Die Erfindung der Naturwissenschaften. David Wootton

Lieber nicht lesen?

Die Penguin-Ausgabe zählt 769 Seiten. Obendrein in Englisch, da sich noch keiner an eine Übersetzung herangewagt zu haben scheint… Rezensenten verwenden Begriffe wie „truly learned“, „deeply erudite“, „in (…) convincing detail“, „masterly account“, „magisterial“. Die Erwartung ist völlig klar: David Woottons Buch über die Erfindung der Naturwissenschaften – „the invention of science“ – ist nur etwas für die ganz und gar Hartgesottenen unter den Lesern (und Leserinnen), mit einer Menge Zeit, guten Nerven, Durchhaltevermögen. Viele Details. Viele Zitate. Viele Fußnoten. Viel zu viel.
Cundill Prize 2016 Finalist David Wootton - YouTube

Oder doch?

Und doch, da gibt es noch die anderen Schlagworte: „marvellous“, „fresh and compelling“, „gripping“, „to savour, to enjoy and to remember“, „beautifully written“. Also doch zumindest ein Hauch von Lesespaß zwischen all dem akademisch Beschwerten? Oder vielleicht sogar – verwegener Gedanke – vor allem ein Lese- und Denkspaß?

Gekauft habe ich den Wälzer, weil er mir empfohlen wurde. Dicke Bücher schrecken mich nicht. Außerdem lese ich sehr gerne Bücher von Simon Schama. Und der ist auch ganz unverschämt wissensschwer und bildungseitel.
Rhodri Marsden's Interesting Objects: Kepler's model of the ...

Schama und Wootton: Vielwisser, Querdenker, Welterklärer

Apropos Schama. Der Vergleich ist nämlich gar nicht schlecht. Beide Autoren, Schama und Wootton, haben neben ihren Belesenheit vier Dinge gemeinsam: Sie denken erstens offensichtlich gerne, meistens selbst und bevorzugt quer. Sie schaffen es zweitens, in all den Details Strukturen, Muster, Linien zu entdecken, die so intuitiv und so frappierend sind, dass einem gelegentlich der Mund offen steht, um mit dem Denken nachzukommen. Drittens sind sie keine Fachidioten, sondern stellen fachübergreifend immer mehrere Disziplinen zueinander in Bezug. Zuletzt, viertens, schreiben beide viel.  Für ihre Bücher braucht man meist eine Stütze und eine Transporthilfe. Andererseits: Warum kurz, wenn man soviel Interessantes und Neues zu sagen hat?

Also dann doch: Die Erfindung der Naturwissenschaften

Ich möchte gar nicht den Versuch machen, das Buch zusammenzufassen oder einige Inhalte exemplarisch hervorzuheben. Es ist tatsächlich eine exzellente Darstellung, wie, wodurch und durch wen im Zeitraum von 1572 (Tycho Brahe sieht eine Nova, einen neuen Stern) bis 1704 (die „Opticks“ von Newton werden veröffentlicht) eine Revolution der Naturwissenschaften stattfindet. Wie diese Revolution zugleich eine Art zu Denken und ein Vokabular einführt, das wir heute noch, völlig selbstverständlich, genauso verwenden. Wie letztlich unsere heutige Moderne entsteht. Dabei wird mit Vorurteilen, Selbstverständlichkeiten, Denkfehlern aufgeräumt, dass es einem ganz luftig im Kopf zumute wird. Trotz all der Details, die einem in demselben herumschwirren.
Image - Tycho Brahe in his observatory at the Castle of Ur

Mein Fazit

Toll. Die Zeit, dieses Buch zu lesen, sollte man sich nehmen. Man bekommt fast ein wenig Hochachtung vor dem Menschen und seinen geistigen Fähigkeiten, so mangelhaft sie auch sind, und versteht sich selbst und seine Umwelt hinterher besser. Mehr kann man von einem Buch doch eigentlich nicht verlangen, oder?

Etwas zu lesen zum Schluss

Ach so, vielleicht doch noch ein, zwei Zitate.

Eines von Descartes:
„Right understanding [unser Common Sense oder der gemeine Menschenverstand] is the most equally divided thing in the World; for every one beleeves himself so well stor’d with it, that even those who in all other things are the hardest to be pleas’d, seldom desire more of it than they have.“

Das andere von Wootton:
„(…) clocks provided an inpersonal mechanism for the coordination of community services (the saying of the offices in monasteries and cathedrals, the opening and closing of markets in town and cities). Egalitarian communities (cities, monasteries and cathedral chapters all chose their leaders through elections) are governed by the clock, while despotisms are not; clocks were given prominent, public places in monasteries, cathedrals and town halls, but they were slower to establish themselves in royal palaces. (…) These factors (…) were absent in China, and hence the Chinese admired clockwork but had no use for it.“
Daran kann man denken, sobald der eigene Chef (oder die eigene Chefin) einem den Terminplan ruiniert.
100 Years Carnegie: Newton: the Crucial Experiment

George Stubbs and the wide creation. Robin Blake

Bei einer Umfrage in Deutschland nach britischen Malern würde George Stubbs bestimmt weder gestützt noch ungestützt tolle Werte bekommen. In England sieht das schon besser aus, aber auch hier taucht er wahrscheinlich nicht unter den Top10 auf (auch wenn Jonathan Jones in seiner neuen Geschichte der britischen Kunst in sogar aufs Cover hebt! – siehe unseren Blogbeitrag).

