschwand, sei die Stadt in offene Dekadenz verfallen.“ Und Bouvila war, als er aus Barcelona verschwand, sogar wie vom Erdboden verschwunden, also ohne Barcelona gar nicht mehr vorhanden.

Mendoza kann erzählen und beschreiben und glänzt immer wieder mit reizvollen oder auch skurrilen Details. So gleich am Anfang, wenn er kurz die Stadtgeschichte erzählt:
„A los fenicios siguieron los griegos y los layetanos. Los primeros dejaron de su paso residuos artesanales; a los segundos debemos dos rasgos distintivos de la raza, según los etnólogos: la tendencia de los catalanes a ladear la cabeza hacia la izquierda cuando hacen como que escuchan y la propensión de los hombres a criar pelos largos en los orificios nasales.“
„Nach den Phöniziern kamen die Griechen und die Layetaner. Jene hinterließen Reste handwerklicher Tätigkeit; diesen verdanken wir, wenn man den Ethnologen glauben darf, zwei typische Charakterzüge unserer Rasse: die Tendenz der Katalanen, den Kopf nach links zu neigen, wenn sie so tun, als hörten sie zu, und den Hang der Männer, in den Nasenlöchern lange Haare sprießen zu lassen.“

Was Mendoza – zumindest in diesem Roman und zumindest nach meiner Meinung – nicht kann oder nicht zeigen möchte, ist, Spannungsbögen und wirkliches Interesse an den Romancharakteren aufzubauen. Alles ist irgendwie auf der gleichen Ebene, wird irgendwie gleichartig-wortreich erzählt und berührt einen/mich letztlich wenig. Das Leben und Sterben, Erleben und Erleiden löst nichts aus, keine Sympathie, Freude, Trauer, Erleichterung. Vielleicht mit Absicht? Als Kritik an der damaligen oder heutigen Zeit?

Der Roman ist gut genug, um mich erfolgreich (aber etwas ermattet) die Seite 503 in der deutschen Übersetzung erreichen zu lassen. Er rechtfertigt nicht die großen Worte, die über ihn verloren werden. Dies sehen andere Leser (die nicht Literaturkritiker sind) anscheinend ähnlich. So schreibt ein Rezensent in einem Blog: „(…) reconozco que sí, que esta es una señora novela, aunque también tengo que decir que personalmente no me ha maravillado hasta el punto de considerarla una obra maestra.“ Oder auch: „‚La ciudad de los prodigios‘ (…) me parecía un poco aburrido y previsible.“

Aber lesen, gerade wenn man Barcelona mag, kann man ihn schon. Daher ja auch der Premio Ciudad de Barcelona.

Die Dichtungen des Kallimachos. Übertragen, eingeleitet, erklärt von Ernst Howald und Emil Staiger

Mit diesem griechisch-sprachigen Autoren kann man heute nun wirklich niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Kallimachos. Kenne ich nicht. Oder wenn ich schon von ihm gehört haben sollte: Verstaubt, kryptisch, abstrus. Ohnehin und bestimmt zurecht schon lange, lange tot.

Lange tot ist richtig: Kallimachos lebte im vierten und dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Geboren wurde er in Kyrene im heutigen Libyen, gelebt und gestorben ist er im ägyptischen Alexandria, gesprochen und geschrieben hat er in griechisch.

Für das westliche Abendland ist er wichtig, denn er arbeitete unter zwei ptolemäischen Pharaonen in Alexandria an der berühmten Bibliothek. Sein Hauptwerk (nur Fragmente noch vorhanden): der 120-bändige Autorenkatalog jeweils mit Kurzbiographie und Werkverzeichnis, der erste „wissenschaftliche“ Bibliothekskatalog. Ohne ihn wären viele antike Autoren wahrscheinlich nicht überliefert worden. Und ohne diese Autoren hätte sich das Abendland wahrscheinlich sehr anders entwickelt. Abgesehen davon, dass er selbst mit seinen Werken eine lange Reihe von Dichtern – beginnend mit Catull, Properz – sehr stark beeinflusst hat.

Pech hatte er: Eigentlich war er prädestiniert, Bibliotheksdirektor zu werden, aber wahrscheinlich wurde ihm sein Schüler vorgezogen. Um ein Haar wäre er selbst dem Vergessen anheimgefallen, den nur jeweils eine einzige mittelalterliche Handschrift hat zwei seiner Werke überliefert. Hinzugekommen sind zum Glück dann noch etliche Papyri mit Fragmenten auch anderer Werke.
P.Oxy. XI 1362

Der Dichter Kallimachos steht für kurze Werke. Er war immer gegen lange Epen in der homerischen Tradition. In seinen Worten: „μέγα βιβλίον μέγα κακόν – großes Buch, großes Übel“. Er steht für Sorgfalt und Eleganz beim Schreiben, für umfassende Gelehrtheit ohne Detail-Pedanterie, für Ironie und Witz und Parodie, für subtile Anspielungen im Kreis seiner Kollegen an der Bibliothek.

Aus meiner Sicht am leichtesten zugänglich sind seine sechs Götterhymnen, die auch am besten überliefert sind. Sie stehen in der Tradition Homers, dem auch einige Hymnen zugeschrieben wurden, aber sie sind in ihrem Charakter zutiefst hellenistisch-zeitgenössisch. Für mich dabei der Renner die Nummer 5, der Hymnus auf das Bad der Pallas. Unmittelbar packend, unterhaltsam, formvollendet, inklusive der Geschichte des Sehers Teiresias, der von Athena seines Augenlichts beraubt wird, da er sie nackt beim Bad sieht. Amüsanter die Nummer 3 auf Artemis, die als Baby auf dem Schoss ihres Vaters Zeus ihn komplett um den Finger wickelt.

