Das Land, wo die Zitronen blühen. Helena Attlee

Das Land, wo die Zitronen blühen – ein Goethe-Zitat als Titel. Aber dennoch: Dieses Buch gibt es nur in englischer Sprache. So heißt es also „The land where lemons grow“, geschrieben von Helena Attlee, erschienen 2014.
Früchte, Blüten und Blätter der Orange (Citrus ×sinensis)

Das ideale Buch für die vergangenen Tage in Deutschland mit Temperaturen um die 40°C. Ein Zitronensorbet dazu – oder auch nur eisgekühltes Wasser mit Zitronen- und Orangenscheiben darin – dann noch ein Liegestuhl im Schatten – schon kann’s losgehen.
Zitrusvielfalt – Zitruseinheit – Zitrustage

Helena Attlee ist im englischsprachigen Raum als Spezialistin für Gärten bekannt. Gärten in der Provence, in Japan, in England, in Wales: Hierzu gibt es jeweils ein einschlägiges Buch. Und natürlich auch über Gärten in Italien in gleich mehreren verschiedenen Büchern.
LITERARY FESTIVAL: Helena Attlee - Northcote | Luxury Hotel and ...

„Das Land, wo die Zitronen blühen“ fällt dabei etwas aus dem Rahmen. Zwar geht es natürlich auch um Gärten, denn dort wachsen die entsprechenden Zitrusbäume. Viel mehr geht es aber um Botanik, Kulturgeschichte, Olfaktorik. Außerdem ums Reisen in Italien. Und ganz besonders um Küche. Abgerundet mit etwas Geschichte: politisch, medizinisch, kriminologisch, sprachlich. Einem Hauch Literatur. Und einer Prise Autobiographie.
Citron | Leonardi, Vincenzo | V&A Search the Collections

Alles aufs angenehmste durchmischt. Kein Aspekt wird zuviel (ganz sicher nicht zu viel: die Illustrationen – keine einzige!!!! bei diesem Thema!!!! das gleichen wir in diesem Blog mal schnell aus!!!!!). Die Autorin gönnt sich den Luxus, eine klare Struktur zu haben und ihr nicht zu folgen. Ein Buch also erfrischend ohne jede Pedanterie. Eher spielerisch. Jedenfalls genießend. Immer mit dem Duft von Zitrusblüten.
Bergamot - MasterLin

Jetzt weiß ich, was es mit Bergamotte auf sich hat. Mir ist vertraut, wie ein Campari Orange richtig auf italienisch heißt und warum dieses Getränk einen doppelten Bezug zu Zitrusfrüchten hat. Ich könnte (theoretisch) Zitronat herstellen. Ich weiß Bescheid über die Ursprünge der Mafia auf Sizilien. Ich kenne mich mit Chinotto aus. Ich kann erklären, warum welche Zitrusfrucht für das jüdische Sukkothfest verwendet wird und welche Konsequenzen das für ihre Ernte hat. Mir ist bekannt, wo die besten handgemachten Zitrusmarmeladen hergestellt werden. Ich kann erklären, warum die Äpfel der Hesperiden gar keine Äpfel waren. Und mir ist nicht verborgen, dass all die vielen Zitruspflanzen nicht aus Europa stammen, sondern aus Asien.
Chinotto Sparkling Soda Bottles by Niasca Portofino (pack of 4 ...

Ein anregendes Buch also, mit Vergnügen zu lesen. Und danach: ab nach Italien!
wo die Zitronen blühen? - Goethe | werbung | Reiseposter, Italien ...

H wie Habicht. Helen MacDonald

Die Bestseller und der Blogger

Die Verlage tun einiges, um dieses Buch – „H wie Habicht“ von Helen Macdonald – ramschig zu machen. Die englische Ausgabe prahlt mit „Costa Book of the Year“ auf dem Cover (Costa ist eine britische Coffee-To-Go-Kette). Die deutsche hält da mit: „Spiegel-Bestseller“, werden wir informiert. Für Leser wie mich, bei denen Bestsellerlisten ein skeptisches Lächeln im Gesicht auslösen, ist das natürlich nichts.
Falconer and Author Helen Macdonald on Dialogue - YouTube

Gekauft und gelesen habe ich es aber dann doch, allerdings erst, als es nicht mehr auf den Bestsellerlisten war (und obendrein gebraucht – reduziert das finanzielle Risiko, ein Buch gekauft zu haben, das mir dann wie erwartet nicht gefällt…). Gereizt hat mich das Thema: Mensch schafft sich einen Habicht an, richtet ihn zur Jagd ab und lernt sich dadurch selber besser kennen. Und die Kombination mit dem Bestsellertum: Wie kann so etwas in den Mainstream gelangen?

Helen Macdonald: Schreiberin von Naturthemen

Helen Macdonald, Jahrgang 1970, ist Wissenschaftshistorikerin an der Universität Cambridge und schreibt offensichtlich gerne über Naturthemen, insbesondere Greifvögel. Vor ihrem Habichtbuch, erschienen 2014, hat sie bereits eines über Falken geschrieben.
Helen Macdonald on What Falconry Can Teach Us About Our ...

„H wie Habicht“ ist, wie ich finde, ein sehr seltsames und äußerst bemerkenswertes Buch.

Autobiographie und Biographie und Kulturgeschichte und Ornithologie und….

