Pure pleasure: A guide to the 20th century’s most enjoyable books. John Carey

Warum sollte man sich nicht inspirieren lassen von den Lese-Empfehlungen eines Englisch-Professors, der ein Faible für lesbare Bücher hat? Besonders wenn die Worte „pleasure“ und „enjoyable“ dabei fallen? Dachte ich und bestellte „Pure pleasure: a guide to the 20th century’s most enjoyable books“ von John Carey, dessen Autobiographie ich schon an anderer Stelle wärmstens empfohlen habe.

Der Verlag hat’s nicht richtig gut gemeint mit Carey: Der Einband passt gar nicht zu „pleasure“ und „enjoyable“…

Zum Glück macht das der Inhalt wett. Insgesamt 50 Werke stellt Carey vor, chronologisch sortiert, nicht nur (aber vor allem) englische Texte, nicht nur (aber vor allem) Belletristik, (fast) immer auf drei Seiten, meistens (aber nicht ausschließlich) nicht die Werke, an die man sowieso denkt, sondern die etwas unbekannteren Meisterwerke aus der zweiten Reihe. Von James Joyce „A portrait of the artist as a young man“ gehört dazu, George Orwells „Coming up for air“, Seamus Heaneys „Death of a Naturalist“, Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“.

Die Auswahl ist anregend: Nicht alle Werke kenne ich, von manchen hatte ich noch nicht einmal gehört (z.B. Chestertons „The man who was Thursday“), auch einige Autoren waren mir nicht geläufig (z.B. S.J. Perelman). Man wird zum Lesen inspiriert, denn Carey hat großes Geschick darin, das Besondere herauszuarbeiten, einzelne Facetten und Zitate funkeln zu lassen. Das Lesen macht Spaß, denn Carey kann schreiben.

Zwei Einschränkungen dennoch: Nicht alle Bücher würde ich unter „Pure pleasure“ einsortieren, da sie inhaltlich gar zu biestig sind (z.B. Ian McEwans „The cement garden“). Und die Beiträge sind nicht alle auf demselben hohen Niveau. Diese Einschränkungen sind aber schon etwas nickelig und sollen die Empfehlung nicht dämpfen.

Ein Beispiel des Carey-Funkelns zu Elizabeth Bowens „The house in Paris“:
„Her dialogues are (…) compunded of terse, brainy rhetoric like an intellectual game. She keeps producing sentences that you want to learn by heart to help you understand life better. It is true that she could not write as she does of she had not read Henry James first. But she goes beyond her Mentor. He is James plus sex. Besides, James was male, by and large, whereas Bowen is female to her fingertips, and knows things men do not. Perhaps that is why men tend not to read her. It is also why they should.“

Hippolytos. Euripides

Alle Personen sind unsympathisch. Ob das Absicht ist?
Die antike Tragödie „Hippolytos“ – genauer: „Der bekränzte Hippolytos“ (im griechischen Original: Ἱππόλυτος στεφανοφόρος) – wurde von Euripides im Jahr 428 vor unserer Zeitrechnung in Athen geschrieben und beim Fest der Dionysien aufgeführt. Er gewann den ersten Preis.

Damit gelang ihm – neben Aischylos und Sophokles einem der drei Großen der antiken Tragödie – ein Stück Weltliteratur und ein echter Klassiker des Theaters.

Der Inhalt ist schnell erzählt:
Phaidra, Ehefrau von Theseus, verliebt sich in ihren Stiefsohn Hippolytos. Ihr ist das sehr peinlich und sie wird deshalb fast krank (siehe Bild) – er möchte davon nichts wissen, denn als frommer Anhänger von Artemis hat er Keuschheit geschworen.

Weil das Geheimnis ihrer unangemessenen Liebe öffentlich geworden ist, tötet sich Phaidra und beschuldigt Hippolytos in ihrem Abschiedsbrief, sie sexuell belästigt zu haben. Als Theseus dies liest, verbannt er seinen Sohn und bittet gleichzeitig seinen eigenen Vater Poseidon, Hippolytos zu töten. Dies geschieht, und alle sind verzweifelt (oder tot).

Spannend ist diese Tragödie überhaupt nicht und sollte sie auch nie sein. Die meisten Zuschauer damals in Athen kannten den Mythos ohnehin. Und für alle, die ihn nicht kannten, tritt gleich am Anfang Aphrodite auf und verrät alles Wesentliche des Plots.

Faszinierend ist sie wegen der Zeichnung der Charaktere und der ausgezeichneten Sprache.

Wie gesagt, unsympathisch sind sie alle. Letztlich könnten Phaidra, Hippolytos und Theseus auch zu einer Königsfamilie gehören, die wöchentlich in der Bunten und im Bild der Frau auftritt. Phaidra, die schöne Ehefrau von Theseus, Tochter der skandalumwitterten Familie von Minos und Pasiphae, neigt zu hysterischen Anfällen und lässt sich leicht von anderen beeinflussen. Theseus, auch Spross einer Königsfamilie, ein klassischer Muskelprotz und Raufbold mit kurzem Geduldsfaden und wenig Neigung zu intellektuellem Diskurs, ist wegen eines Mordes gerade in der Verbannung. Hippolytos, passionierter Jäger, Freund schneller Wagen und gleichzeitig ein religiöser Fanatiker, hasst alle Frauen, findet sich selbst aber ganz toll. Alle sind sie eitel und auf ein positives Image in der Öffentlichkeit aus.
Die Götter – ebenfalls dem Jetset durchaus vergleichbar – sind übrigens auch nicht besser. Die ganze Geschichte wird angezettelt, weil Aphrodite, die Göttin der Liebe, sich an Hippolytos dafür rächen will, dass er Artemis Gefolgschaft und damit Keuschheit geschworen hat. Und Artemis kann ihm da auch gerade nicht helfen, weil eine griechische Götterkrähe der anderen die Augen nicht auskratzt. Immerhin stellt sie zum Schluss seine Ehre wieder her, da sie die Verleumdung durch Phaidra aufdeckt – und sie droht, als Nächstes ihrerseits aus Rache an Aphrodite den Tod eines Liebes-Anhängers zu befördern.