George Stubbs – Tiermaler par excellence

Diese Beobachtung ist für George Stubbs, *1724, † 1806, durchaus typisch sogar zu seinen Lebzeiten.

Einerseits war er unter ferner liefen. Die Sujets, die er häufig malte, fallen in die Kategorie „Sonderinteressen“, meistens Tiere, vor allem Pferde. „Horse painter“ würden viele Engländer wahrscheinlich spontan über ihn sagen. Dabei hat er auch andere Tiere gemalt, Zebras, Nashörner, Affen, Kängurus und Elche.
Rhinoceros | Art UK Government puts export ban on George Stubbs' kangaroo and dingo ...Amazon.com: George Stubbs A Zebra, 1763 90x72 [Kitchen]: Prints ...
Das bringt einen natürlich nicht nach vorn in den Charts. Vorn, dort fand man im 18. Jahrhundert Historienmaler oder auch Porträtisten, die Maler der Großen, der staatstragenden Kunst, Maler wie Joshua Reynolds oder Thomas Gainsborough. Geholfen hat bestimmt nicht, dass Stubbs immer bodenständig war, pflichtbewusst, zurückhaltend. Kein Mann der Fassade mit überbordendem Sendebedürfnis und Sendungsbewußtsein.

Andererseits war er schon der Beste. George IV., als er noch Prinzregent war und George Augustus hieß, beauftragte Stubbs. Der sonstige Hochadel, angemessen stolz auf seine Pferdezucht und die hochdekorierten Rennpferde , kam um ihn nicht herum. In der Society of Artists, einem Vorläufer und dann Konkurrenten  der Royal Academy, war er eines der prominentesten Mitglieder. Und immerhin, eines seiner Gemälde, „Gimcrack mit einem Reitknecht auf Newmarket Heath“ erzielte bei einer Auktion den Preis von 48 Mio. $. Nicht schlecht für einen Tiermaler.
Gimcrack mit einem Reitknecht auf Newmarket Heath (George Stubbs)

Robin Blake – sensibler Biograph mit Augenmaß

Mit Robin Blake hat Stubbs endlich den richtigen Biographen gefunden. Er versteht etwas von Kunst – eine seiner anderen Biographien behandelt Anthony van Dyck. Rennpferde sind ihm eine Herzensangelegenheit. Er kann schreiben: Es ist beeindruckend, wie Blake immer wieder Dinge auf den Punkt bringt und mit wie wenigen Strichen er Atmosphäre und Charaktere schafft. Und er forscht gerne: Unter anderem ist es Blake gelungen, beim Durchstöbern von Kirchenbüchern herauszufinden, dass Stubbs bereits in jungen Jahren geheiratet hat, was vorher keiner bemerkt zu haben scheint.
Biography

Kleine Anmerkung zwischendurch: Die Ausgabe seiner Stubbs-Biographie von Ramdom House ist eigentlich ein Skandal und hat Blake nicht verdient. Selten habe ich Illustrationen so erbärmlicher Druckqualität gesehen. Ich frage mich tatsächlich, ob die sich etwas dabei gedacht haben?!

Anatomische Studien an Pferden

Schwer zu vergessen ist Blakes Schilderung davon, wie Stubbs von 1756 – 1759 in Horkstow, einem kleinen Ort in Lincolnshire, anatomische Pionierarbeit an Pferden leistet. Mit seiner Lebensgefährtin und Haushaltsperle – damals noch keine 20 Jahre alt – wuchtet er gemeinsam Pferdeleichen ins Obergeschoss, hängt eine faszinierende Vorrichtung an die Decke, um darin das Pferd in lebensechte Position zu bringen. Der Grund? Sicherlich Neugier, aber auch das Grundbedürfnis, so naturgetreu wie möglich zu malen. Und dafür muß man halt die Natur studieren. Gründlich. So wie schon Leonardo da Vinci, der in dieser Beziehung in Stubbs einen Nachfolger gefunden hat.
The first anatomical table of the skeleton of the horse by George ...

Stubbs, Erasmus von Rotterdam, Humbletonian und Herakles

Zuletzt möchte ich noch versuchen, eine Verbindung zwischen diesen etwas disparaten Namen herzustellen.

Erasmus von Rotterdam brauche ich, weil ich über ihn meinen letzten Blogbeitrag geschrieben habe (und weil er überhaupt nichts mit Stubbs gemein hat). Erasmus hat sich – unbescheiden wie er war – ganz gerne mit Herakles vergleichen. Seine extrem zeitaufwändige und nervenaufreibende Herausgeber-Arbeit an den Werken des heiligen Hieronymus hat er daher mit dem Begriff „die Mühen des Herakles“ bezeichnet.

Stubbs brauche ich natürlich auch, denn um ihn geht es hier. Blake berichtet über ihn: „Stubbs’s attachment to Hercules was great and long-lasting.“ Auch hat Stubbs drei große, leider verschollene, Gemälde mit dem griechischen Halbgott gemalt.

So weit, so gesichert.