  • Es ist ganz offensichtlich autobiographisch: Es geht um die Autorin selbst in dem Jahr nach dem Tod ihres Vaters, der eine große Rolle in ihrem Leben gespielt hat. Zusätzlich ist es auch fremd-biographisch: In diese Autobiographie eingewoben ist die Lebengeschichte von T.H. White, der heute am meisten  durch seine Bücher über die Artussage bekannt ist, ebenfalls einen Habicht abrichtete und darüber auch ein Buch geschrieben hat, welches Macdonald schon in jungen Jahren erstmalig las. White wird von Macdonald als psychisch schwer angeschlagen, fast pathologisch geschildert, eine weitere Parallele zu ihrer eigenen Verfassung nach dem Tod ihres Vaters. Beide werden außerdem  grundsätzlich als Menschen beschrieben, die eher für sich sind, keine Herdentiere.
  • Ornithologisch ist das Buch: Man erfährt viel über Habichte. Und kulturgeschichtlich , denn man lernt auch eine Menge über Falknerei in der Geschichte und in verschiedenen Kulturkreisen.

Die Autorin und der Habicht: eine gelungene Koexistenz

  • Das Buch kommt mit wenig aus. Zwei Hauptpersonen: Macdonald und White. Jeweils dazu: ein Habicht. Andere Menschen tauchen auf, aber immer nur vorübergehend, unwesentlich, Statisten. Auch der Plot ist einfachst: Vater gestorben – jungen Habicht gekauft und abgerichtet – gemeinsame Jagderlebnisse – vorübergehende Abgabe des Habichts zur Mauser.
  • Macdonald entgeht jeglicher Gefahr, den Habicht zu vermenschlichen. Ja, er (genauer: sie, mit Namen Mabel) ist ihr Gegenüber, ihre Partnerin in diesem Buch. Aber der Habicht ist eine Persönlichkeit für sich, definitiv kein Mensch, ganz anders, ganz Habicht. Diesen Greifvogel für sich zu lassen, ihn nicht zu vereinnahmen, ist vielleicht die größte Leistung von Macdonald in diesem Buch.

Schwebende Intensität

  • Getragen wird alles durch die Intensität, mit der Macdonald schreibt. Alles ist sehr real, unmittelbar. Man sieht den Habicht quasi vor sich, spürt sein Gewicht, seine Kraft, sieht seine Augen, seinen Schnabel, seine Klauen. Ebenso real sind erstaunlicherweise die Gedanken von Macdonald, ihre Gefühle, ihr Verhältnis zum Habicht, ihr Nachdenken über sich, das Leben, die Umwelt, ihren Vater.
  • So real dies alles ist, so schwebend, so atmosphärisch bleibt es gleichzeitig. Alles ist wie in einem Morgennebel im Herbst im Fenland um Cambridge, wenn man mit sich und seinem Habicht allein ist, es riecht nach Holzfeuer und feuchtem Laub.

Ach so, fast vergessen, Empfehlung natürlich. Ist doch klar. Sonst hätte das Buch doch nicht den Samuel-Johnson-Preis gewonnen.

How to Train Your Raptor | The New Yorker

Verlobung in Luzern. Elizabeth von Arnim

„The pastor’s wife“, also: Die Frau Pastor, heißt dieser Roman von Elizabeth von Arnim eigentlich, erschienen 1914. Elizabeth von Arnim ist keine Unbekannte in diesem Blog. Bereits besprochen haben wir: „All the dogs of my life“, „In the mountains“, „The caravaners“, „Love“, „Introduction to Sally“, „The solitary summer“. Auch bei unserer Liste der Bücher des Jahres 2017 war sie mit den Caravaners dabei.
August | 2018 | The Captive Reader

Alle Bücher von Arnims kommen unscheinbar daher. Es passiert nicht viel, auch nicht auf 300 Seiten. Das Personal ist sehr überschaubar, selten mehr, fast immer weniger als eine Handvoll Hauptfiguren. Eher Kammerspiel also als Roman. Große Kunst, die Aufmerksamkeit und Spannung mit so wenig so durchgehend aufrecht zu halten.
April Read: Elizabeth von Arnim | Virago Modern Classics ...

„The pastor’s wife“ ist da keine Ausnahme. Der Inhalt aus der Zusammenfassung der deutschen Übersetzung:
„Empörung im Haus des Bischofs – die wohlbehütete Tochter hat sich verlobt! Mit einem deutschen Pastor! Und dieser erscheint unvermittelt, um seine Verlobte in ihr zukünftiges Zuhause in Kökensee im fernen Ostpreußen zu bringen. Doch die Freuden des Ehelebens werden bald getrübt. Der Pastor spricht seiner jungen Frau von der heiligen Mutterpflicht, er, der es ansonsten mit seinem göttlichen Auftrag nicht sonderlich genau nimmt. Durch die sonntäglichen Predigten fühlt er sich bloß gestört in seiner eigentlichen Arbeit, der Entwicklung neuer Düngemittel. Und Ingeborg – eher wie ein Blatt im Wind wird sie durch ihr eigenes Leben geweht und stößt immer wieder an die harten Mauern der Konvention.“

Elizabeth von Arnim ist immer heiter, ironisch, boshaft. Sie erweckt oft den oberflächlichen Eindruck von heiler Welt und Süßlichkeit, bietet aber das genaue Gegenteil: Glück geht nur trotzdem. Man muss es sich erkämpfen. Die Welt hilft einem zwar nicht, jedenfalls nicht die menschliche. Aber irgendwie geht es doch?