Also alle so wie wir alle.

Wie Euripides sprachlich alle Konflikte auf ihre Essenz bringt und sie pointiert-nuancenreich formuliert, wie er die Charaktere mit wenigen Worten umreisst, wie modern sein Menschenverständnis ist, wie poetisch er schreiben kann, ist ein echter Genuss.

Besonders beeindruckend vielleicht eine längere Rede von Hippolytos, in der er seinem Frauenhass Ausdruck verleiht (Verse 617ff.) – schon die ersten beiden Verse reichen fast:
„ὦ Ζεῦ, τί δὴ κίβδηλον ἀνθρώποις κακὸν
γυναῖκας ἐς φῶς ἡλίου κατώικισας;“
„Was hast du doch der Menschen gleißend Ungemach,
Die Fraun, o Zeus, an dieses Sonnenlicht gebracht?“

Oder später:
„τούτωι δὲ δῆλον ὡς γυνὴ κακὸν μέγα•
προσθεὶς γὰρ ὁ σπείρας τε καὶ θρέψας πατὴρ
φερνὰς ἀπώικισ‘, ὡς ἀπαλλαχθῆι κακοῦ.“
„Dass Fraun ein großes Übel sind, beweist ja dies:
Ihr Vater, ihr Erzieher gibt noch reichen Schatz
Und läßt sie ziehen, um des Übels los zu sein.“

Poetischer eine Chorpartie (Verse 732ff.):
„ἠλιβάτοις ὑπὸ κευθμῶσι γενοίμαν,
ἵνα με πτεροῦσσαν ὄρνιν
θεὸς ἐν ποταναῖς
ἀγέλαις θείη•
ἀρθείην δ‘ ἐπὶ πόντιον
κῦμα τᾶς Ἀδριηνᾶς
ἀκτᾶς Ἠριδανοῦ θ‘ ὕδωρ,
ἔνθα πορφύρεον σταλάσσουσ‘
ἐς οἶδμα τάλαιναι
κόραι Φαέθοντος οἴκτωι δακρύων   
τὰς ἠλεκτροφαεῖς αὐγάς•“
„Könnt ich in Tiefen der Waldschluchten gelangen,
Wo mich als beschwingten Vogel
In geflügelten Schwärme versetzt ein Gott,
daß ich könnte zu Adrias
Ferner Flut mich erheben,
Hin zum Strom des Eridanos,
Wo von Helios‘ armen Töchtern
Im Jammer um Phaethons Ende
Hinab in die düstre Brandung
Sich ergießt bernsteinschimmernder Tränenglanz.“

A book forged in hell: Spinoza’s scandalous treatise and the birth of the secular age. Steven Nadler

Schlimmer verflucht als ihn hatte man noch keinen in der Amsterdamer Gemeinde, weder früher noch später. Baruch Spinoza, 23 Jahre alt, Jude von Geburt und Philosoph aus Neigung im 17. Jahrhundert, muss fliehen:

„Mit dem Urteil der Engel, mit dem Ausspruch der Heiligen, mit der Zustimmung des Gebenedeiten Gottes und dieser ganzen heiligen Gemeinde und dieser heiligen Bücher, mit den Sechshundertdreizehn Geboten, die in ihnen geschrieben sind, mit dem Fluch, mit dem Joshua Jericho verflucht hat, und mit dem Fluch, mit dem Elisha die Burschen verflucht hat, und mit allen Flüchen, die im Gesetz geschrieben sind, verbannen, verstoßen, verwünschen und verfluchen wir Baruch de Espinosa. Verflucht sei er bei Tag und verflucht sei er bei Nacht, verflucht sei er, wenn er sich hinlegt, verflucht sei er, wenn er aufsteht, verflucht sei er, wenn er hinein geht und verflucht sei er, wenn er hinaus geht. Möge ihm der Herr, der dann in diesem Mann, in dem alle Flüche, die im Buch dieses Gesetzes geschrieben sind, liegen werden, seinen Zorn und Missgunst zum Brennen und, mit allen Flüchen des Himmels, welche im Buch des Gesetzes geschrieben sind, seinen Namen unter dem Himmel auslöschen und, zu seinem Übel, aus allen Stämmen Israels entfernen wird, nicht verzeihen. Und ihr, die dem Herrn, eurem Gott, ergeben seid, seid alle heute am Leben. Wir warnen, dass niemand mit ihm weder mündlich noch schriftlich kommunizieren noch ihm irgendeinen Gefallen tun noch mit ihm unter einem Dach noch ihm näher als vier Ellen sein noch irgendein von ihm geschriebenes Blatt lesen darf.“
Hier das Original in Portugiesisch (die Amsterdamer Juden waren Sepharden mit Portugiesisch bzw. Spanisch als offizieller Sprache):

Die Christen waren da gerne mit dabei, sogar Leibniz regte sich auf. Der katholische Index verbotener Bücher war um einen Titel reicher. Man war sich einig: Ein schlimmer, gottloser, umstürzlerischer Mensch. Er muss weg. Und vor allem auch seine Bücher!

Neugierig auf Spinoza wurde ich durch die Philosophiegeschichte von Anthony Gottlieb.
An den Originaltext seines „Tractatus theologico-politicus continens dissertationes aliquot, quibus ostenditur Libertatem  Philosophandi non tantum salva Pietate, & Reipublicae Pace posse concedi: sed eandem nisi cum Pace Reipublicae, ipsaque Pietate tolli non posse“ habe ich mich noch nicht gewagt. Allerdings ist die Neugier nach dem Lesen des Buchs von Nadler noch größer geworden.