Spekulativ wird es jetzt. Stubbs hat ein schon damals sehr umstrittenes Bild gemalt. Es zeigt eines der berühmtesten Rennpferde seiner Zeit – Name: Humbletonian – unmittelbar nach dem Gewinn eines der berühmtesten Pferderennen überhaupt. Das Bild ist so umstritten, weil Humbletonian erschöpft gezeigt wird, völlig erledigt nach einem Galopprennen über vier Meilen. So malt man keine Helden.
Hambletonian', Rubbing Down | Art UK

Humbletonian ist so erschöpft wie ein anderer Held, wie Herakles in einer der berühmtesten Skulpturen der Antike, dem Herakles Farnese. Er kann nicht mehr nach seinen zwölf Heldentaten, den Mühen des Herakles. Ein Kraftprotz, der nicht mehr kann und nicht mehr will und der vielleicht auch nicht weiß, wofür das alles gut gewesen ist.
Farnese Hercules | Hendrick Goltzius | 17.37.59 | Work of Art ...

Und damit hat sich der Kreis geschlossen.
George Stubbs – Wikipedia

Meine Bücher des Jahres 2018

Nach der Hitliste für 2017 jetzt zum zweiten Mal meine ganz persönliche Auswahl der besten, bewegendsten, überzeugendsten, beeindruckendsten Bücher, die ich im vergangenen Jahr gelesen habe.

Starten tue ich mit Dichtung:
Auch wenn ich das Buch noch nicht ganz fertig gelesen habe, hat sich die Classical Chinese poetry: An anthology von David Hinton bereits den Spitzenplatz gesichert. Hinton schafft es besser als die anderen Übersetzer, die ich bisher gelesen habe, klassische chinesische Gedichte so zu übertragen, dass man sie mit Gewinn und Genuß liest, ohne dass das wichtige Offene, Unbestimmte, Unklare, Ungesagte des chinesischen Originals dabei verloren geht. Die Gedichte bleiben bei Hinton letztlich chinesisch.
Ein Beispiel eines Zen-Buddhismus-affinen Dichters der Tang-Dynastie, der unter dem Namen „Kalter Berg“ läuft (aber bestimmt nicht so hieß, wenn es überhaupt eine einzelne Person gewesen ist):
„No one knows this
Mountain I inhabit:

Deep in white clouds,
Forever empty, silent.“

Ausführliche Besprechung folgt.

Nächste Kategorie, Sachbuch:
Mit Abstand vorne das neue Buch von Katrina van Grouw „Unnatural Selection“ über die Evolution domestizierter Tiere durch selektive Zucht. Klingt spröde, ist aber hoch-faszinierend, wenn einen Evolution auch nur ein wenig interessiert. Zusätzlicher Pluspunkt: Die wirklich exzellenten von der Autorin selbst gezeichneten Illustrationen.

Für mich eine wichtige Buchgattung, die Krimis:
Meine Entdeckung des Jahres war Josephine Tey, von der ich vorher noch nie etwas gehört hatte.  Unter all ihren Büchern für mich am Besten zwei davon, „The Franchise Affair“ und „Miss Pym disposes“. Tey hat sich getraut, ausgetretetene Krimi-Pfade zu verlassen, schreibt anspruchsvoll-belletristisch, bleibt dabei spannend und ist zum Glück nie brutal. Beide Krimis habe ich gar nicht besprochen, dafür aber einen dritten: „To love and be wise“.

Biographie?
Zwei Gewinner, weil beide ganz verschieden sind und jeweils ganz anders als andere Biographien.
Jonathan Spence hat mit „Emperor of China: Self-Portrait of K’ang-hsi“ eine als Autobiographie getarnte Biographie fast nur aus Originalzitaten Kangxis geschrieben und wirkt dabei völlig authentisch. Nicht zu vergessen: Kangxi ist ein überaus dankbares Subjekt dieser Biographie, ein differenzierter, nachdenklicher, intelligenter und selbstkritischer Mensch.
Christopher de Hamel dagegen hat gleich mehrere Biographien geschrieben, zwölf genau genommen, und zwar von mittelalterlichen Handschriften. Tolle Idee, toll umgesetzt. Der Titel: „Meetings with remarkable manuscripts“.

Und in der Belletristik?
Keine Überraschung hier, ein Literatur-Nobelpreisträger: Kazuo Ishiguros „The remains of the day“. Ganz großes vorsichtiges, subtiles, stilistisch und menschlich brillantes Kino.

Und das soll dann auch als Liste für dieses Mal reichen.

Bleiben die Fotos der glücklichen Gewinner:
David Hinton:
Translator David Hinton Takes on the I Ching | Books | Seven Days ...

Katrina van Grouw:
Unnatural Selection: An interview with Katrina van Grouw - Hoopoe ...

Josephine Tey:

Jonathan Spence:
Jonathan Spence Named 39th Jefferson Lecturer in the Humanities ...

Christopher de Hamel:
The Telegraph ~ Christopher de Hamel

Und Kazuo Ishiguro:
Kazuo Ishiguro wins Nobel Prize for Literature / Boing Boing

Viel Lesespaß in 2019!

 

Hawkwood: diabolical Englishman. Frances Stonor Saunders

Vermutlich gäbe es bei der Quizfrage, wer denn Hawkwood sei, nicht sehr viele Gewinner. Viele ratlose Gesichter, und auch der Einsatz eines Jokers würde wohl nicht helfen.

