Sensations: The story of British art from Hogarth to Banksy. Jonathan Jones

Dieses neue Buch von Jonathan Jones kommt so frisch von der Druckerpresse, dass man beim Lesen aufpassen muss, keine Druckerschwärze an die Finger zu bekommen: „Sensationen“. Das Cover passt zum Titel, ein springendes Pferd wie im Zirkus, es schaut im Sprung nach rechts und blickt dem Leser (oder natürlich der Leserin) direkt in die Augen.
Whistlejacket - Wikipedia

Jonathan Jones ist nicht neu in diesem Blog. Sein Buch über das Liebesleben von Künstlern der Renaissance und dessen Auswirkungen auf deren Kunst haben wir schon besprochen.

In diesem Buch wagt er sich an ein erheblich größeres Thema, eine Geschichte der britischen Kunst seit Hogarth. Da braucht man neben fundierter Kenntnis auch einen langen Atem; darf sich nicht in Details verlieren, aber gleichzeitig auch nicht zu sehr an der Oberfläche verharren. Auch andere (und bekanntere) Autoren haben sich daran schon verhoben. Der einzige, den ich kenne, der dies bisher geschafft hat, war ein deutsch-britischer Kunsthistoriker, Nikolaus Pevsner, mit seinem Buch „The Englishness of English art“.
Viewing “Mr. Turner” | Vissi d'arte

Vermutlich um sich nicht zu verirren, konzentriert sich Jones darauf, eine Hypothese zu verfolgen:
„In this book I will argue that the greatest British art, from Stubbs to Freud, expresses this empirical and sensationalist theory of knowledge. All the greatest artists in the story that follows – with one brilliantly provocative exception – made it their business to look with open eyes at raw fact.“

Eine zweite Hypothese folgt daraus: Vor der wissenschaftlichen Revolution in England kann es keine große britische Kunst gegeben haben. Jones:
„(Zur Zeit von Hogarth) there was no British art worlds to move up in. There were barely any British artists in the modern sense of the world – and no famous ones, let alone geniuses whose works live in history. How many people can name a British-born artist who worked before the 1700s? Art, for the British upper classes, was essentially something that came from abroad.“

Im großen und ganzen gelingt es Jones, seine Hypothesen zu bestätigen. Außerdem sind sie allemal interessant und anregend genug, um über die eigenen Kenntnisse britischer Kunst nachzudenken. Jones‘ Highlights der britischen Kunst: Hogarth, Gillray, Wright of Derby, Constable, Turner, Bacon, Freud. Wenn diese sieben Namen eine Hügelkette bilden, dann sind Hogarth, Turner und Bacon ihre höchsten Erhebungen. Richtig schlecht wegkommen: die Präraffaeliten und die Young British Artists, wie sie von Saatchi popularisiert worden sind.

Jones ist immer stark, wenn es darum geht, einzelne Werke in Ruhe und bei eingeschaltetem Verstand anzuschauen und auf sich wirken zu lassen. Seine Bildbeschreibungen sind sorgfältig und ausgesprochen sensibel. Er bringt Bilder völlig nachvollziehbar und geradezu intuitiv auf einen Punkt, auf den man selber nicht gekommen wäre. Wirklich große Klasse.
Micrographia under the microscope – University of Glasgow Library Blog

Die britische Kunstgeschichte gelingt Jones bis Francis Bacon. Danach reißt der Faden etwas ab. Vielleicht weil die Gegenwart immer zu präsent und vielteilig ist? Oder weil ihm die Zeit ausging? Oder weil er einen großen Teil der zeitgenössischen britischen Kunst für wenig gelungen hält? Auf jeden Fall wird Jones zum Schluss eilig und hektisch, hetzt von Namen zu Namen, verliert sich im Beliebigen. Das ist nicht Seins, er braucht die Ruhe und die Distanz.

Aber alles bis Francis Bacon sollte man lesen. Dann bekommt man einen neuen, etwas anderen Blick auf die britische Kunst.
„What have a pickled shark, a painted horse and a giant louse got in common?“
Dieses Buch gibt die Antwort.

Die Bücherschmuggler von Timbuktu. Charlie English

Reißerischer Einband

Bücher, Schmuggler, Timbuktu. Im Untertitel außerdem alle weiteren wichtigen Inhaltsstoffe für das junge oder jung-gebliebene, jedenfalls abenteuerlustige Leserherz: „Von der Suche nach der sagenumwobenen Stadt und der Rettung ihres Schatzes.“
Dann noch als Cover: das Foto eines Wüstenbewohners mit Manuskriptstapel und alter Truhe (wahrscheinlich auch so eine Schatzkiste…).
Mali: Islamisten zerstören Unesco-Weltkulturerbe in Timbuktu ...