In dieser Hinsicht ist „The pastor’s wife“ graduell verschieden: Der Grundton ist anders. Bitterkeit. Kombiniert mit Auswegloskeit, mit Vergeblichkeit, mit Verzweiflung. Es weht ein kalter Wind in Ostpreußen.
Die Hauptperson, Ingeborg, ist zwar wie bei von Arnim üblich irgendwie unverdrossen, findet immer wieder zum Positiven zurück, trägt viel Heiterkeit und Stärke in sich.
Aber das muss sie auch.
Schreckliche Schwangerschaften, noch schlimmere Geburten. In steter Folge. Niemand, wirklich keiner hilft ihr in diesem Roman. Schon gar nicht die Männer, die so sind, wie sie sind. Auch nicht die Frauen, die das patriarchalische Modell klassisch verstärken. Nicht einmal ihre Kinder, auf die doch sonst in von Arnimschen Romanen Verlass ist. Sogar eine Reise nach Italien, die doch sonst so sicher für Licht und Heiterkeit und Hoffnung sorgt, auch sie hilft nicht. Nichts und niemand, weit und breit.

Und ob die Unverdrossenheit der Heldin das düstere Happy End übersteht?
The Pastor's Wife – Elizabeth von Arnim | The Captive Reader

Alles zerfällt. Chinua Achebe

„Things fall apart“, der erste Roman von Chinua Achebe, erschien 1958. Mit mehr als 60 Jahren Verspätung habe ich ihn jetzt endlich auch gelesen.
On Things Fall Apart and Things Falling Apart: Simon van Schalkwyk ...

Albert Chinualumogu Achebe, *1930 in Nigeria, † 2013 in den USA, gilt als einer der Väter der modernen afrikanischen Literatur – woran auch immer man das festmacht. Jedenfalls war er sehr erfolgreich als Schriftsteller und wurde in mehr als 50 Sprachen übersetzt. Eine Übersetzung ins Englische war dabei nicht erforderlich, da Chinua Achebe bereits auf Englisch schrieb.
Vielleicht hat das dabei geholfen, einer dieser Väter zu werden (Literaturen haben übrigens eigentlich immer nur Väter, sind also ein biologisches Phänomen – oder kennt jemand z.B. eine der Mütter der modernen afrikanischen Literatur?), denn sonst hätte man ihn im Westen eventuell gar nicht oder erst viel später kennengelernt.
Chinua Achebe | The Dorothy & Lillian Gish Prize

Wikipedia fasst „Things fall apart“ zusammen: „Darin erzählt Achebe die Geschichte der nigerianischen Igbo in den 1890er Jahren. Der Bildungsroman schildert in realistischer Erzählweise im ersten Teil Wirtschaft, Kultur, Traditionen, Religion und Geschlechterverhältnisse einer Dorfgemeinschaft. In einem zweiten und dritten Teil werden die Auswirkungen der neuen christlichen und kolonialistischen Einflüsse auf das Dorfleben dargestellt.“

Das klingt ordentlich trocken. Eher wie eine akademische, anthropologische Abhandlung. Oder wie das Werk, das der britische District Commissioner als Krönung seines administrativen Lebenswerks zu schreiben gedenkt, sein Arbeitstitel: „The Pacification of the Primitive Tribes of the Lower Niger“.
„One must be firm in cutting out details.“

Ruhig und unaufgeregt, sachlich und ohne offensichtliche Wertungen, einfach und unprätentiös schreibt Chinua Achebe. Er läßt seinen Lesern Zeit nachzudenken. Sie können zu eigenen Einschätzungen und Wertungen kommen. Zugleich weiß man bereits nach der ersten Seite, dass man das Buch auf jeden Fall zu Ende lesen wird.

Vor der Ankunft der Missionare und Kolonialherren wird das Dorf als  Gemeinschaft geschildert. Es gibt Zusammenhalt, Solidarität, verbindliche gemeinsame Regeln. Wahrlich nicht alles ist einfach – Zwillinge zum Beispiel werden getötet, da sie als unheilvoll gelten -, aber es ist eine tatsächlich funktionierende, gemeinsam getragene Gemeinschaft.
Origin of Igbo tribe in Nigeria ▷ Legit.ng

Diese Basis wird von den christlichen Missionaren und Kolonisatoren untergraben. Der traditionellen Gemeinschaft gelingt es nicht, erfolgreich Widerstand zu leisten. Sie wird letztlich durch ihre eigenen Mechanismen zerstört. Es ist Sache der Götter, sich gegen eine andere, neue Religion zu wehren. Sobald die ersten Dorfbewohner zum Christentum übergetreten sind, kann man die Christen nicht mehr angreifen: Man kämpft nicht gegen Mitglieder der eigenen Familie. Und außerdem bietet die koloniale Zeit mehr Möglichkeiten, zu Wohlstand zu kommen – und Eigennutz war noch immer der Feind von Gemeinschaft.
Igbo People Language, Culture, Tribe, Religion, Women, Food, Masks

Die Hauptfigur des Romans, Okonkwo, der größte Krieger seines Dorfs, wohlhabend und sehr anerkannt in seiner Gemeinschaft, möchte die Kolonisatoren vernichten oder vertreiben, zur Not allein. Er sieht, dass sie die Gemeinschaft und alles, was ihm wichtig ist, zerstören. Als es darauf ankommt, macht sein Dorf aber nicht mit. Und gegen oder ohne seine Gemeinschaft  kann und möchte er dann doch nicht. Okonkwo kämpft nicht, er erhängt sich. Wie seine Gemeinschaft im übertragenen Sinne auch.