Dabei haben viele bereits ein Bild von ihm gesehen, fast alle, die bereits einmal in Florenz im Dom waren. Übersehen haben kann man es auch eigentlich nicht mit seinen mehr als 7 x 4 Quadratmetern!

John Hawkwood, * um 1320, † 1394, war ein englischer Söldnerführer, der vor allem in Italien aktiv war. Da sich Italiener mit der Aussprache seines Namens schwer taten – ‚H‘ und ‚W‘ sind traditionell keine Stärken -, lief er dort unter dem Namen Giovanni Acuto oder latinisiert Ioannes Acutus (siehe auch die Inschrift auf dem Fresko oben).

Hawkwood war während seiner Zeit so erfolgreich und berühmt oder vielleicht eher berüchtigt, dass er letztlich für alle auf ihn folgenden Söldnerführer Italiens (Jobbezeichnung: Condottiere) stilbildend wurde.  Grundlogik: Es geht nie um die Sache, sondern immer um den eigenen Vorteil; immer loyal, bis ein anderer mehr bietet. Dabei scheint Hawkwood trotz der geographischen Ferne immer seine Loyalität gegenüber dem englischen Königshaus gewahrt zu haben.

Soweit verstanden, aber andererseits: Was geht mich ein Söldnerführer des 14. Jahrhunderts in Italien an?

  • Dramatisch viel natürlich nicht, man lebt auch ohne Kenntnis Hawkwoods nicht schlecht.
  • Wenn man jedoch zum Beispiel gern nach Italien in die Toskana reist, erklärt einem die Geschichte Hawkwoods, warum Florenz, Siena, Lucca, Pisa als Städte so sind, wie sie sind, so eigenständig, wehrhaft, monolithisch, gegeneinander.
  • Man erfährt nebenbei viel über die traditionelle Zurückhaltung, die es zwischen England und Frankreich gibt, denn man befindet sich mitten im Hundertjährigen Krieg.
  • Kirchengeschichtlich kommt man ebenfalls weiter, denn die Päpste waren in diesem Krieg auch fleißig beteiligt. Obendrein lernt man über das Exil der Päpste in Avignon und das abendländische Schisma in der katholischen Kirche mit jeweils mehr als einem (immer moralisch zweifelhaften) Papst pro Zeiteinheit.
  • Außerdem, wenn man einmal das Söldnerprinzip verstanden hat, kann man auch die Risiken und Nebenwirkungen verstehen, die damit auch in heutiger Zeit verbunden sind, wenn Staaten Söldner für die etwas schmutzigeren Dinge des Kriegslebens einsetzen, um es dann selber nicht gewesen zu sein.

Und das Buch von Frances Stonor Saunders?

  • Ist ausgesprochen flott geschrieben. Man legt es nicht leicht aus der Hand!
  • Verwebt äußerst gelungen Biographie Hawkwoods mit der Geschichte seiner Zeit und der Kulturgeschichte des späten Mittelalters.
  • Ist alles andere als trocken, sondern bietet Mittelalter in Reinkultur, inkl. der Dinge, die nicht gut riechen. Stonor Saunders zeigt – zurecht – wirklich keine falsche Zurückhaltung.

Und was hat mich besonders beeindruckt?

  • Die Beschreibung Katharinas von Siena, die einen deutlichen Gegenakzent zur katholischen Hagiographie setzt. Hier ist Stonor Saunders Kapitel „Under-Eating“ besonders eindringlich:
    „Having conquered her disgust by ‚drinking from the cancer‘ of a woman she was nursing, Catherine drank the pus from the open sores of those to whom she ministered. The self-flagellation continued, and, as she denied herself food, this healthy young woman became attenuated and wasted.“
  • Ihre Bemerkungen zu dem Bild im Dom von Florenz, das übrigens Paolo Uccello gemalt hat: Mir war nicht aufgefallen, dass das Gesicht Hawkwoods auf diesem Fresko ganz eingefallen ist und leichenhaft wirkt. Dies stellt Stonor Saunders in den Zusammenhang des Transi, einer besonderen Form der Grabplastik, bei der der Körper des Verstorbenen zweimal dargestellt wird, einmal bereits im Stadium der Verwesung. Außerdem weist sie darauf hin, dass Hawkwood auf seinem weißen Pferd in seiner hellen Rüstung sehr an den fahlen Reiter auf dem fahlen Pferd in der Apokalypse erinnert. Was natürlich sehr zu seinem Söldner-Dasein passt….

Also: ein bereichernder, anregendes, sehr gut lesbares Buch von einer sehr intelligenten, gebildeten und vor allem unerschrockenen Autorin. Lesen!

Hühner-Gegacker. Hrsg. von Simone Schiffner-Backhaus

Hühner-Eier und Strom haben etwas gemeinsam: Viele wissen nicht (und/oder es ist ihnen auch egal), wie und wann sie produziert werden. Im einen Fall brauche ich nur in den Supermarkt gehen und kann einladen, so viele Eier ich mag. Im anderen kommt das Gebrauchte einfach aus der Steckdose und fertig.

Bücher über Energie, Energiewende, Umwelt gibt es viele. Nicht alle sind charmant. Bücher über Hühner sind seltener. Und sie sind in der Regel sehr nett.

Hühner-Gegacker, die neueste Erscheinung (Oktober 2018!) im Hühnersegment des deutschsprachigen Buchhandels, ist ebenfalls sehr nett. Und sehr anders.