Zwei Erzählstränge

Charlie English, ehemals Redakteur beim englischen Guardian, verwebt zwei Stränge zu seinem orientalischen Wunderteppich: die Geschichte der Entdeckung Timbuktus durch Europäer und die Rettung alter Manuskripte nach der Eroberung Timbuktus durch Islamisten im Jahr 2012.

Verwoben ist dabei richtig: Auf ein Kapitel Manuskriptrettung folgt jeweils eines zur Entdeckungsgeschichte, gefolgt erneut von Manuskriptrettung gefolgt von….
Beyond Timbuktu - The British Library

Dieses Verfahren kam den beiden Übersetzern, Henning Dedekind und Heike Schlatterer offensichtlich entgegen. Soweit ich es nachvollziehen kann, hat jeder einen Strang übernommen.

Gut gewählter Buchinhalt

Der Inhalt des Buchs ist gut gewählt. Der Name Timbuktu zieht immer noch  – die Entdeckungsgeschichte hat viele, nicht nur ruhmreiche Etappen mit Briten, Franzosen, Deutschen – die Eroberung und Besetzung Timbuktus durch die islamistischen Dschihadisten ist hinreichend gruselig.
Die Manuskripte binden dabei alles zusammen. Sie sind die unermesslichen Reichtümer, die die Entdecker in der Wissenschaftsmetropole Timbuktu statt Gold fanden. Sie wurden durch die Dschihadisten gefährdet und zum Teil verbrannt, während der Großteil in Sicherheit gebracht werden konnte.
Die Manuskripte sind auch für sich allein von großer Bedeutung, denn sie sind unter anderem der Beweis dafür, dass es auch in Afrika eine Schriftkultur  und eine Geschichte gab. Beides wurde diesem Kontinent von den kolonialistischen Imperialisten Westeuropas immer in Abrede gestellt und so argumentiert, dass Afrika zivilisatorisch ganz und gar unterentwickelt sei.
The fight to save the ancient texts of Timbuktu | Ancient Origins

Leider nicht so toll geschrieben

Das Buch enttäuscht aber dann doch, trotz all der guten Zutaten. Wie so oft liegt es daran, dass man nicht mit der nötigen Liebe gekocht hat. Köche gibt es drei: Den Autoren und die beiden Übersetzer. Vielleicht natürlich zusätzlich noch die Verlage (Harper Collins für die Originalausgabe, Hoffmann und Campe für die deutsche Übersetzung).

Charlie English schreibt wie ein Journalist, der sich mit dem deutlich längeren Format eines ganzen Buchs schwer tut. Alles wird zum Scoop, passend wie unpassend. Auf Spannungsbögen verzichtet er konsequent. Charaktere zu beschreiben, heißt bei ihm, Äußerlichkeiten aufzuzählen. Nicht zuletzt: Er scheint erstaunlicherweise eigentlich wenig Interesse an den Manuskripten zu haben. Für ihn hätte man sie daher wohl nicht retten müssen….

Die Übersetzer ihrerseits waren wohl in Eile oder haben sich nicht die Mühe gemacht, noch einmal über ihren Text zu gehen. Vieles liest sich wie direkt aus einer Simultanübersetzung abgetippt. Das potenziert die genannten Schwächen von English leider zusätzlich.

So fremd wie Timbuktu mutet daher das Lob des Guardian an: „Ein Meisterwerk des investigativen Journalismus. Ein kluges, fesselndes Buch.“

Dennoch….

Dennoch, zum nervenkitzel-freien Schmökern ist das Buch geeignet und man lernt etwas über die Geschichte Afrikas.
Historic books smuggled out during the siege of Timbuktu are on ...

Das Haus meiner Eltern hat viele Räume. Ursula Ott

Die Babyboomer sind zwischenzeitlich in ihren 50er Jahren angekommen. Ihre Eltern haben die 70 oder 80 überschritten. Wie und wo wohnen die Eltern am besten, damit sie möglichst lange möglichst selbstbestimmt und gerne leben? Und falls ein Umzug der Eltern ansteht: Was macht man mit dem Haus oder der Wohnung? Und mit all dem, was noch darin ist? Inklusive all der Erinnerungen? Wie geht man mit dem Älterwerden um?
Ursula Ott: Das Haus meiner Eltern hat viele Räume. btb Verlag ...