Der Grund der Aufregung?
Logisch sauber argumentiert und auch für Nicht-Philosophen sehr gut zu verstehen, zerlegt Spinoza so ziemlich alles, was den Mächtigen in Politik und Religionen für ihren Machterhalt (und vielleicht auch für ihren Glauben) wichtig war. In der Zusammenfassung der wichtigsten Punkte von Nadler:
„Spinoza was the first to argue that the Bible is not literally the word of God but rather a work of human literature; that ‚true religion‘ has nothing to do with theology, liturgical ceremonies, or sectarian dogma but consists only in a simple moral rule: love your neighbor; and that ecclesiastic authorities should have no role whatsoever in the governance of a modern state. He also insisted that ‚divine providence‘ is nothing but the laws of nature, that miracles (…) are impossible and belief in them is only an expression of our ignorance of the true causes of phenomena, and that the prophets of the Old Testament were simply ordinary individuals who (…) happened (…) to have particularly vivid imaginations. The book’s political chapters present as eloquent a plea for toleration (…) and democracy as has ever been penned.“

Seine Vorgänger wie Maimonides, Hobbes und seine Nachfolger wie Locke haben zwar vielleicht ähnlich radikal gedacht und argumentiert wie er, aber sie haben sich oft vorsichtiger ausgedrückt. Spinoza folgt allein der Logik seiner Argumentation, denkt und schreibt frei und unabhängig.

Logisches, unabhängiges, freies Denken und Schreiben ist ihm auch ein besonderes Anliegen, wie schon der lateinische Untertitel seines Tractatus theologico-politicus sagt: Nicht nur kann Freiheit des Denkens („libertas philosophandi„) gewährt werden, ohne dass es Religiosität und Frieden schadet, sondern im Gegenteil man zerstört diese, wenn man die Freiheit des Denkens beseitigt.
Meinungs- und Redefreiheit sind Grundvoraussetzung für ein dauerhaft funktionierendes, sich gut entwickelndes Gemeinwesen.

Und das Buch von Nadler?

Sehr gut lesbar. Durchaus auch spannend und unterhaltsam. Macht die Argumentation von Spinoza in ihren wesentlichen Aspekten sehr transparent und nachvollziehbar. Vielleicht gelegentlich etwas redundant geschrieben. Mit ausreichend Einbettung in die Biographie von Spinoza. Gut ausgewählte Anekdoten. Bietet zusätzlich eine sehr hilfreiche Einordnung in den politisch-religiös-kulturellen Hintergrund Hollands und Amsterdams im 17. Jahrhundert. Macht deutlich, warum sich Amsterdam für mehrere Jahrzehnte den alternativen Namen „Eleutheropolis“ verdient hat.

Und der Fluch?
Hat nicht gewirkt. Vielleicht hat also Spinoza Recht mit seinen Argumentationen?

The unexpected Professor: An Oxford life in books. John Carey

The unexpected professor war ein unerwartetes Vergnügen. Die Autobiographie von John Carey (* 1934), emeritierter Englisch-Professor und Fellow des Merton College, ist in vielerlei Hinsicht ein klassisches Beispiel der Kategorie „Autobiographie eines Oxford-Professors“, aus anderem Blickwinkel betrachtet jedoch fällt sie vollständig aus dem Rahmen.

Wie die meisten Autobiographien beginnt The unexpected professor mit Geburt und Kindheit und arbeitet sich chronologisch voran. Nur Ereignisse, Dinge, Menschen mit Relevanz für die Person des Autoren werden erwähnt. Alle Wertungen, Schwerpunkte, Auslassungen sind subjektiv seine eigenen. Auch die typischen Charakteristika einer Oxford-Professoren-Geschichte sind vorhanden: Understatement und Ironie, eindrucksvolle College-Architektur, viel Portwein, seltsame Gebräuche, exzentrische Kollegen.

Anders ist diese Autobiographie jedoch, da sie eine ungewöhnliche Beziehung in den Mittelpunkt stellt: „something more personal – a history of English literature and me, how we met, how we got on, what came of it“. Das Wort Liebesbeziehung hierfür zu verwenden, ist wahrscheinlich nicht verkehrt.

Normale biographische Details und Anekdoten werden verwendet, da sie begründen, warum Carey wann was gelesen hat und warum er Literatur so interpretiert, wie er sie interpretiert: Auch strukturieren sie seine Lese-Erfahrungen und ergeben die Kapitelfolge: „Grammar School“, „Playing at Soldiers“, „Undergraduate“…. Nicht zuletzt bringt das Biographische dem Leser auch den Menschen John Carey näher, vermittelt seine Austerität, seinen Humor, seine Komplexe, seine Liebenswürdigkeit:
„At about the same time Gill, very courageously, agreed to marry me, and share my worldly goods, which still amounted, in effect, to the Bakelite radio and the electric coffee pot. So quite early in the morning on Ascension Day, 7 May 1959, I bought a bottle of champagne from Christ Church buttery, and (we) drank to one another’s futures beside the round pond in the middle of Tom Quad, while the goldfish gleamed and the waterlilies spread their petals and Mercury, with jets of water dancing round him, stood on one leg on his plinth and pointed to the sky. It was a most un-Carey-like episode. Champagne! In the morning!“

Damit ist dieses Buch eine ganz seltsame, eigenartig faszinierende, für mich sehr einnehmende Mischung aus Lebenserfahrungen und sehr persönlicher Einführung in die englische Literatur, aus Tutorium und Beziehungsgeschichte, aus Großartigem und Bescheidenheit.