Erstaunliche Ironie dabei: Nur die Fremden können ihn abhängen und bestatten – seine Dorfgemeinschaft lässt ihn, der sie retten wollte, auch hier allein. Man braucht die Soldaten des District Commissioners. „It is against our custom. (…) It is an abomination for a man to take his own life. It is an offence against the Earth, and a man who commits it will not be buried by his clansmen. His body is evil, and only strangers may touch it. That is why we ask your people to bring him down, because you are strangers.“

Ein seltsames, fremdes Buch über uns.

Galileo: watcher of the skies. David Wootton

Galileo Galilei: Inquisition, der schiefe Turm von Pisa, vor Newton der Gigant der Naturwissenschaften. Ein tolles Thema.
Die Anfänge der Festigkeitslehre bei Galilei › momentum › Historie

David Wootton: wie es heißt, einer der großen Intellektuellen unserer Zeit, äußerst bewandert in der Geschichte der Naturwissenschaften vom 16. bis 18. Jahrhundert. Eine tolle Kombination.

Leider jedoch schreibt Wootton anscheinend abwechselnd wirklich ausgezeichnete und dann eher mäßige Bücher. Wenn man das weiß, kann man entsprechend auswählen und jedes zweite seiner Bücher weglassen. Wusste ich aber nicht…

Und daher war mein Leseglück mit Wootton recht unbeständig.
„The invention of science: an new history of the scientific revolution“, erschienen 2016, fand ich sehr gut, anregend und überzeugend.  „Power, pleasure and profit: insatiable appetites from Machiavelli to Madison“ dagegen, Erscheinungsjahr 2018, wirkte etwas patchwork-artig aus Vorlesungen zusammengenäht, wenn auch mit wirklich guten einzelnen Highlights. Dann „Bad medicine: doctors doing harm since Hippocrates“, erschienen 2006, wieder in der Genuß-Kategorie.

Woottons Biographie über Galileo Galilei erschien 2010. Das konnte – rückblickend, in Kenntnis der Reihe – natürlich nichts werden.

So war es dann auch. Der Fairness halber muss ich aber auch wieder eingestehen, dass ich das Buch nicht ganz gelesen habe. Vielleicht wäre es noch besser geworden. Allerdings habe ich deutlich mehr als ein Drittel geschafft, also für die mathematisch Bewanderten unter uns (und andere interessieren sich ja wahrscheinlich nicht für Galileo): fast 50%.
Lunar Archives: Galileo's Sidereus Nuncius 3rd Edition

Mein Fazit bis dahin: Kenntnisreich, belesen auf der Habenseite. Besserwisserisch (ich hab’s zuerst entdeckt!), detailverliebt und linienlos, uninspiriert und langweilig beim Soll. Ich bin mit großem Interesse an Galileo gestartet, aber bereits vor seinem Prozess mit der Inquisition etwas schläfrig ausgestiegen.

Schade, denn Galileo war bestimmt eine faszinierende Persönlichkeit. Aber kein Grund zu verzweifeln: Denn wer mehr über ihn wissen möchte, ist bei Wikipedia ganz gut aufgehoben – dort wird Woottons Biographie übrigens nicht erwähnt, auch nicht in der englischen Version. Das hätte mich warnen können….
Galileo's Leaning Tower of Pisa experiment Pisa International ...

A short history of brexit: from brentry to backstop. Kevin O’Rourke

Geschrieben und kommentiert wird viel über den Brexit. Zählt er doch neben der Wahl Donald Trumps zu den überraschendsten und einschneidendsten Ereignissen der letzten Jahre. Und genauso wie bei Trump ist das Ende offen. Zwar kann man auf den Ausgang wetten, rechnen sollte man aber damit, die Wette nicht zu gewinnen.

Die aktuelle Diskussionskultur: eher Meinungsmache

Vieles, was man hört oder liest über den Brexit, bewegt sich auf dem Niveau von Klischees und Parolen. Es wird gewertet, nicht gewürdigt. Brexit in der deutschen Presse geht kaum noch als Einzelbegriff. Statt dessen vermarktet man ihn nur noch komplett im stimmungsmachenden Set als Brexit-Chaos. Britische Politiker sind Witzfiguren, Karikaturen; das britische Parlament ebenfalls eine Lachnummer. Wenn schon das Referendum damals von Populismus und Demagogie geprägt war, danach wurde es nicht besser, auch nicht bei uns.

Seriosität und saubere Analyse ist dagegen das Mittel der Wahl. Wie bei Tacitus, „sine ira et studio“: ohne Tendenziosität, möglichst sachlich und objektiv.