Ursula Ott, Chefredakteurin von Chrismon, nimmt sich eines wichtigen, wenn auch keines angenehmen Themas an. Sie tut dies – wie wahrscheinlich die meisten ihrer Altersgenossen – aus gegebenem Anlass. Auch bei ihren Eltern stand eine Änderung an. Da gibt es dann irgendwann keine Alternative. Handeln ist gefragt. In vielen Fällen längst überfällig. Unangenehmen Themen geht man eben lieber aus dem Weg. Die Kinder wollen nicht ran an die Sache. Und die Eltern auch nicht.

Ott schreibt niederschwellig, das ist gut. Das Buch liest sich sehr flott und anekdotisch. Tipps kommen unauffällig im Text daher. Dadurch fehlt der gehobene Ratgeberzeigefinger. Auch das hilft.

Einige wichtige Erkenntnisse für mich:

  • Ein Umzug im Alter ist dann besonders gut, wenn man ihn noch selber gestalten kann, wenn man noch fit genug ist, um sich neu einzuleben, neu anzufangen.
  • Trennungen brauchen Zeit und Geduld. Die Auflösung eines Hauses oder einer Wohnung sollte nicht maximal effizient durchgezogen werden. Schauen, nachdenken, erinnern, all das ist wichtig, für die Eltern, für die Kinder, für die Enkel.  Außerdem trennt sich jeder anscheinend anders. Es hilft also nicht, sich selbst als Maßstab für die anderen zu nehmen.

Sehr willkommen das ABC der Dinge im Anhang, das ruhig noch ausführlicher hätte ausfallen können. Wohin mit all dem, das keiner mitnehmen möchte oder kann? Hier bietet Ott eine Reihe von Adressen und Tipps, damit all das Überflüssige, aber mit Erinnerung Behaftete doch noch in etlichen Fällen eine gute Verwendung finden kann.

Also alles prima in diesem Buch?
Im großen und ganzen schon eine Empfehlung. Allerdings hätte Ott für mich gerne weniger magazin-ig schreiben können. Etwas mehr Sachbuch, etwas weniger Essay, damit noch mehr Betroffene mit den schwierigen Situationen besser klar kommen und mehr daraus machen können.

Mehr zum Älterwerden übrigens natürlich auch in diesem Blog auf einer eigenen Seite!

Älter werden ist unvermeidbar - Erwachsen werden ist optional ...

The seabird’s cry: The lives and loves of puffins, gannets and other ocean voyagers. Adam Nicolson

„for an albatross to travel a thousand miles in its chosen wind is no more work than the effort made by a man watching cricket in a deckchair for a summer afternoon.“

Der erste Eindruck

Der Einband ist natürlich ein Hingucker. Ein Papageitaucher, Sympathieträger schlechthin in der Kategorie der Seevögel, schaut den Leser-in-spe an, groß und in Farbe. Was für ein Schnabel, was für Füße.
Dazu passend die verkaufsfördernden Zitate. Die Financial Times übernimmt den Schnabel-Part: „Extraordinary … nothing less than a masterpiece.“ Für die Füße der Observer: „A gorgeous book, a poetic, soaring exploration … Generous and beautifully composed.“
Aus dem Leben der Papageitaucher | Entdecken Sie Algarve

Auch grottenschlechte Bücher haben euphorische Zitate. Nicht alle jedoch haben einen Papageitaucher auf dem Cover. Hier kann man unbedenklich seiner Sympathie folgen.
Zumal Adam Nicolson – wie ich finde zurecht – den Ruf genießt, ausgezeichnete Bücher zu einer erstaunlichen Bandbreite an Themen zu schreiben. In diesem Blog schon besprochen sein Buch über Homer. Ebenfalls erwähnen möchte ich z.B. sein beeindruckendes und berührendes Buch über den englischen Landadel über die Jahrhunderte am Beispiel ausgewählter Familien – „The gentry: stories of the English“.
Six Questions For Adam Nicolson — The Island Review

Der Inhalt

Nicolson schreibt elf Kapitel. Zehn davon widmen sich je einer Art der Seevögel. Der freundliche Papageitaucher vom Einband ist mit dabei, ebenso zum Beispiel Albatross, Sturmvogel, Möwe und Kormoran. Das letzte Kapitel greift den Buchtitel „The seabird’s cry“ wieder auf.

In den Kapiteln lernt man die Seevögel mit ihren ganz spezifischen Eigenschaften und Angewohnheiten, ihrem Lebensraum und ihrer Geschichte kennen. Der Daily Telegraph bemerkt passend: „he nails their personalities perfectly“.
Royal albatros/toroa: New Zealand sea and shore birds

Das Besondere

Drei Punkte möchte ich besonders hervorheben.