Besonders anregend ist, was Carey über einzelne Texte und Autoren (leider fast ausschließlich Männer…) sagt. So erfährt man seine – nicht nur positiven – Gedanken zu John Milton und Samuel Beckett, zu John Donne und George Orwell, zu D.H. Lawrence und Joseph Conrad. Nachvollziehbar werden seine Überlegungen durch viele exzellent gewählte, auch lange Zitate.
Mir selbst war Milton zum Beispiel bisher eher fremd, und ich fand ihn abweisend. Nicht gewusst hatte ich dabei, dass „it has been estimated that, under the Presbyterian Blasphemy Ordinance of 1648, (… he would have been) liable to five death sentences and eight terms of life imprisonment.“ Jetzt bin ich neugierig auf ihn.

Erfrischend auch seine offenen Worte zu der einen oder anderen ungenießbaren wissenschaftlichen Publikation: „A new custom (…) was for authors to preface their terrible tomes with pages of effusive thanks to all those – teachers, academic colleagues, friends, parents, partners, children, childminders, and as like as not the family dog – without whom the volume would never have come into being. I cursed them all fervently in my heart.“

Und dann ist da noch das Schlußkapitel „So, in the End, Why Read?“. Seine Gründe:

  • „… reading opens your mind to alternative ways of thinking and feeling. (…)
  • Book-burners try to destroy ideas that differ from their own. Reading does the opposite. It encourages doubt. (…)
  • Reading distrusts certainty. (…)
  • Reading punctures pomp. (…)
  • Reading is contemptuous of luxury. (…)
  • Reading makes you see that ordinary things are not ordinary. (…)
  • Reading is vast, like the sea, but you can dip into it anywhere and be refreshed.
  • Reading takes you into other minds and makes them part of your own.
  • Reading releases you from the limits of yourself.
  • Reading is freedom.“

Alexander der Große: Sohn der Götter. Alan Fildes und Joann Fletcher

Offensichtlich ein Buch, das man lesen sollte in den heutigen Zeiten, denn Alexander der Große war immer ein Vorbild für Regenten mit großem Anspruch, egal ob sie Cäsar, Napoleon oder anders hießen und heißen. Einen Aspekt wollten sie jedoch nie kopieren: Alexander starb im Alter von nur 32 Jahren.

Die Geschichte Alexanders des Großen ist schnell erzählt. Geburt als Sohn des Makedonenkönigs Philipp II, der schon damit begonnen hatte, aus dem völlig unbedeutenden Makedonien eine Militärmacht zu machen – Erziehung unter anderem durch Aristoteles – durch militärische Eroberung Aufbau des damals größten Weltreichs aller Zeiten (Griechenland, der gesamte nahe und mittlere Osten, Teile Indiens und Afghanistans, Ägypten, Libyen….), erste Rebellionen auch von seinen Freunden und Vertrauten, Tod im Jahr 323 vor unserer Zeitrechnung, Beerdigung in Alexandria. Mit ihm endete eine Epoche. Er begründete mit dem Hellenismus eine neue: kosmopolitisch, griechisch-geprägt, in seinem gesamten Herrschaftsgebiet. Danach übernahmen die Römer.

Die für den Erfolg wichtige mythische Überhöhung gibt es auch: Philipp II. war gar nicht sein Vater, sondern Zeus selbst; seine Mutter war eine Nachfahrin Achills; die Götter waren für ihn, wie die Orakel bestätigten; die Ägypter verehrten ihn sogar als Gott; er selbst fand das wohl recht angemessen und nachvollziehbar.

Und die Machtgeschichte obendrein. Sie ist so, wie solche Machtgeschichten meistens sind. Loyal gegenüber seinen Freunden und gegenüber Gegnern, die sich eines Besseren besannen – erbarmungslos gegenüber illoyalen Freunden und allen anderen, die sich ihm in den Weg stellten – bereit, große Opfer bei Soldaten und Zivilbevölkerung in Kauf zu nehmen.

Immerhin scheint er auch belesen, gebildet, intelligent und intellektuell neugierig gewesen zu sein. Und er hatte nie den Anspruch, eroberten anderen Kulturen seine eigene aufzuzwingen, im Gegenteil, er übernahm auch Sitten von ihnen. Das wiederum machte ihn bei seinen eigenen Makedonen etwas unbeliebt.

Faszinierend ist die Biographie Alexanders des Großen allemal. Er war noch blutjung, als er mit seinen Eroberungen begann. Er besiegte Weltreiche und Hochkulturen. Er kam in ferne, unbekannte Länder, die noch nicht einmal die Götter vorher erreicht hatten. Plus eine ordentliche Portion Sex and Crime.

Das Buch von Fildes und Fletcher ist bunt und ordentlich. Die Biographie wird in Kapiteln abgepackt, die jeweils auf zwei oder drei Seiten passen. Es gibt viele farbige Illustrationen. Die Sätze sind kurz und verständlich. Die Herangehensweise ist deskriptiv. Die Person Alexanders wird dabei als Held und Identifikationsfigur dargestellt (so wie das auch Karl May gemacht hätte), problematisiert und in einen größeren Kontext eingeordnet wird sie nicht. Eigentlich erzählen die beiden nur die antiken Quellen nach. Und eigentlich ist das zu wenig: Alexander selbst war da intellektueller.

Der Friedhof von Prag. Umberto Eco

Es hat nicht geklappt. Und ich habe es wirklich versucht. Mehrmals. An mehreren Tagen hintereinander. Zu verschiedenen Tageszeiten. Auch mit unterschiedlichen Getränken. Aber es geht nicht. Ich schaffe es nicht mehr, Bücher von Umberto Eco zu Ende zu lesen. Bei „Der Name der Rose“ war es überhaupt kein Problem. In „Der Friedhof von Prag“ stand für mich eine Mauer auf Seite 46. Dort hörte der Leseweg für mich auf. Und Darüberklettern wollte ich nicht.

Umberto Eco (1932 – 2016) ist zweifellos ist einer der wenigen sehr angesehenen Wissenschaftler (für Semiotik; Dutzende von Ehrenprofessuren), die auch literarisch sehr erfolgreich waren (Verdienstorden; Buchpreise; Bestseller).