Als Zitat etwas für die heutigen Manager aus der Nummer 1 auf Zeus:
„ἑσπέριος κεῖνός γε τελεῖ τά κεν ἦρι νοήσῃ,
ἑσπέριος τὰ μέγιστα, τὰ μείονα δ‘, εὖτε νοήσῃ.
οἳ δὲ τὰ μὲν πλειῶνι, τὰ δ‘ οὐχ ἑνί, τῶν δ‘ ἀπὸ πάμπαν
αὐτὸς ἄνην ἐκόλουσας, ἐνέκλασσας δὲ μενοινήν.“

„Abends führt er zu Ende, was er am Morgen bedachte,
Nur das Schwerste am Abend, das Leichtre, sobald er’s bedachte.
Andre brauchen ein Jahr und mehr, ja gänzlich verhinderst
Du Vollendung des öftern und brichst auseinander ihr Planen.“

Die Ausgabe von Howald und Staiger von 1955 ist  sehr zu empfehlen vor allem wegen der guten und lesbaren Erläuterungen, aber auch wegen der gelungenen, wenn auch altertümlichen Übersetzung im Versmaß.

Durch Mauern gehen. Marina Abramovic

Wer bisher nicht zu den begeisterten Anhängern der  Performance-Kunst gehört, sollte dieses Buch unbedingt lesen. Danach wird das Verständnis größer sein, sich vielleicht Faszination vermittelt haben und vielleicht Bedauern entstanden sein, Abramovic nicht in einer ihrer Performances gesehen zu haben.

 

„Durch Mauern gehen“ ist die Autobiografie der Künstlerin Marina Abramovic. Welch eine erstaunlich beeindruckende Frau! Mich überzeugt die Konsequenz der Künstlerin, Kunstwerke zu entwickeln, die die Menschen unmittelbar emotional erreichen. Packen. Erkenntnisse vermitteln, die das Selbst verändern. Eine Kunst zu entwickeln, die nicht über den Kopf, nicht über Rationalität, sondern statt dessen über unmittelbares Erleben funktioniert.

Und hierbei schont sich die Künstlerin nicht

In ihren Performances fließt ihr eigenes Blut, hungert sie, sitzt für Stunden bewegungslos, liegt auf Eis, wäscht blutige Knochen, lässt sie sich durch ihr Publikum mit 72 Gegenständen beschädigen. Einen kleinen Eindruck bietet dieser Film-Clip.

Besonders beeindruckt haben mich diese Arbeiten

Die Serie „8 Lessons on Emptiness with a Happy End“ von 2008:

Marina Abramovic

Die Performance „Balkan Baroque“ von 1997, die die Gewalt auf dem Boden des ehemaligen Jougoslawiens nach Titos Tod thematisert:

Verwandtes Bildergebnis

 

Die Performance „The Artist Is Present“ von 2010: Hier haben sich über 1500 Menschen gegenüber Abramovic in einem New Yorker Museum hingesetzt. Einige nur für Minuten, andere für Stunden. Hierzu aus „Durch Mauern gehen“: „Sehr schnell spürte ich, dass die Leute, sobald sie mir gegenüber Platz genommen hatten, unglaublich bewegt waren. Einigen kamen die  Tränen – und mir ebenfalls. War ich ein Spiegel? Es fühlte sich an, als wäre ich mehr als das. Ich konnte den Schmerz der Menschen sehen und spüren. Ich glaube, die Leute wurden überrascht von dem Schmerz, der in ihnen hochkam. (…) Sie hatten stundenlang darauf gewartet, um mir gegenüber sitzen zu dürfen. Und dann saßen sie auf einmal vor mir. Wurden vom Publikum beobachtet. Wurden gefilmt und fotografiert. Wurden von mir beobachtet. Sie konnten nirgendwohin außer in ihr Inneres. Und genau darum ging es.“

Sehr wohltuend ihr eigener Kommentar über die später siebziger Jahre, in denen Performance-Kunst derart „in“ gewesen war, dass jemand nur auf den Boden spucken und es Performance nennen brauchte…

Vielleicht den besten Eindruck geben die Videos der ins Absurde überzeichneten Tragödie von Bob Wilson „The Life and Death of Marina Abramovic“. Natürlich mit Marina Abramovic. Zwischen zwei Beerdigungen thematisiert das Stück Schmerzen und selbstzugefügte Verletzungen der Titelheldin. Besonders berührend sind die Songs „Why must you hurt yourself“ und „When will I turn to cut the world“.

Zum Hintergrund gibt es unter der Überschrift „Vom Brüllen zum Schweigen“ einen guten Artikel in der Zeit von 2014.

Gelesen habe ich die deutsche Übersetzung der amerikanischen Original-Ausgabe. Die Sprache wirkte auf mich wie umgangssprachlich diktierter Text, der dann in der Übersetzung noch flacher wurde. Anfangs hat mich dies gestört. Während des Lesens ist dies immer unwichtiger geworden, weil mich die Künstlerin mit der Beschreibung ihrer Kunst in den Bann gezogen hat.