  • Nicolson macht immer wieder überzeugend deutlich, dass Seevögel intelligent sind – sicherlich auf eine andere Art und Weise intelligent als der Mensch, aber unzweifelhaft intelligent. Sie sind keine rein instinkt-getriebenen Automata, sondern Lebewesen, die offensichtlich Entscheidungen treffen und auch über erkennbare Individualität verfügen.
  • Nicolson verwebt in seinen Kapiteln naturwissenschaftliche Erkenntnisse, eigene Beobachtungen und Erfahrungen, historische Darstellungen, kulturwissenschaftliche Anmerkungen und auch Dichtung auf unauffällige, leichtgängige Weise zu sehr atmosphärischen, nuancenreichen, vieldimensionalen Porträts.
  • Schwarz-weiß malt Nicolson nicht. Weder ist die Natur, hier: die Seevögel,  wirklich immer nett, schön, paradiesisch: Manche Küken sterben vor Hunger oder werden von ihren Geschwistern getötet. Das liest man nicht gerne.
    Noch sind die Menschen immer nur naturzerstörerische Finsterlinge (wenn das auch sicherlich überwiegend zutrifft…). Natur- und Artenschutzbemühungen werden erwähnt. Allerdings ebenfalls die leichtfertige und beiläufige Grausamkeit, die einige ornithologische Experimente billigend in Kauf nehmen.
    In einem Fall werden Natur und Mensch sogar kombiniert. Einem Mann, der einen verletzten Vogel retten möchte, zerstört dieser Vogel ein Auge.

Die Hochachtung

Was nach jedem Kapitel bleibt, ist Staunen und Hochachtung. Für Seevögel, die an der Ostküste Nordamerikas ausgesetzt zu ihrem Nest in England zurückfinden, die mehr als 100 Meter tief tauchen, die enge Bindungen zu ihren meist lebenslangen Partnern aufbauen, die jahrelang lernen, bevor sie Küken in die Welt setzen.

Und Freude darüber, dass jemand ihnen ein so gelungenes, erfreuliches Buch widmet.

Eine Odyssee: Mein Vater, ein Epos und ich. Daniel Mendelsohn

Der Blog-Autor wundert sich

Das muss mir mal jemand erklären. Warum heißt das Buch auf Englisch: „An Odyssey: A father, a son and an epic“ und auf Deutsch: „Eine Odyssee: Mein Vater, ein Epos und ich“? Braucht es bei uns diesen Ich-Bezug? Ist es sonst für deutschsprachige Leser zu abstrakt? Oder rechnet man sonst hierzulande mit Verdrossenheit, wenn sich herausstellt, dass das Buch sehr autobiographisch ist, dies aber nicht gleich im Buchtitel deutlich wird? Der Siedler-Verlag, in dem das Buch erschienen ist, war da auch schon einmal anspruchsvoller. Sic transit gloria mundi.
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Und wenn wir schon bei Erklärungsbedarf sind: Warum findet sich dieses Buch auf der Bestenliste ausgerechnet in der Kategorie Sachbuch in der „Zeit“? Haben die das Buch nicht gelesen oder überlesen, dass es vor allem belletristisch oder alternativ biographisch ist? Vielleicht haben die Juroren der Bestenliste sich aber auch davon inspirieren lassen, dass das Buch schon einige, wenn auch weniger renommierte Preise in den USA bekommen hat: Best Book of the Year des National Public Radio, des Library Journal, von Newsday und von den Kirkus Reviews.
SwissEduc - Alte Sprachen - Realien: Materialien von Anton Hafner ...

Der Autor als bedeutendster Intellektueller

Daniel Mendelsohn, Jahrgang 1960, ist US-amerikanischer Staatsbürger, Professor für Klassische Philologie an einer mäßig bekannten Universität und gehört, wie der Klappentext einen wissen lassen möchte, „zu den bedeutendsten Intellektuellen in den USA“. Gut, das gelesen zu haben, damit die Messlatte richtig justiert ist. Dem Autoren tut der Siedler-Verlag damit keinen Gefallen.

Die Odyssee von Homer…

… ist Weltliteratur schlechthin. Neben der Ilias das klassische National-Epos der Griechen seit fast 3000 Jahren. Ein Höhepunkt der Dichtung gleich am Anfang der europäischen Literaturgeschichte. Kirke, Kalypso und Kyklopen.