„Der Name der Rose“ war ein wirklicher Renner, hoch-spannend, mit seinen inhaltlichen Ausflügen in die Scholastik, die Kirchengeschichte und zu Aristoteles wirklich nicht flach, literarisch ebenfalls anspruchsvoll, sehr gut strukturiert und konzipiert. Lesefreude rundum.

„Das Foucault’sche Pendel“ war dann schon mühsam, aber ich bin immer noch in den dreistelligen Seitenbereich vorgedrungen. Bei „Baudolino“ habe ich ausgesetzt….

Jetzt also „Der Friedhof von Prag“, auf italienisch „Il cimitero di Praga“, der sechste Roman von Eco, erschienen 2010, von Burkhart Kroeber 2011 ins Deutsche übersetzt.

Spannung? Empfinde ich nicht.
Intellektuelle Inhalte? Viele, aber sie wirken wie ein Selbstzweck, wie selbstverliebte Ausflüge, wie Zeigefinger auf den gebildeten Autoren.
Literarisch gekonnt? Gut strukturiert? Ich finde nicht. Bis zu der Stelle, die ich noch erreicht habe, wirkte alles mechanisch, durch-dekliniert, seltsam seelenlos.

Worum wäre es gegangen? Der Klappentext sagt: „Der Italiener Simon Simonini lebt in Paris, und er erlebt eine dunkle Geschichte: geheime Militärpapiere, die der jüdische Hauptmann Dreyfus angeblich an die deutsche Botschaft verkauft, piemontesische, französische und preußische Geheimdienste, die noch geheimere Pläne schmieden, Freimaurer, Jesuiten und Revolutionäre – und am Ende tauchen zum ersten Mal die Protokolle der Weisen von Zion auf, ein gefälschtes »Dokument« für die »jüdische Weltverschwörung «, das fatale Folgen haben wird. Umberto Eco erzählt eine Geschichte des 19. Jahrhunderts – eine Geschichte, die tief in die Vergangenheit eindringt und doch immer auch von unserer Gegenwart erzählt.“

Ein Beispiel für die mühsame Arbeit, die den Leser erwartet, ist gleich der erste Satz:
„Il passante che in quella grigia mattina del marzo 1897 avesse attraversato a proprio rischio e pericolo place Maubert, o la Maub, come la chiamavano i malviventi (già centro di vita universitaria nel Medioevo, quando accoglieva la folla degli studenti che frequentavano la Facoltà delle Arti nel Vicus Stramineus o rue du Fouarre, e più tardi luogo dell‘ esecuzione capitale di apostoli del libero pensiero come Étienne Dolet), si sarebbe trovato in uno dei pochi luoghi di Parigi risparmiato dagli sventramenti del barone Haussmann, tra un groviglio di vicoli maleodoranti, tagliati in due settori dal corso della Bièvre, che laggiù ancora fuoriusciva da quelle viscere della metropoli dove da tempo era stata confinata, per gettarsi febbricitante, rantolante e verminosa nella vicinissima Senna.“

„Der Passant, der an jenem grauen Morgen im März 1897 auf eigene Gefahr die Place Maubert überquert hätte – „la Maub“, wie sie im Ganovenmilieu genannt wurde (einst Zentrum des universitären Lebens im Mittelalter, Treffpunkt der Studenten, die an der Fakultät der Freien Künste am Vicus Stramineus, heute Rue du Fouarre, studierten, dann Pranger-, Folter- und Hinrichtungsstätte für Jünger des freien Denkens wie Étienne Dolet) -, wäre in eines der wenigen Viertel von Paris gelangt, das von den Planierungen des Barons Haussmann verschont geblieben war, ein Gewirr übelriechender Gassen, zerschnitten vom Lauf der Bièvre, die damals dort aus den Eingeweiden der Metropole herauskam, in denen sie so lange eingepfercht gewesen war, um sich fiebernd, gurgelnd und voller Würmer in die nahe Seine zu ergießen.“

Am Übersetzer lag es dabei wirklich nicht: Hut ab.

Die Stadt der Wunder. Eduardo Mendoza

Ein Autor für Literaturkritiker und Preisverleiher ist Eduardo Mendoza Garriga. Richtig los ging alles mit seinem Roman „Die Stadt der Wunder“ – im spanischen Orginal „La ciudad de los prodigios“. Premio Ciudad de Barcelona, Roman des Jahres 1988 in Frankreich, Franz Kafka-Preis, im vergangenen Jahr sogar der Premio Cervantes…. Mendoza wird wahlweise mit Marcel Proust, James Joyce, Alexandre Dumas verglichen .

In der Stadt der Wunder geht es um zwei Protagonisten. Zunächst und vor allem ist dies das Barcelona der Zeit von der Weltausstellung des Jahres 1888 bis zu der von 1929. In dieser Zeit wurde Barcelona das, was Touristen heute lieben, die Stadt des Architekten Gaudí, der Boulevards, der großzügigen Stadtviertel. Die Erlebnisse dieser Stadt bilden den einen Erzählstrang: Wie sie sich städtebaulich entwickelt, ihr regionales Umfeld, ihr Charakter mit allen Stärken und Schwächen, ihre schwierige Beziehung zu Madrid, die großen Personen in ihrem Leben – ein historisch-urbanes Panorama.
La ciudad de los prodigios de [Garrriga, Eduardo Mendoza]

Der zweite Protagonist heißt Onofre Bouvila, ein Zugereister, der mit viel Entschlossenheit, Kreativität und Skrupellosigkeit seine verbrecherische Karriere vom mittellosen Hungerleider zum reichsten Mann Spaniens vorantreibt. Seine Erlebnisse bilden den zweiten Erzählstrang.