Mehr als ein Dutzend Hühnerfreunde und Autoren haben sich zusammengetan, um dieses Buch entstehen zu lassen. Die Autoren sind querbeet: von 8 bis über 80 Jahre alte, von Hobby- bis Sachbuchautor und Vogelexperte. Von einer der Autorinnen, Katrina van Grouw, hat dieser Blog bereits zwei Bücher, erschienen in der Princeton University Press, ziemlich positiv besprochen. Ebenso bunt gemischt die Beiträge: wahre Geschichten, erfundene Märchen, ornithologische und historische Artikel, Gedichte. Die zum Teil exzellenten Illustrationen passen in diese Reihe. Allem merkt man an, dass es Spaß gemacht hat. Fast so bunt und abwechslungsreich wie die Vielfalt der Hühnerrassen. Gar nicht einfach, es in diesem Blog einer Kategorie zuzuordnen!

Sehr gut zum Lesen zwischendurch, ebenso zum Verschenken oder nur zum Durchblättern.

Mal schauen, ob es ein Bestseller in diesem Bücherherbst wird. Das wäre eine – durchaus verdiente – Überraschung.

The Landscape of Ideas. Patrick Nuttgens

“The Landscape of Ideas” von Patick Nuttgens ist ein Buch über den “Sinn” der wichtigsten Architektur-Stile.

Landscape of Ideas

Um es vorneweg zu sagen: das Buch ist alt. Erschienen 1972. Und gleich noch etwas: ich habe drei Anläufe gebraucht, dieses Buch bis zum Ende zu lesen. Obwohl es nur 109 Seiten besitzt und voll schöner Illustrationen ist. Wer nun jedoch meint, es sei ein schlechtes Buch, liegt falsch.

Der Ansatz ist mutig

In kurzen Kapiteln von 10 bis 20 Seiten Länge bringt Nuttgens auf den Punkt, welchen Grund, welche Ideale, welche Bedeutung die wichtigsten Architektur-Stile Europas haben. Das ist ein Ansatz, der für einen platten Taschenbuch-Ratgeber passen würde; im Sinne von „Was Sie über die Renaissance wissen sollten“. Aber platt ist der Autor ganz und gar nicht. Deshalb packt er in 10 Seiten so viele Ideen hinein, dass man den Impuls verspürt, nach jedem Absatz erst einmal gründlich zu denken. Keine schlechte Leistung! Die Sprache des Autors allerdings leistet ihren ganz eigenen Beitrag zu mangelnder Verständlichkeit…

„Essentially there were two contrasts – the contrast of enclosure and open space, and the contrast of natural and manmade. We can now go on to see how they can be seized upon and exploited to make a deliberately sacred landscape. It can be created by the manipulation of such inevitable contrasts (…). One such was very deliberate: the contrast of light and dark. (…) The environment created by the Greeks of the Hellenic period can be said to express an idea; (…) because, they developed an eye for combinations of landscape features as expressive of particular holiness. They went further. They placed in that landscape temples and subsidiary buildings so as to complement, or sometimes contradict, the “meaning that was felt in the land”.”

Inhalt

Die Kapitel thematisieren die Zeit von der Prähistorie bis in die 1960er Jahre. Die Kapitel hierzu befassen sich mit

  • Prähistorie: The functional environment
  • Griechische Antike: The landscape oft the gods
  • Gothik: The metaphysics of light
  • Renaissance und Barock: Calculated nature
  • England um 1900: The common or garden city
  • 1960er Jahre: The man in the clover leaf

Ausblick auf die Zukunft aus Perspektive der 1960er

Das Buch ist heute noch lesenswert, da es kluge, intellektuell anspruchsvolle Ideen formuliert und weiterhin Hypothesen zur künftigen Entwicklung enthält, die sich im Rückblick vielleicht als weise erwiesen haben. Interessant ist der Nachruft zu Nuttgens im Telgraph.

„Here then is a world which is man-made, dominated by technology and made possible by power. It is characterized by movement and flow, by the need for technical information and a know-how recognized by society, by conformity to the patterns that that society demands. The person dependent upon or subject to all these forces is urban or technopolitan man, herded into privacy and isolation, hopelessly dwarfed by the huge scale that technology requires. He is the man in the clover leaf (Kleeblatt-Autobahn-Kreuz) and he contrasts with the man in the fig leaf, the man living in nature and simplicity with God around the corner.”

Black and british: a forgotten history. David Olusoga

2016 erschienen. Ein mutiges Buch. Überfällig. Gelungen. David Olusogas Geschichte über das Verhältnis zwischen Großbritannien und seiner nicht-weißhäutigen Bevölkerung ursprünglich afrikanischer Abstammung, auf Englisch: den „black British people“.

Beginnen möchte ich mit Ratlosigkeit: Wie nennt man diese Bevölkerungsgruppe eigentlich auf deutsch, ohne in irgendeiner Ecke zu landen? Da ich hierfür keine Antwort habe und finde, behelfe ich mich mit der (relativ) anerkannten englisch-sprachigen Variante. Apropos: Genau unter „Black British“ findet sich bei Wikipedia ein ausgezeichneter Beitrag, vielleicht sogar auch von David Olusoga.