Dickes Lob für Mendelsohn: Man erfährt viel über dieses Werk, seinen Autoren (oder waren es mehrere?), seine Sprache, seinen Aufbau, seine Erzähltechnik, seinen Inhalt, seine Überlieferungsgeschichte. Gut aufbereitet, nicht seicht, so dass man vielleicht sogar Lust bekommt, die Odyssee einmal (oder wieder?) zu lesen. Prima.

Wichtig für das Buch von Mendelsohn: In der Odyssee geht es unter anderem stark um Väter und Söhne: Laertes, dessen Sohn Odysseus, dessen Sohn Telemachos. Odysseus und Telemachos haben einander seit 20 Jahren nicht gesehen. Wahrscheinlich hat Telemachos keine eigene Erinnerung an seinen Vater. Und macht sich in der Odyssee auf die Suche.
The Cyclops Polyphemos and Odysseus from Sperlonga

Die Odyssee von Daniel Mendelsohn

Daniel Mendelsohn hat ebenfalls einen Vater (und zwei Großväter, die auch eine, wenn auch nachgelagerte, Rolle spielen). Sein Vater war immer verschlossen, abweisend, zurückhaltend mit Gefühlen. Ein Mathematiker. Mendelsohn möchte seinen Vater kennenlernen – und dieser wiederum vielleicht seinen Sohn – bevor es zu spät ist und der Tod dies unmöglich macht. Deshalb nimmt der Vater an einem Seminar seines Sohns teil, und sie fahren anschließend gemeinsam in Urlaub. Beides wird in diesem Buch beschrieben. Man erfährt viel über Mendelsohn und seine Familie. Der eine oder andere mag auch Lust bekommen, diese Familie näher kennenzulernen, oder fühlt sich an seine eigene Familie erinnert. Auch wäre so eine Reise im Mittelmeer gar nicht schlecht bei dem aktuellen Wetter.
A Father And Son Go On Their Last 'Odyssey' Together : NPR

Die Kombination aus beiden Odysseen…

… ist natürlich der Clou des Buchs. Das eben erwähnte Seminar befasst sich mit der Odyssee. Die gemeinsame Reise ist eine Kreuzfahrt im Mittelmeer zu den Schauplätzen der Odyssee. Daniel M. ist Telemachos, sein Vater Jay M. Odysseus. Beide Odysseen werden recht kunstvoll miteinander verwoben, gelegentlich vielleicht einen Hauch offensichtlich. Aber deutlich besser als im amerikanischen Fernsehen.

Ergibt ein Buch….

… das man gut lesen kann. Es ist unterhaltsam. Man erfährt etwas über Homers Odyssee. Ein nicht zu niederschwelliger Einstieg in die Weltliteratur. Eher etwas für Leser als Leserinnen, denn Frauen – wie auch in der Odyssee – spielen nun einmal nicht die Hauptrolle hier.

Und übrigens

Wer sich für die Odyssee interessiert, kann alternativ oder additiv auch das Buch über Homers Werke von Adam Nicolson „The mighty dead: why Homer matters“ lesen, besprochen ebenfalls in diesem Blog. Ein ausgezeichnetes Buch.

The Golden Thread – How fabric changed history. Kassia St Clair

„The Golden Thread“ von Kassia St Clair verfolgt die kulturhistorische Bedeutung von Textilien, also Stoff, durch die Jahrhunderte anhand von ausgewählten Beispielen. Jedes Beispiel ist eine interessante Geschichte für sich. Neben dem ungewöhnlichen und gut erzählten Inhalt gibt es eine weitere Besonderheit: „The Golden Thread“ ist ein ausgezeichnet gestaltetes Buch.

Stoff ist wichtig – auch im Vergleich mit Gold und Waffen

St Clair zeigt in ihrem Buch, wie sehr Forscher und Archäologen in der Vergangenheit darauf fixiert waren, wertvolle Gegenstände zu finden oder zumindest solche, denen ein hoher kultureller Wert zugeschrieben wurde. Also Gold, Rüstungen, Waffen, später Mumien, Töpfereien, Mauern. Jedenfalls sehr lange Zeit keine Stoffe. Ausgewickelt wurden zum Beispiel Mumien in der Regel mit nur geringer Aufmerksamkeit für das Leinen, in das sie eingewickelt waren, oder die Art der Wicklung. Und dies, obwohl erst das Leinen den mumifizierten Körpern im alten Ägypten die Reinheit verlieh, die Voraussetzung für das ewige Leben war.