Beide Stränge sind vom ersten Satz an miteinander verwoben und aufeinander angewiesen, denn ohne einander wäre der Roman vielleicht nicht erwähnenswert:
„El año en que Onofre Bouvila llegó a Barcelona la ciudad estaba en plena fiebre de renovación.“ In der (nicht  ganz überzeugenden) deutschen Übersetzung von Peter Schwaar: In dem Jahr, in dem Onofre Bouvila nach Barcelona kam, befand sich die Stadt im Zustand fieberhafter Erregung.“
Mendoza geht in seinem Roman sogar noch weiter und sagt im letzten Satz, dass es mit Barcelona ohne Bouvila nur noch bergab ging/gehen konnte:
„Später, als man Geschichte schrieb, war man der Ansicht, in dem Jahr, in dem Onofre Bouvila aus Barcelona verschwand, sei die Stadt in offene Dekadenz verfallen.“ Und Bouvila war, als er aus Barcelona verschwand, sogar wie vom Erdboden verschwunden, also ohne Barcelona gar nicht mehr vorhanden.

Mendoza kann erzählen und beschreiben und glänzt immer wieder mit reizvollen oder auch skurrilen Details. So gleich am Anfang, wenn er kurz die Stadtgeschichte erzählt:
„A los fenicios siguieron los griegos y los layetanos. Los primeros dejaron de su paso residuos artesanales; a los segundos debemos dos rasgos distintivos de la raza, según los etnólogos: la tendencia de los catalanes a ladear la cabeza hacia la izquierda cuando hacen como que escuchan y la propensión de los hombres a criar pelos largos en los orificios nasales.“
„Nach den Phöniziern kamen die Griechen und die Layetaner. Jene hinterließen Reste handwerklicher Tätigkeit; diesen verdanken wir, wenn man den Ethnologen glauben darf, zwei typische Charakterzüge unserer Rasse: die Tendenz der Katalanen, den Kopf nach links zu neigen, wenn sie so tun, als hörten sie zu, und den Hang der Männer, in den Nasenlöchern lange Haare sprießen zu lassen.“

Was Mendoza – zumindest in diesem Roman und zumindest nach meiner Meinung – nicht kann oder nicht zeigen möchte, ist, Spannungsbögen und wirkliches Interesse an den Romancharakteren aufzubauen. Alles ist irgendwie auf der gleichen Ebene, wird irgendwie gleichartig-wortreich erzählt und berührt einen/mich letztlich wenig. Das Leben und Sterben, Erleben und Erleiden löst nichts aus, keine Sympathie, Freude, Trauer, Erleichterung. Vielleicht mit Absicht? Als Kritik an der damaligen oder heutigen Zeit?

Der Roman ist gut genug, um mich erfolgreich (aber etwas ermattet) die Seite 503 in der deutschen Übersetzung erreichen zu lassen. Er rechtfertigt nicht die großen Worte, die über ihn verloren werden. Dies sehen andere Leser (die nicht Literaturkritiker sind) anscheinend ähnlich. So schreibt ein Rezensent in einem Blog: „(…) reconozco que sí, que esta es una señora novela, aunque también tengo que decir que personalmente no me ha maravillado hasta el punto de considerarla una obra maestra.“ Oder auch: „‚La ciudad de los prodigios‘ (…) me parecía un poco aburrido y previsible.“

Aber lesen, gerade wenn man Barcelona mag, kann man ihn schon. Daher ja auch der Premio Ciudad de Barcelona.

Die Dichtungen des Kallimachos. Übertragen, eingeleitet, erklärt von Ernst Howald und Emil Staiger

Mit diesem griechisch-sprachigen Autoren kann man heute nun wirklich niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Kallimachos. Kenne ich nicht. Oder wenn ich schon von ihm gehört haben sollte: Verstaubt, kryptisch, abstrus. Ohnehin und bestimmt zurecht schon lange, lange tot.

Lange tot ist richtig: Kallimachos lebte im vierten und dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Geboren wurde er in Kyrene im heutigen Libyen, gelebt und gestorben ist er im ägyptischen Alexandria, gesprochen und geschrieben hat er in griechisch.

Für das westliche Abendland ist er wichtig, denn er arbeitete unter zwei ptolemäischen Pharaonen in Alexandria an der berühmten Bibliothek. Sein Hauptwerk (nur Fragmente noch vorhanden): der 120-bändige Autorenkatalog jeweils mit Kurzbiographie und Werkverzeichnis, der erste „wissenschaftliche“ Bibliothekskatalog. Ohne ihn wären viele antike Autoren wahrscheinlich nicht überliefert worden. Und ohne diese Autoren hätte sich das Abendland wahrscheinlich sehr anders entwickelt. Abgesehen davon, dass er selbst mit seinen Werken eine lange Reihe von Dichtern – beginnend mit Catull, Properz – sehr stark beeinflusst hat.

Pech hatte er: Eigentlich war er prädestiniert, Bibliotheksdirektor zu werden, aber wahrscheinlich wurde ihm sein Schüler vorgezogen. Um ein Haar wäre er selbst dem Vergessen anheimgefallen, den nur jeweils eine einzige mittelalterliche Handschrift hat zwei seiner Werke überliefert. Hinzugekommen sind zum Glück dann noch etliche Papyri mit Fragmenten auch anderer Werke.
P.Oxy. XI 1362

Der Dichter Kallimachos steht für kurze Werke. Er war immer gegen lange Epen in der homerischen Tradition. In seinen Worten: „μέγα βιβλίον μέγα κακόν – großes Buch, großes Übel“. Er steht für Sorgfalt und Eleganz beim Schreiben, für umfassende Gelehrtheit ohne Detail-Pedanterie, für Ironie und Witz und Parodie, für subtile Anspielungen im Kreis seiner Kollegen an der Bibliothek.