Unbedingt lesenswert übrigens auch, bevor man mit dem Buch startet: ein Interview mit Olusoga im Guardian.

Warum schätze ich dieses Buch von Olusoga?

Ein weiter historischer Bogen
Olusoga beginnt in der Antike und endet im frühen 21. Jahrhundert. Alleine der Hinweis, dass es bereits zum Beispiel in der Römerzeit „Black British“-Personen in Großbritannien gegeben hat, erweitert das Blickfeld. Das Thema ist nicht neu.

Alle Seiten werden gehört
Typischerweise lässt Olusoga bei wichtigen Weichenstellungen der Geschichte alle Parteien zu Wort kommen. Das hilft den Lesern sehr dabei, eine eigene Haltung entwickeln zu können. Gut auch: Olusoga hält mit seiner eigenen Einschätzung nicht hinter dem Berg, ohne sie missionierend oder dogmatisch zu verfechten.

Keine Berührungsängste
Olusoga schildert auch Ereignisse, Meinungen, Denkmuster, die auch heute noch bestimmt für viele Briten unangenehm sind (wie sie das wahrscheinlich auch für viele Deutsche wären, wenn man sie mit ihrer ebenfalls wenig ruhmreichen Geschichte in Berührung bringt). Er tut dies betont sachlich, kenntnisreich, ausgewogen. Er sucht keine billigen Effekte.

Gute Mischung aus Überblick und Details
Für mich als Leser gelingt Olusoga eine gute Balance. Ich habe den Eindruck, gut informiert zu werden. Die Details überlasten nicht. Der gebotene Überblick hat die nötige Tiefe.

Neuland
Zwar gab es natürlich schon eine ganze Reihe wissenschaftlicher Abhandlungen zu Einzelthemen vor diesem Buch von Olusoga. So weit ich weiß, ist dieses Buch aber die erste substanzielle populärwissenschaftliche Gesamtdarstellung. Also ein bahnbrechender aktueller Klassiker.

Erhellend
Mir war nicht bewusst, wie systematisch die britische Geschichtsschreibung um das Verhältnis zu den Black British bereinigt wurde und wird. Dass die Plantagen im britischen Nordamerika und in der Karibik ihren wirtschaftlichen Erfolg der Sklavenarbeit verdankten, wurde in weiten Teilen z.B. der Literatur nicht angesprochen (siehe Jane Austens „Mansfield Park“!). Dass im ersten Weltkrieg viele Black British Soldaten mitkämpften, konnte man auf der Siegesparade nicht erkennen: Sie durften nicht mit dabei sein.

Die Resistenz der Vorurteile
Nicht zuletzt bringt Olusoga bedrückend viele Belege dafür, dass die Menschheit nicht recht lernt. Wenn es um den eigenen Vorteil geht oder einfach nur eng wird, kommt dem Menschen jede Minderheit immer gerade recht. Wenn diese Minderheit dann auch noch wegen ihrer Hautfarbe auffällig ist, hat sie erst recht Pech gehabt. Und Vorteile können gar nicht so dumm, so böswillig und so widerlegt sein, als dass sie nicht weiter Verwendung und Zustimmung finden.

Ein gutes Buch für Menschen, die mehr wissen wollen und Aufklärung schätzen.

Hut ab übrigens vor Großbritannien: Die BBC hat sogar eine Fernsehserie zu diesem Buch gedreht. Allerdings: Auf DVD gibt es sie leider nicht.

Ohne Gnade – Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA. Bryan Stevenson

GASTBEITRAG VON MACHI

„Ohne Gnade“ von Bryan Stevenson

Im deutschen Strafrecht gilt der Grundsatz „in dubio pro reo“ – „im Zweifel für den Angeklagten“. Daraus und aus dem hohen Stellenwert, den die Menschenwürde einnimmt, folgt der in der deutschen Justiz geltende Gedanke „lieber zehn Schuldige freizusprechen, als einen Unschuldigen zu verurteilen“.

Auch in den USA gilt die Unschuldsvermutung, doch scheint man dort wenig Wert darauf zu legen. Diesen Eindruck vermittelt zumindest das Buch „Ohne Gnade“ des US-amerikanischen Strafverteidigers Bryan Stevenson, der die in den USA herrschende Justizwillkür genau unter die Lupe genommen hat.

Laut Stevenson lebt in den Vereinigten Staaten ein größerer Prozentsatz der Bevölkerung im Gefängnis als in irgendeinem anderen Land der Welt. Die Zahl der Häftlinge stieg in den letzten 40-50 Jahren von 300.000 auf 2,3 Millionen an, was keinesfalls daran liegt, dass die Menschen dort krimineller werden, sondern mitunter daran, dass viele private Gefängnisbetreiber Millionen Dollar an Politiker spenden, damit diese neue Delikte erschaffen und längere Strafrahmen ermöglichen, wovon die privaten Gefängnisse wiederum finanziell profitieren. Pro Jahr gibt die USA fast 80 Milliarden Dollar für Haftanstalten aus, wobei es 1980 noch 6,9 Milliarden Dollar waren. In 23 Bundesstaaten gibt es kein Mindestalter, ab dem Kinder nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden können. Seit 1973 wurden 144 Todeskandidaten nachträglich für unschuldig befunden und freigesprochen.