„Our preoccupation with the bodies and treasures hidden within the linen, however, fails to capture the value and significance of the linen itself. Enormous effort and great quantities of linen went even into comparatively simple mummifications. (…) As a body was embalmed and enfolded, it was being transfigured into something worthy of veneration.”

Ein anderes Beispiel aus „The Golden Tread“ besteht in der Begeisterung der Archäologen für Wikinger-Schiffe, deren Größe, ihre Seetüchtigkeit, ihre Rolle für Beutezüge. So ein Schiff, so St Clair, lässt sich in zwei Wochen bauen, die großen Segel jedoch bedürfen der Arbeit einer größeren Gruppe für mehrere Monate. Und was wäre wohl ein Wikinger-Boot ohne Segel?

Von Textilien in der Höhle über Weltraumanzüge zu Sportkleidung für Weltrekorde

Die Kapitel in „The Golden Thread“ umfassen die Zeitspanne von 30.000 Jahre alten Fäden bis in unsere moderne Zeit. Die thematischen Schwerpunkte sind:

  • Anfänge des Webens
  • Ein- und Auspacker ägyptischer Mumien
  • Seide im alten China
  • Seidenstraßen
  • Die Woll-Segel der Wikinger
  • Wolle im mittelalterlichen England
  • Spitze und Luxus
  • Baumwolle, Amerika und Handel
  • Kleidung für Mount Everest und den Südpol
  • Die dunkle Vergangenheit synthetischer Stoffe
  • Anzüge für den Weltraum
  • Sportkleidung für Weltrekorde
  • Herstellung von Spinnenseide

Ästhetisch ansprechende Gestaltung des Buchs

Ein großer Genuss neben dem Inhalt von „The Golden Thread“ ist seine schöne Gestaltung bis in die Details hinein: Der Einband mit Gelb, Hellgrau und Gold auf Weiß spielt mit dem Motiv des Fadens. Jedes Hauptkapitel ist durch eine Grafik illustriert, die sich in Inhaltsverzeichnis, Kapiteltrenner und am Beginn der Unterkapitel wiederholt. Jedem Unterkapitel ist außerdem ein grafisch gestaltetes Zitat beigestellt, z. B. im Kapitel „Gifts and Horses“ über die Seitenstraße, vor dem Unterkapitel „5,000-Year Monopoly“: „Men plough – women weave“, chinesiches Sprichwort.

Ein tolles Buch; sehr empfehlenswert für alle, die sich für Kleidung, Textilien und deren Bedeutung in einer Gesellschaft interessieren.

Das Buch: eine Geschichte der Bibel. Christopher de Hamel

Mit einer Spezialisierung auf Paläographie und mittelalterliche Handschriften regelmäßig in andere Sprachen – zum Beispiel ins Deutsche – übersetzt zu werden, muss einem Autoren erst einmal gelingen. Christopher de Hamel, Lesern dieses Blogs bereits durch ein anderes Buch bekannt, gehört in diese Kategorie: Auch sein substanzielles Werk über die Überlieferung der Bibel gibt es leicht zugänglich auf deutsch.
Das Buch: Eine Geschichte der Bibel: Amazon.de: Christopher de ...

Das erfolgreichste Buch überhaupt

De Hamel startet mit der Beobachtung, dass die Bibel mit großem Abstand das erfolgreichste Buch ist, das je geschrieben wurde: In Teilen über 2000 Jahre alt, seit 1455 durchgehend gedruckt, kein anderes Buch ist in mehr Sprachen übersetzt und hat eine größere Auflage.

Mit dem religiösen Inhalt der Bibel befasst sich de Hamel nicht, sondern mit ihrer Überlieferungsgeschichte. Welche einzelnen Bücher zählten wann zur Bibel? Welche Textgrundlagen und Übersetzungen wurden verwendet? Wie sahen Bibeln aus? Mit solchen Fragen setzt sich de Hamel auseinander und schafft damit ein faszinierendes Buch.

Vorweg genommen:
Die Behauptung des Klappentexts „Christopher de Hamel writes with the storytelling gift of the good historian. He is also a scrupulous scholar. Without being either evangelical or polemical, his precise, lucid and highly informative narrative is solidly based on documentary evidence.“ trifft aus meiner Sicht voll zu.