Aus meiner Sicht am leichtesten zugänglich sind seine sechs Götterhymnen, die auch am besten überliefert sind. Sie stehen in der Tradition Homers, dem auch einige Hymnen zugeschrieben wurden, aber sie sind in ihrem Charakter zutiefst hellenistisch-zeitgenössisch. Für mich dabei der Renner die Nummer 5, der Hymnus auf das Bad der Pallas. Unmittelbar packend, unterhaltsam, formvollendet, inklusive der Geschichte des Sehers Teiresias, der von Athena seines Augenlichts beraubt wird, da er sie nackt beim Bad sieht. Amüsanter die Nummer 3 auf Artemis, die als Baby auf dem Schoss ihres Vaters Zeus ihn komplett um den Finger wickelt.

Als Zitat etwas für die heutigen Manager aus der Nummer 1 auf Zeus:
„ἑσπέριος κεῖνός γε τελεῖ τά κεν ἦρι νοήσῃ,
ἑσπέριος τὰ μέγιστα, τὰ μείονα δ‘, εὖτε νοήσῃ.
οἳ δὲ τὰ μὲν πλειῶνι, τὰ δ‘ οὐχ ἑνί, τῶν δ‘ ἀπὸ πάμπαν
αὐτὸς ἄνην ἐκόλουσας, ἐνέκλασσας δὲ μενοινήν.“

„Abends führt er zu Ende, was er am Morgen bedachte,
Nur das Schwerste am Abend, das Leichtre, sobald er’s bedachte.
Andre brauchen ein Jahr und mehr, ja gänzlich verhinderst
Du Vollendung des öftern und brichst auseinander ihr Planen.“

Die Ausgabe von Howald und Staiger von 1955 ist  sehr zu empfehlen vor allem wegen der guten und lesbaren Erläuterungen, aber auch wegen der gelungenen, wenn auch altertümlichen Übersetzung im Versmaß.

The dream of enlightenment: The rise of modern philosophy. Anthony Gottlieb

„Men must think for themselves.“ Dieser möglichen Quintessenz der Werke von Locke, einem der Protagonisten der Philosophie der Aufklärung, folgt Anthony Gottlieb im zweiten Band seiner Philosophiegeschichte aufs Beste.

Gottlieb ist ein erstaunlicher Autor. Er vermittelt sehr überzeugend den Eindruck, dass er all die Philosophen und ihre Werke, über die er schreibt, tatsächlich selbst gelesen hat. Dass er sich eigenständig Gedanken gemacht hat über das Gelesene und nicht nur bei anderen abschreibt. Dass er es verglichen hat mit dem, was andere über diese Philosophen gesagt oder oft: behauptet haben. Dass er die Ergebnisse auf eine pointierte, amüsante und interessante, leichtfüssig-tiefschürfende Art und Weise literarisch-sorgfältig zu Papier gebracht hat. Dass er dafür sogar noch einen Verlag gefunden hat. Und – vielleicht das Erstaunlichste überhaupt – dass er zahlreiche Leser findet. Vielleicht eine der besten Nachrichten bisher im Jahr 2017.

Auf den meisten englischen Büchern finden sich Zitate aus Rezensionen. Immer sind diese positiv. Deutlich seltener kann man sich selbst diesen Zitaten am Ende vorbehaltlos anschließen. Bei diesem Buch gelingt das: „delightfully written und wonderfully instructive“, „as enjoyable as he is intellectually stimulating“, „written with both wit and scholarship“, „never seen a discussion of philosophy as fun to read“. Besonders gelungen ist wieder einmal eine Rezension im Guardian, die auch eine gute inhaltliche Zusammenfassung des Buchs bietet (auf die Leser dieses Blogs sonst – wie so oft – verzichten müssen, da wir ja zum Selberlesen anregen wollen).

Ach, und mutig ist Gottlieb auch, indem er sich konzentriert. Er beginnt mit der Beobachtung: „Western philosophy is now two and a half millenia old, but a great deal of it came in just two staccato bursts lasting some 150 years each. The first was in the Athens of Socrates, Plato and Aristotle (…). The second was in northern Europe, in the wake of Europe’s wars of religion and the rise of the Galilean science. It stretches from the 1630s to the eve of the French Revolution in the late eighteenth century.“ Alles, was nicht wesentlich ist, lässt Gottlieb weg, und beginnt seine Geschichte der Philosophie der Aufklärung mit Descartes. Mit Hume ist dann Schluss. Pech für Francis Bacon (der aber dann doch in Zitaten zu seinem Recht kommt), Pech auch für Rousseau und Voltaire (die aber im Schlusskapitel nebeneinander, wie im Pantheon, mit ihren Unterschieden, wie in ihrem Leben, gewürdigt werden).

Ohne auch nur im Ansatz schematisch zu wirken, sondern mit (fast) soviel Variationsreichtum wie Bach in seinen Goldberg-Variationen, stellt Gottlieb immer die Biographie, die Hauptwerke, die philosophischen Hauptgedanken und auch die Nachwirkung der verschiedenen Philosophen dar. Praktisch immer ist er frei von Ehrfurchtsgeraune. Nie versteckt er eigene gedankliche Leere hinter obskurantistischen Formulierungen, wie sie manche Philosophen und viele deutsche Wissenschaftler pflegen. Wenn Gottlieb selbst etwas nicht überzeugt oder einleuchtet, dann schreibt er das auch und reduziert so die Hürde auch für philosophisch weniger hartgesottene Leser. Wenn Leibniz etwas nicht besonders gut mit einem Beispiel erklärt, schreibt Gottlieb: „This little thought-experiment does not settle anything, but it neatly expresses a common intuition.“ Woraus auch zu erkennen ist, dass Gottlieb uneitel und nicht besserwisserisch schreibt, frei von herablassender Häme, die journalistisch geprägten Autoren sonst gelegentlich mit in die Feder fließt. Es scheint ihm viel Vergnügen zu bereiten, anderen Philosophen hinterherzudenken.