Neben diesen und vielen weiteren erschütternden Fakten und Zahlen liefert Stevenson Einblicke in die Schicksale seiner Mandaten – Männer, Frauen und Kinder, die viel zu voreilig und gnadenlos verurteilt wurden.

Männer wie Walter McMillian, der zu Unrecht im Todestrakt landete, obwohl mindestens 20 Zeugen bestätigen konnten, dass er zur Tatzeit ein Alibi hatte, und dessen Prozess ausschließlich von Korruption geprägt war.

Frauen wie Marsha Colbey, die nach einer Totgeburt wegen Mordes verurteilt wurde, obwohl es keine stichhaltigen Beweise dafür gab, dass das Kind bei Geburt lebte.

Und Kinder wie der 14-jährige Charlie, der den gewalttätigen Freund seiner Mutter nach einer heftigen Auseinandersetzung, nach welcher er seine Mutter tot glaubte, aus Verzweiflung erschoss und später nach Erwachsenenstrafrecht angeklagt und zum Tode verurteilt wurde, da der besagte Freund ein Polizeibeamter war.

Diese und andere Fälle verdeutlichen wie leichtfertig die Justiz in den USA Menschen lebenslänglich wegsperrt und zum Tode verurteilt, anstatt sich damit auseinander zu setzen, ob sie tatsächlich schuldig sind oder wie man sie resozialisieren und wieder in die Gesellschaft eingliedern könnte.

An dieser Stelle tritt Bryan Stevenson ein, um den Verurteilten eine Stimme zu geben und humanere und verhältnismäßige Urteile zu erwirken.

Abgesehen von einigen Grammatik-und Rechtschreibfehlern der deutschen Übersetzung, über die man jedoch aufgrund des fesselnden Inhalts gut hinwegsehen kann, ist das Buch jedem zu empfehlen, der sein Gerechtigkeitsempfinden verstärken und über das gegenwärtige massive Unrecht in den USA informiert sein möchte.

Re-creating Ourselves – African Women & Critical Transformations. Molara Ogundipe-Leslie

Dieses Buch beschreibt die Rolle afrikanischer Frauen in verschiedenen Kulturen und unterschiedlichen historischen Kontexten aus einer feministischen Perspektive.

Ich habe es in einem Buchladen für gebrauchte Bücher gekauft. Nach dem Kauf hatte ich gemischte Gefühle und Erwartungen.

Was ist gut an „Re-creating Ourselves“?

Viele Aspekte waren für mich ganz und gar neu. So zum Beispiel die Möglichkeit von Frauen in afrikanischen Kulturen, eigenständig unternehmerisch tätig zu sein, Ämter zu bekleiden, oder der Schutz, den traditionelle Gemeinschaften Frauen vor der Gewalt ihrer Ehemänner bieten konnten.

Faszinierend finde ich, dass Frauen in der Familie des Vaters oder Bruders männliche Rollen annehmen konnten: Sie konnten in einer Männerrolle „heiraten“ oder die Rolle eines Sohns einnehmen.

Die auch in den traditionellen Gesellschaften mit angelegten Tendenzen, Frauen gering zu schätzen, bekam eine äußere Verstärkung durch die Kolonialmächte: Diese besetzten alle irgendwie relevanten Machtpositionen von Schwarzen immer mit Männern. Hierdurch unterhöhlten oder zerstörten sie potenziell ausgleichende Strukturen, die auch Frauen eingebunden hatten.

PROF.OGUNDIPE.jpg

Mit Leidenschaft und Sachkenntnis geht Ogundipe-Leslie die Haltung an, sich zum Sprecher oder zur Sprecherin ungebildeter Frauen aus dem ländlichen Raum zu machen, egal wie gut die Absicht. Sie insistiert darauf, dass auch diese Frauen etwas zu sagen haben und dass man Wege finden muss, sie zu hören.

Ogundipe-Leslie wendet sich ebenfalls gegen eine – nach ihrer Analyse – übliche moderne Rollenzuschreibung für Frauen: Die afrikanische Frau sei dazu da, die Gegenwart mit der traditionellen Vergangenheit zu verbinden; die Männer hätten die Aufgabe, die Gegenwart auf die Zukunft auszurichten.

Was ist weniger gut?

Die für mich eher ungewohnte Schriftsprache von wissenschaftlichem afrikanischem Englisch war für mich nicht immer einfach zu lesen. Insgesamt war das Buch prima, aber mit 253 Seiten zu lang.

Inhalt: Kapitel-Auswahl

  • African Woman, Culture and Another Development
  • Studying Women Through Literature: Theses on Rural Women in Africa
  • The Proletarian Novel in Africa
  • The Representation of Women
  • The Bilingual to Quintulingual Poet in Africa
  • Sisters are not Brothers in Christ

Die Autorin von „Re-creating Ourselves“

Omolara oder Molara Ogundipe-Leslie wurde 1940 geboren. Sie ist eine nigerianische Dichterin, Kritikerin und Feministin. Sie gilt als wegweisende afrikanische Schriftstellerin zu den Themen Afrikanischer Feminismus, Literaturtheorie und Gender Studies, sie ist eine Gesellschaftskritikerin und anerkannte Authorität zu afrikanischen, schwarzen Frauen. Zu ihrer Bekanntheit haben die Bücher beigetragen „Not Spinning on the Axis of Maleness“ und die Anthologie „Sisterhood Is Global: The International Women’s Movement Anthology“.