Chronologische Reise

De Hamel geht im Wesentlichen chronologisch vor. Er startet im vierten Jahrhundert mit der Übersetzung von Hieronymus ins Lateinische, der Vulgata. Mit einem zwischenzeitlichen Ausflug in den Hellenismus – Übersetzung des Alten Testaments an der Bibliothek von Alexandria ins Griechische, die Septuaginta – erreicht er die Neuzeit mit Übersetzungen der Bibel in alle möglichen im Westen eher ungewohnteren Sprachen wie Mohawk, Tamil oder Isubu. Chronologisch korrekt – denn die Handschriften wurden erst vor wenigen Jahrzehnten gefunden – geht es dann ganz weit zurück auf die frühesten Überlieferungen von Bibeltexten überhaupt.
The Textual Mechanic: P. Bodmer II (P66), and the Staurogram

Viel gelernt

Auf dieser überlieferungs-geschichtlichen Zeitreise erfährt man viel Überraschendes. Hier einige Beispiele:

  • Die Bibel ist tatsächlich maßgeblich verantwortliche dafür, dass Bücher heute so aussehen, wie sie aussehen: Die Form des Codex, ein „klassisch“ gebundenes Buch, statt die Form einer Schriftrolle wurde insbesondere, teils sogar ausschließlich für die Bibel genutzt.
  • Die Überlieferung der Bibel als EIN Buch ist ein spätes Phänomen. Typischerweise war die Bibel in eine ganze Reihe von Bänden unterteilt: Bei Cassiodorus in der späten Antike waren es neun.
    Meister Eckhart und seine Zeit
  • Was in die Bibel gehört, wurde erst nach und nach festgelegt. Einigkeit darüber gibt es weiterhin nicht – man sehe sich nur eine katholische und eine protestantische Bibel an. Das hatte Konsequenzen darauf, ob und wie einige Texte erhalten blieben: Weil einige alttestamentarische Texte von der jüdischen Tradition früh verworfen wurden, ist zum Beispiel das Buch Judith nicht mehr auf Hebräisch erhalten, sondern alle heutigen Texte davon gehen auf eine griechische Übersetzung zurück.
  • Typischerweise führt das beständige Abschreiben aus einem Manuskript ins nächste dazu, dass die Qualität des Textes schlechter wird. Fehler schleichen sich ein. Die Bibel ist auch im Neuen Testament dadurch gekennzeichnet, dass die Schreiber und Schriftsetzer sich immer extrem viel Mühe damit gegeben haben, sehr, sehr sorgfältig zu arbeiten.
  • Die typische heutige Form der Bibel stammt aus Paris im 13. Jahrhundert. Damals wurden die Bibeln kleiner. Ausgaben auf extrem dünnen Papier mit extrem kleiner Handschrift in Taschenformat wurden der neue Standard. Die Reihenfolge der einzelnen Bibeltexte wurde vereinheitlicht. Auch der Aufbau einer Seite mit Text in zwei Spalten sowie die Nummerierung der Kapitel stammen aus dieser Zeit.
    Parisian Vulgate Bible
  • Nicht zu vergessen sein Kapitel über die Druckgeschichte der Gutenberg-Bibel: Muss man lesen, eine tolle Detektivgeschichte.

Fazit

Es macht schon Spaß genug, über dieses Buch von de Hamel nur zu schreiben. Es zu lesen, ist noch besser. Die vielen qualitativ sehr hochwertigen Illustrationen steigern noch das Vergnügen. De Hamel ist hier ein Standardwerk gelungen.
What's Missing from Codex Sinaiticus, the Oldest New Testament ...

Meine Bücher des Jahres 2018

Nach der Hitliste für 2017 jetzt zum zweiten Mal meine ganz persönliche Auswahl der besten, bewegendsten, überzeugendsten, beeindruckendsten Bücher, die ich im vergangenen Jahr gelesen habe.

Starten tue ich mit Dichtung:
Auch wenn ich das Buch noch nicht ganz fertig gelesen habe, hat sich die Classical Chinese poetry: An anthology von David Hinton bereits den Spitzenplatz gesichert. Hinton schafft es besser als die anderen Übersetzer, die ich bisher gelesen habe, klassische chinesische Gedichte so zu übertragen, dass man sie mit Gewinn und Genuß liest, ohne dass das wichtige Offene, Unbestimmte, Unklare, Ungesagte des chinesischen Originals dabei verloren geht. Die Gedichte bleiben bei Hinton letztlich chinesisch.
Ein Beispiel eines Zen-Buddhismus-affinen Dichters der Tang-Dynastie, der unter dem Namen „Kalter Berg“ läuft (aber bestimmt nicht so hieß, wenn es überhaupt eine einzelne Person gewesen ist):
„No one knows this
Mountain I inhabit:

Deep in white clouds,
Forever empty, silent.“

Ausführliche Besprechung folgt.