O’Rourke: seriöser Wissenschaftler

Genau das bietet Kevin O’Rourke. Kevin Hjortshøj O’Rourke (nicht erfunden!), Jahrgang 1963, ist Ökonom, Mathematiker, Historiker mit irischem Vater, dänischer Mutter und einem europäischem Lebenslauf. Als Professor und Fellow am All Souls College in Oxford sowie Mitglied der irischen und britischen Akademie der Wissenschaften hat er das Seine getan, um als anerkannter Wissenschaftler ernst genommen zu werden.

Das Buch: viel Aufklärung

Dieses Buch über den Brexit ist in jeder Weise empfehlenswert – sehr gerne schließe ich mich den Rezensenten zum Beispiel der Irish Times oder des Guardian an (habe ich die Rezensionen in deutschen Medien übersehen or don’t we read English hier?).

Einige Aspekte, die mir besonders aufgefallen sind

  • Ich fand frappierend, wie unterschiedlich die Briten und Kontinentaleuropäer der Opfer des ersten Weltkriegs nach 100 Jahren gedenken. In einem Memorandum an David Cameron heißt es: “we must ensure that our commemoration does not give any support to the myth that European integration was the result of the two World Wars”. Édouard Philippe, der französische Premierminister, tat genau das Gegenteil und betonte “a Europe that reminds us of the eternal values that unite us, and the disasters we mourn”. Auch tendieren die Briten dazu, nur ihrer eigenen Toten zu gedenken (die roten Mohnblüten am Revers) – auf dem Kontinent gedenkt man häufiger aller Toten der Weltkriege, gleich welcher Nationalität.
  • Unter den Gründen, die zum Brexit-Votum geführt haben, erwähnt O’Rourke neben anderen als zentral und entscheidend:
    • das Unbehagen Großbritanniens mit ausgeprägten supranationalen Strukturen wie einem EU-Parlament, EU-Kommission ….  (der Commonwealth hat so etwas praktisch nicht; Freihandelsabkommen brauchen das nicht)
    • die Austeritätspolitik der britischen Regierung – für die die EU nichts kann
    • die Einwanderung aus Nicht-EU-Ländern – für die ebenfalls nur die britische Regierung verantwortlich war und ist
    • die Entscheidung von Boris Johnson, sich für den Brexit zu engagieren: O’Rourke vermutet, dass ohne Johnson die Remain-Befürworter gewonnen hätten (mehr über Johnson in diesem Blog über seine Bücher zu London und Rom).
  • Und außerdem macht O’Rourke sehr sehr deutlich, dass viele verantwortliche Politiker zentrale Details zu Freihandelszonen, Zollunion, Mehrwertsteuer – warum auch immer – offensichtlich nicht in ihre Politik integrieren. Sonst hätte es nicht passieren können, dass die Roten Linien von Theresa May in Kombination ein Ding der Unmöglichkeit sind Es gilt, ein Trilemma zu lösen mit den Elementen: 1. Keine harte Grenze in Irland – 2. keine regulatorischen Unterschiede zwischen Nordirland und Britannien – 3. Großbritannien verläßt Single Market und Zollunion
    • 1. und 2. bedeutet: Großbritannien bleibt in Single Market und Zollunion
    • 2. und 3. bedeutet: Es gibt eine harte Grenze in Irland
    • 1. und  3. bedeutet: Freihandelsvertrag zwischen Britannien und EU; Nordirland weiter in Zollunion und Single Market; Grenzkontrollen in den Häfen Nordirlands.
    • 1. und 2. und 3. bedeutet: eine leere Menge.

Die europäische Union: gar nicht schlecht

Bemerkenswert in der Darstellung O’Rourkes ist dabei sicherlich auch, dass bei allem, was in der Europäischen Union immer wieder einmal nicht so gut klappt, diese EU im gesamten Brexit-Prozess anscheinend ausgesprochen gut sortiert und strategisch, klar und transparent, fair und solidarisch aufgetreten ist.

Also lesen!

All das und noch viel mehr wird einem klar, wenn man O’Rourkes Buch liest oder dessen Fortsetzung, die bestimmt kommt, sobald man weiß, wie es ausgegangen ist.

The dream of Rome. Boris Johnson

Dieses Buch ist eine Warnung. Vor dem Autoren, Boris Johnson.

Von seinem anderen Buch über London und die Personen, die es zu dem gemacht haben, was es ist, war ich ja noch eher positiv überrascht. Dieses Mal ist es umgekehrt.
Boris Johnson: il leader della Brexit che sogna l'Impero Romano

Boris Johnson beschäftigt sich mit dem römischen Reich, wie und wodurch es groß wurde, wie und wodurch es verschwand. Immer wieder eingestreut vergleicht er das römische Reich mit der europäischen Union. Rom gewinnt immer, denn die Europäische Union macht – nach Meinung Johnsons – eigentlich alles schlechter.
Antike: Römisches Reich (600 v. Chr.-600 n. Chr.)

Um mit Positivem zu beginnen

Johnson schreibt auch in diesem Buch flott, unterhaltend, spannend. Geschichten mit Charme erzählen, das kann er. Auch erzählt er über das römische Reich keinen Unsinn.

Etwas ausführlicher zum Rest, dem Negativen

Johnson erwähnt immer wieder, dass er ganz Neues und Unerhörtes über das römische Reich schreibt, dass er versucht, eine gewagte Hypothese mit Fakten zu untermauern. Die große Pose des genialen, mutigen Wissenschaftlers, der sich der Wahrheit zuliebe in Gefahr begibt.
Dagegen ist jedoch alles, was er schreibt, sattsam seit Jahrzehnten (oder länger, er schreibt ja über das römische Reich…..) bekannt. Bahnbrechendes habe ich nirgends gefunden. Statt dessen düst Johnson gerne eher faktenarm auf oberster Ebene durchs Gelände. Und streut gerne pittoreske, etwas reißerische Anekdoten ein – vielleicht ist das der Ersatz für Faktenreichtum?