Vor diesem Buch hätte ich nicht gedacht, dass ich Neugier und Lust entwickeln könnte, den Tractatus theologico-politicus von Spinoza oder gar das historisch-kritische Wörterbuch von Pierre Bayle zu lesen. Da habe ich mich sehr getäuscht.

Übrigens: Vom ersten Band war ich ebenfalls schon letztes Jahr sehr angetan wie in einem anderen Blogbeitrag vermerkt.

Und außerdem: Im spanisch- oder holländisch-sprachigen Ausland gibt es Gottlieb schon in Übersetzung. Im Land der Dichter und Denker offenbar nicht.

Die Oden. Horaz

Einige Autoren – wie zum Beispiel Haruki Murakami, der Autor des letzten Beitrags – werden hoch gehandelt und sogar für den Literatur-Nobelpreis diskutiert. Würde ich das noch erleben können, wäre ich gespannt, welche Rolle er in 50 Jahren noch spielen wird. Andere Autoren haben den Test der Zeit, sogar der Jahrtausende schon hinter sich, und behaupten sich unverdrossen. Einer hiervon ist sicherlich der römische Dichter Quintus Horatius Flaccus, kurz: Horaz.

Horaz lebte – siehe der fotografische Beleg – von 65 bis 8 vor unserer Zeitrechnung, und ist einer der wichtigsten Dichter der Zeit von Kaiser Augustus.  Seit damals ist Horaz beliebt und gefürchtet als Quelle lateinischer Zitate. Wenig ist vor ihm sicher, und vor wenigem er selbst. Als generelle Lebensmaxime, Name von Unternehmensberatungen sowie von Pflegeshampoos ist sein „carpe diem“ immer noch im Einsatz.

Und sogar Reifen lassen sich mit Horaz anscheinend besser verkaufen.

Neben Satiren und den sogenannten Epoden sind die Oden das Hauptwerk von Horaz. Geschrieben im Jahr 23 sind sie sprachlich am ausgefeiltesten und hatten bis heute den größten Einfluss vor allem auf  die westliche Literatur und Kultur. Sie sind der Inbegriff klassischer Dichtung. Und sie sind so allgemeingültig und so auf den Punkt geschrieben, dass sie auch heutigen Lesern ohne Weiteres zugänglich sind.

Als Beispiel möchte ich die 9. Ode des ersten Buches nehmen, da sie jahreszeitlich besonders gut passt und recht typisch für die Oden ist:


Permitte Divis caetera: qui simul
Stravere ventos aequore fervido
   Deproeliantis, nec cupressi,
       Nec veteres agitantur orni.
Quid sit futurum, fuge quaerere; &
Quem fors dierum cumque dabit, lucro
   Adpone: nec dulcis amores
       Sperne puer, neque tu choreas.
Donec virenti canities abest
Morosa; nunc & campus, & areae,
   Lenesque sub noctem susurri
       Conposita repetantur hora:
Nunc & latentis proditor intimo
Gratus puellae risus ab angulo;
   Pignusque dereptum lacertis,
      Aut digito male pertinaci.

Die „Lateinoase“ (die gibt es! und man kann sich dort ganz gut aufhalten!) übersetzt:
„Siehst du, wie der durch hohen Schnee strahlende Soracte dasteht und wie die sich abmühenden Wälder die Last nicht mehr aushalten und wie die Flüsse von scharfer Kälte erstarrten?
Vertreibe, reichlich Holz auf den Herd legend, den Frost und hole, o Thaliarch, freigiebiger den vier Jahre alten Wein im Sabinerkrug hervor.
Gestatte das andere den Göttern. Sobald sie die kämpfenden Winde auf dem tosenden Meer beruhigt haben, werden weder die Zypressen noch die alten Bergeschen hin- und herbewegt. 
Vermeide es zu fragen, was morgen sein wird, und was das Schicksal dir auch immer an Tagen gewähren wird, nimm es als Gewinn und verachte nicht die süßen Liebschaften, Junge, nicht die Reigentänze, 
solange das launische Greisenalter fern der Jugend ist. Bald mögen Feld, Flächen und leises Geflüster in der Nacht zu geregelter Stunde gesucht werden, 
bald das willkommene Lächeln als Verräter des sich versteckenden Mädchens vom geheimen Winkel und das ihren Armen oder ihrem kaum beharrlichen Finger entrissene Pfand.“

Die Übersetzung ist sehr wörtlich und gymnasial hinreichend mindestens für ein „gut“. Sie gibt sich Mühe. Gute Dichtung ist sie nicht. Aber das ist vielleicht eines der Haupthemmnisse für Horaz: Er lässt sich nicht wirklich überzeugend übersetzen (ähnlich wie klassische chinesische Gedichte). Zu viel geht verloren. Das Versmaß mit seinen Längen und Kürzen in Kombination und Reibung zur normalen Betonung der Worte, das im Deutschen immer als Hebungen und Senkungen im Einklang mit der Wortbetonung widergegeben wird: fad und platt und plump mit seinem dammda-dammdada-dammda-damm. Die freie und damit absichtsvolle Stellung der Worte, die die Bestandteile eines Satzes kunstvoll und nuancenreich ineinander verweben kann, funktioniert im Original problemlos, lässt sich jedoch im Deutschen überhaupt nicht nachbauen, ohne gestelzt, vollständig obskur oder beginnend verrückt zu wirken (wer so etwas einmal lesen möchte, ist mit der Horaz-Übersetzung von Bernhard Kytzler bei Reclam bestens bedient). Und wenn man das Gedicht anders, freier nachdichtet? Dann ist es nicht mehr von, sondern nach Horaz.

Ein guter Grund also, die Lateinkenntnisse wieder auszugraben (oder neu anzulegen?) – der ästhetische Genuss ist es wert. Nicht nur zu Weihnachten oder wenn Schnee liegt.