„Born Abiodun Omolara Ogundipe in Lagos, to a family of educators and clergy, she graduated (BA English Honours) as the first Nigerian with a first-class degree from the University of London. She later earned a doctorate in Narratology (the theory of narrative) from Leiden University, one of the oldest universities in Europe. She has taught English Studies, Writing, Comparative Literature and Gender from the perspectives of cultural studies and development at universities in several continents. She rose to prominence early in her career in the midst of a male-dominated artistic field concerned about the problems afflicting African men and women.“ (Wikipedia)

Zum Buch

“Re-creating Ourselves” ist eine Art Bestandsaufnahmen in der Form von Aufsätzen. Ein wichtiger Aspekt ist hierbei, zu dokumentieren, zu welchem Anlass eine Rede gehalten oder ein Aufsatz erschienen war. Dies führt zu vielen inhaltlichen Wiederholungen. Das Buch ist 1994 erschienen. Die Autorin folgt einem marxistisch-feministischen politischen Ansatz.

Weitere Bücher zu Afrika:

The First Artists – in Search oft the World´s Oldest Art. Michel Lorblanchet und Paul Bahn

„The First Artists” stellt die frühesten Artefakte der Menschheit vor und beschäftigt sich mit der Frage, wie alt diese frühen Zeugnisse sind. Das meiste ist verloren: Körperbemalung und Federschmuck erhalten sich nicht. Was bleibt, sind Bearbeitungen von extrem haltbaren Materialien wie Stein oder manchmal Knochen.

Wie alt ist die älteste Kunst?

Vor 3 Mio. Jahren sammelten Hominiden ungewöhnlich aussehende Steine und Fossilien. Rote Ocker-Farbe – durch Erhitzen entstanden – wurde zum Malen bereits vor mindestens 300.000, vielleicht sogar 400.000 Jahren verwendet. Die Verwendung von Pigmenten – auch schwarzem Mangan-Dioxid – trat stärker vor 70.000 und 40.000 Jahren auf. Steinwerkzeuge entstanden bereits vor 2,7 Mio. Jahren. Handäxte, die vor ca. 500.000 Jahren entstanden, zeigen deutlich, dass neben dem Verwendungszweck ästhetische Kriterien für das Werkzeug eine Rolle spielten. Figurative Darstellungen sowohl auf Landmarken wie in transportabler Form lassen sich seit der Zeit vor 35.000 bis 40.000 Jahren belegen. Das ist lange her…

„Current research may soon confirm that, before modern humans, Neanderthals were the first artist-painters on walls, through a few modest productions: dots, hand stencils and peckings.”

Ganz und gar verblüfft hat es mich, dass die ganz frühen Höhlenmalereien dadurch entstanden, dass Farbe mit dem Mund auf die Wandflächen gesprüht wurde.

Kratzspuren von Bären oder Finger-Malerei?

Die Autoren gehen in ihrem Buch chronologisch vor, zeigen und besprechen typische Beispiele von Artefakten. Besonders gut gefällt mir die Gegenüberstellung von Beispielen, die für mein laienhaftes Auge völlig gleich aussehen, von denen dann jedoch eines tatsächlich von Menschen gemacht und ein anderes zum Beispiel durch Bären verursacht wurde.

Pochen auf wissenschaftliche, archäologische Methode

Das Buch von Lorblanchet und Bahn zeichnet sich dadurch aus, ein gründliches, nachdenkliches Buch zu sein, in welchem Argumente, Hinweise und Belege unterschieden und jeweils klar benannt werden. Die spontane, zündende Idee, der alles andere weichen muss, ist nicht die Sache der Autoren. Dies macht ihr Buch manchmal etwas trocken, hin und wieder schwer zu lesen. Aber das, was sie sagen, hat Hand und Fuß. Ihr Buch gibt den Forschungsstand zu prähistorischer Kunst weltweit wieder. Zusätzlich bieten sie ein gut belegtes Plädoyer, immer und bei jeder Gelegenheit die Werke systematisch zu untersuchen, damit überhaupt eine Basis für das Verständnis früher Kunst vorhanden ist.

Nicht alles ist Kult

Ganz besonders ist Lorblanchet und Bahn das emotionale, einfühlende Verständnis mancher Wissenschaftler ein Graus, die lieber überall die Beweise für kultisches Handeln der frühen Menschen sehen wollen, als eine methodisch angemessene, wissenschaftliche Bestandsaufnahme von Funden zu machen. An mehreren Bespielen zeigen die Autoren in „The First Artists“, dass vermeintliche geometrische Kratzspuren auf Knochen der natürlichen Zersetzung des Materials geschuldet oder scheinbar gemalte Figuren nur die Folge von Geschiebe im Gestein sind…

Und irgendwie gelingt es den Autoren, so ganz ohne wahrnehmbare Bosheit einfach nüchtern Fazit der Belege zu ziehen. Beeindruckend.

Außerdem interessant sind

  • Der Film „Die Höhle der vergessenen Träume“ von Werner Herzog über die Malereien in der Höhle von Chauvet
  • „The Mind in the Cave“ von David Lewis-Williams
  • “Visions from the Past – The Archaeology of Australian Aboriginal Art” von M. J. Morwood mit vielen schönen Fotos