Erstaunlich ist, dass Boris Johnson sich anscheinend auch dieser wenigen Inhalte nicht recht sicher war – trotz Studiums der Klassischen Philologie in Oxford. Er bemüht deshalb eine große Anzahl von Professoren (die Danksagung an diese Akademiker umfasst beinahe eine Seite!) für die Bestätigung seiner Erinnerung.

Geradezu bedrückend und erschreckend, dass im Vergleich zu allem, was Johnson über die Europäische Union zu wissen und zu verstehen scheint, seine Kenntnisse zum römischen Reich geradezu enzyklopädisch wirken. Alles zur EU ist bei Johnson seicht, parolisch, tendenziös.
Boris Johnson's passion for painting is no portrait of deceit, but ...

Keine Empfehlung also

Das Buch kann ich also nicht empfehlen, außer man möchte mehr über den Politiker Johnson erfahren.

Tiere als Architekten: Bauen und die Evolution der Intelligenz. James R. Gould und Carol Grant Gould

Tier und Intelligenz?

Wie einzigartig ist eigentlich der Mensch? Intelligenz, Bewußtsein, Sprache, Fähigkeit zu Sozialverhalten, Planung der Zukunft, Gestaltung seiner Umwelt, Sinn für Ästhetik, das macht doch den Menschen aus, macht ihn besonders, hebt ihn über die Tierwelt hinaus, oder?

Wer all das weiter glauben und unterschreiben möchte, sollte das Buch der beiden Experten zu Evolution und Tierverhalten lieber nicht lesen.

Die Autoren

James Gould ist Professor für Ökologie und Evolutionäre Biologie in Princeton. Seine Frau Carol Grant Gould ist als Wissenschaftsjournalistin spezialisiert auf Bücher über Tierverhalten für die breitere Öffentlichkeit. Ihr Buch über „Animal Architects“ erschien 2007. Englisch muss man können, um es zu lesen. Noch kein deutsch-sprachiger Verlag hat es übersetzt.

Tiere als Baumeister

Erstaunlich viele Tiere bauen. Recht spontan fallen einem Spinnen ein, Wespen und Bienen, Ameisen und Termiten, Vögel mit ihren Nestern, Biber mit ihren Dämmen. All diese Beispiele (und natürlich einige mehr) beleuchten auch die beiden Goulds.
Der Laubenvogel („Bowerbird“) und sexuelle Selektion | BIRDS ...

Das Fazit der Autoren

Viele Verhaltensmuster dieser Tiere basieren auf Instinkten und quasi vorgegebenen Programmen (wie auch beim Menschen). Andere Verhalten dagegen lassen sich nicht erklären, ohne auf Intelligenz, Bewußtsein, Planung und sogar ästhetisches Empfinden zurückzugreifen. Honigbienen verwenden Sprache, Termiten bauen Gebäude von einer Größe und Komplexität, wie sie – relativ zur Körpergröße – von Menschen nicht erreicht werden, Laubenvögel gestalten ihre Balzplätze offensichtlich ästhetisch, Biber berücksichtigen die möglichen Pegelstände ihrer aquatischen Umwelt bei der Gestaltung ihrer Bauten und Dämme.
Biber

Der Mensch mit seinem aussergewöhnlich hohen Quotienten aus Gehirn- und Körpervolumen unterscheidet sich damit nur graduell von anderen Tieren, nicht aber prinzipiell.

Meine Meinung zum Buch

Gut und eingängig beschrieben – gelegentlich amüsant, etwas häufiger vielleicht zu wissenschaftsschreibelastig – nachvollziehbar strukturiert – immer fundiert, beschreiben die beiden  Goulds, wie beeindruckend die Tierwelt sein kann. Wer die etwas wenigen und tristen Illustrationen durch Besseres ergänzen möchte, kann auf ein Buch des Naturfotografen Ingo Arndt mit dem netten Titel „ArchitekTier“ zurückgreifen.

Ein durchaus lohnendes Buch, nicht nur für Imker und Arachnophile.
Net-casting Spider (Deinopis subrufa) [Bushpea 8/10] Large

Schöne neue Welt. Aldous Huxley

Als Epsilon Minus, die unterste Kategorie der Menschheit, seine Flasche zu verlassen, ist bestimmt kein Vergnügen. Und dabei ist doch alles aufs Glück ausgerichtet in der Welt in diesem Klassiker von Aldous Huxley, seinem Roman „Schöne neue Welt“.
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Aldous Huxley gehört zu einer Familie, die in Großbritannien eine große Rolle spielt (und gespielt hat), sowohl in Intellektuellen-Kreisen als auch im öffentlichen Sektor. Ein Nobelpreisträger, der erste Direktor der Unesco, diverse Schriftsteller gehören dazu. Die Huxley-Familie ist auch durch Heirat mit der Familie der Darwins verbunden. Als Huxley gehört man zum britischen Establishment.

Aldous Huxley selbst (1894 – 1963) ist heute in Deutschland vor allem durch diesen Roman bekannt, der im Jahr 1932 erschien. „Schöne neue Welt“ wird in diversen Listen zu den wichtigsten Romanen des 20. Jahrhunderts gezählt.

Man kann sich trefflich darüber streiten, ob es sich bei dieser schönen neuen Welt um eine Dystopie handelt oder nicht. Immerhin ist in ihr das Wohlbefinden, die „Happiness“ der Menschheit insgesamt optimiert – was will man mehr? Genau das, was man heute an Bhutan so bewundert, dass Glück zum Staatsziel wird, hier ist es realisiert! Spätestens seit Hume ist genau dieses Wohlbefinden schließlich das Lebensziel des Menschen – siehe den Blogbeitrag zu „Power, pleasure and profit“.

Klar, dass dabei nicht zugleich das Glück jedes Individuums auch maximal gesteigert werden kann, irgendwo braucht es Kompromisse. Aber alle haben das, was die meisten wollen: Es wird gearbeitet (zu wenig Arbeit ist nicht günstig für das Glücklichsein), alle körperlichen Bedürfnisse sind immer befriedigt, Krankheiten sind passé, auch das Altern ist vorbei (auch wenn man mit ca. 60 Jahren stirbt). Und für die Seele gibt es Feelys, Violent Passion Surrogates und mit Soma sogar eine Droge ohne Reue. Damit kein Beziehungsstress aufkommt, sind intensive Beziehungen nicht vorgesehen – also gibt es auch keinen Liebeskummer. Alles bestens also. Mehr Glück geht nicht.

Und doch, letztlich argumentiert Huxley gegen diesen Lebensentwurf.

Glück kann nicht der Lebenszweck an sich sein. Man kann und darf nicht zu seinem Glück gezwungen werden. Einer seiner Romanhelden, der sogenannte „Wilde“ John, ist da ganz klar:
„‚But I don’t want comfort. I want God, I want poetry, I want real danger, I want freedom, I want goodness, I want sin.‘
‚In fact,‘ said Mustapha Mond, ‚you’re claiming the right to be unhappy.‘
‚All right, then,‘ said the Savage defiantly, ‚I’m claiming the right to be unhappy.‘
‚Not to mention the right to grow old and ugly and impotent; the right to have syphilis and cancer; the right to have too little to eat; the right to be lousy; the right to live in constant apprehension of what may happen tomorrow; the right to catch typhoid; the right to be tortured by unspeakable pains of every kind.‘
There was a long silence.
‚I claim them all,‘ said the Savage at last.
Mustapha Mond shrugged his shoulders. ‚You’re welcome,‘ he said.

Sehr bezeichnend, dass Huxley, um überhaupt einen Roman über diese neue Welt schreiben zu können, Personen braucht, bei denen bei ihrer Konditionierung etwas schief gegangen ist oder die als Weltcontroller letztlich die Macht haben. Seine Hauptpersonen sind durchweg Individuen, Menschen mit eigener Persönlichkeit und eigenem Wollen. Über und mit Retortenmenschen lässt sich kein Roman schreiben. Alles langweilig:
„Actual happiness always looks pretty squalid in comparison with the over-compensations for misery. And, of course, stability isn’t nearly so spectacular as instability. And being contented has none of the glamour of a good fight against misfortune, none of the picturesqueness of a struggle with temptation, or a fatal overthrow by passion or doubt. Happiness is never grand.“

Aber auch für solche Individuen, denen das Glück nicht reicht oder bei denen etwas schiefgegangen ist, ist vorgesorgt: Sie dürfen auf eine Insel, mit den anderen ihresgleichen.

Aber dann wird’s da doch ziemlich eng, oder?

„It’s lucky,‘ he added, after a pause, ‚that there are such a lot of islands in the world.“

Also doch keine Dystopie!?!

Johnson’s life of London. Boris Johnson

Boris Johnson ist aktuell einer der Politiker, über die viel gesprochen und viel geschrieben wird. Die Wettbüros handeln ihn mit deutlichem Abstand als Favoriten für die Position des Partei- und Regierungschefs der Konservativen in Großbritannien. Er hat ganz ausgeprägte Fans und ganz ausgeprägte Gegner. Nur kalt lassen tut er anscheinend wenige. Hier bei uns in Deutschland scheint mir die veröffentlichte Meinung überwiegend kritisch oder negativ. Er sei zwar kein Donald Trump, gehöre aber in dieselbe Schublade populistischer, verantwortungsloser, gefährlicher Politiker. Ihm gehe es nicht um Großbritannien, auch nicht um seine Partei, sondern zu allererst um sich selbst.
Brexit: Hardliner Boris Johnson will Zahlung an die EU zurückhaltenMay's Brexit deal has reached the end of the road: Boris Johnson ...Thank Fucking God Boris Johnson Is NOT Going To Run For Prime ...

Da ich zufällig ein bereits gelesenes (immerhin!) Buch von ihm entdeckt habe, wollte ich mir selbst ein Urteil bilden. Sein Thema: London. Erschienen: 2011. Damals war Boris Johnson Bürgermeister dieser Stadt. Gestern habe ich die letzte Seite dieses Buchs über London und Menschen, die diese Stadt geprägt haben, fertig gelesen. Heute also mein Beitrag.

Zunächst – wer sich intensiv mit Boris Johnson beschäftigt, wird’s ahnen – eine Ungeschicklichkeit meinerseits: Dieser Beitrag erscheint etwas zu früh.

Wenn ich noch bis zum 19. Juni hätte warten wollen, wäre es ein Geburtstagsbeitrag geworden, denn an diesem Tag des Jahres 1964 wurde Alexander Boris de Pfeffel Johnson in Manhattan/New York geboren. Dass er damit auch die amerikanische Staatsbürgerschaft hat, war mir neu. Ebenfalls neu für mich, dass er nicht nur in Eton zur Schule und in Oxford zur Universität ging, sondern auch die European School in Brüssel besucht hat. Insgesamt war sein Leben bisher in etwa so wild wie seine Frisur ungekämmt.

Buchtitel und Einband haben zunächst einmal meine durch die Medien geprägten Vorurteile bestätigt (gelesen habe ich die Nummer drei).
Johnson's Life Of London: The People Who Made The City That Made ...Johnson's Life of London: The People Who Made the City that Made ...Johnson's Life of London..., by Boris Johnson - review | London ...

  • Mit dem Titel „Johnson’s life of London“ rückt sich Johnson in die Tradition von James Boswell und Samuel Johnson (Boswell schrieb „Boswell’s life of Johnson“). Bescheiden ist das nicht, denn Samuel Johnson ist eine der intellektuellen und kulturellen Größen der englischen Vergangenheit.
  • Abgebildet auf dem Einband ein Fahrrad mit 16 Sitzen und 15 Fahrradfahrern: Im Buch beschäftigt sich Boris Johnson mit mehr als 14 Personen, nicht alle haben es also aufs Fahrrad geschafft – die Nummer 15 ist er selbst, natürlich ganz vorne. Hier lenkt der Chef, mit grünen Socken, lila Krawatte und dazu passendem Jacket-Innenfutter. Auch hier also keine übertriebene Zurückhaltung Johnsons.

Das Buch selbst hat mich aber dann doch überrascht. Ich habe es sehr gerne und mit Genuß gelesen. Die Gründe?

  • Die Auswahl der Personen kombiniert die üblichen Verdächtigen wie Chaucer, Shakespeare oder Churchill mit überraschenden Namen wie Keith Richards, William Turner oder William Stead (schon einmal etwas über ihn gehört?).
  • Johnson schreibt wohl-recherchiert. An der einen oder anderen Stelle meinte ich, ihn bei falschen Fakten ertappen zu können. Leider hatte er jeweils recht, ich nicht.
  • Nicht umsonst war Johnson Präsident der Oxford Union. Er kann zweifellos schreiben, flüssig, intelligent, spannend, lebendig, anregend, charmant und humorvoll. Sowohl aufgeblasen wie unprätentiös. Sein Englisch-Buch kennt viele Worte, für die man im Oxford English Dictionary nicht viele Belege findet.
  • Die Eitelkeit Johnsons wird schon immer wieder deutlich, aber letztlich viel weniger als erwartet, eher als „ich war dabei“ statt „ich hab’s geleistet“. Auch Belege für Rassismus oder Antisemitismus, die ihm gelegentlich vorgeworfen werden, habe ich nicht gefunden, auch wenn er sicherlich den einen oder anderen Vorbehalt zum Beispiel gegenüber Deutschland zu haben scheint.

Zwei Aspekte zusätzlich: Johnson und der Populismus – und natürlich Johnson und der Brexit.
I cannot stress too much that Britain is part of Europe – and ...

Zuerst der Populismus, anhand einer Passage zu John Wilkes, einem ebenfalls unter Populismus-Verdacht stehenden Briten des 18. Jahrhunderts:
„I have a terrible feeling that as a fifteen-year old I wrote a pompous essay on Wilkes (…). Thankfully the document has been lost, but the gist was that Wilkes was a berk, a second-rate chancer, an opportunist, an unprincipled demagogue who floated like a glittering bubble on a wave of popular sentiment that he did not really share. It may be that in some places that is still the conventional opinion.
If so, it is wrong. It is not just that I have come to admire Wilkes for his courage and his dynamism and his boundless animal spirits. Any sober assessment of his work confirms that he really was as his adoring crowds saw him – the father of civil liberty. He not only secured the right of newspapers to report the proceedings of the House of Commons, he was the first man to stand up in Parliament and urge explicitly that all adult males – rich or poor – should be allowed to vote.“

Und Brexit? Hierzu eine Passage aus dem Shakespeare-Kapitel zur Schlacht zwischen England und Frankreich bei Agincourt unter Heinrich V. und zur spanischen Armada:
„If the Spanish tried to invade again, they would find a nation prepared to defeat overwhelmingly more numerous foes – just as the English had done at Agincourt. ‚We few, we happy few! We band of brothers!‘ says the king on the eve of the battle, setting up an English idea of the heroic ratio – few against many – that was to serve England well through the Napoleonic period and into the Second World War.“

Unterschätzen sollte man Johnson nicht. Wer sein Kapitel über Winston Churchill liest, kennt sein politisches Vorbild. Gut, wenn er das Richtige will, denn er kennt viele Mittel für seine Zwecke. Und immer gut für einen Scherz und das passende Foto. Mit Theresa May nicht zu vergleichen.
Life's Work: An Interview with Boris Johnson