Nächste Kategorie, Sachbuch:
Mit Abstand vorne das neue Buch von Katrina van Grouw „Unnatural Selection“ über die Evolution domestizierter Tiere durch selektive Zucht. Klingt spröde, ist aber hoch-faszinierend, wenn einen Evolution auch nur ein wenig interessiert. Zusätzlicher Pluspunkt: Die wirklich exzellenten von der Autorin selbst gezeichneten Illustrationen.

Für mich eine wichtige Buchgattung, die Krimis:
Meine Entdeckung des Jahres war Josephine Tey, von der ich vorher noch nie etwas gehört hatte.  Unter all ihren Büchern für mich am Besten zwei davon, „The Franchise Affair“ und „Miss Pym disposes“. Tey hat sich getraut, ausgetretetene Krimi-Pfade zu verlassen, schreibt anspruchsvoll-belletristisch, bleibt dabei spannend und ist zum Glück nie brutal. Beide Krimis habe ich gar nicht besprochen, dafür aber einen dritten: „To love and be wise“.

Biographie?
Zwei Gewinner, weil beide ganz verschieden sind und jeweils ganz anders als andere Biographien.
Jonathan Spence hat mit „Emperor of China: Self-Portrait of K’ang-hsi“ eine als Autobiographie getarnte Biographie fast nur aus Originalzitaten Kangxis geschrieben und wirkt dabei völlig authentisch. Nicht zu vergessen: Kangxi ist ein überaus dankbares Subjekt dieser Biographie, ein differenzierter, nachdenklicher, intelligenter und selbstkritischer Mensch.
Christopher de Hamel dagegen hat gleich mehrere Biographien geschrieben, zwölf genau genommen, und zwar von mittelalterlichen Handschriften. Tolle Idee, toll umgesetzt. Der Titel: „Meetings with remarkable manuscripts“.

Und in der Belletristik?
Keine Überraschung hier, ein Literatur-Nobelpreisträger: Kazuo Ishiguros „The remains of the day“. Ganz großes vorsichtiges, subtiles, stilistisch und menschlich brillantes Kino.

Und das soll dann auch als Liste für dieses Mal reichen.

Bleiben die Fotos der glücklichen Gewinner:
David Hinton:
Translator David Hinton Takes on the I Ching | Books | Seven Days ...

Katrina van Grouw:
Unnatural Selection: An interview with Katrina van Grouw - Hoopoe ...

Josephine Tey:

Jonathan Spence:
Jonathan Spence Named 39th Jefferson Lecturer in the Humanities ...

Christopher de Hamel:
The Telegraph ~ Christopher de Hamel

Und Kazuo Ishiguro:
Kazuo Ishiguro wins Nobel Prize for Literature / Boing Boing

Viel Lesespaß in 2019!

 

Meetings with remarkable manuscripts. Christopher de Hamel

Man (= ich) bleibt etwas sprachlos zurück nach der Begegnung mit diesem Buch, sprachlos vor Staunen, vor Hochachtung, vor Begeisterung. Illuminierte Handschriften des Mittelalters sind das Thema, gut für Spezialisten in ihrer Lieblingsnische. Die verblüffende Nachricht dabei: Dieses Buch ist tatsächlich (fast) ein Bestseller.
Meetings with Remarkable Manuscripts' – Christopher de Hamel ...

Die erste Auflage kam 2016 auf den Markt, daher gibt es keinen Mangel an Rezensionen. De Hamel hat viele Preise für dieses Buch erhalten, von vielen Zeitungen und Literatur-Journalen wurde es zum History Book of the Year gekürt. Eine der für mich treffendsten Zusammenfassungen stammt von der Sunday Times: „I can’t think of many books that have brought the past to life with such learning, beauty and wonderfully boyish gusto.“
The rich are good, the poor are gluttonous? These images tell the ...

De Hamel – Paläograph und Experte für mittelalterliche Manuskripte – trifft zwölf Handschriften, die älteste aus dem 6. , die jüngste aus dem 16. Jahrhundert. Darunter ist eine, von der man auch als Tourist vielleicht schon gehört hat, nämlich das Book of Kells in Dublin. Die anderen – z.B. der Codex Amiatinus, das Stundenbuch der Jeanne von Navarra oder der Hengwrt Chaucer – sind wahrscheinlich bestenfalls Eingeweihten ein Begriff.
The Codex Amiatinus: the Earliest Surviving Complete Bible in the ...

„Treffen“ ist sehr wörtlich gemeint. De Hamel trifft alle Handschriften in den Bibliotheken, Museen, Sammlungen, in denen sie zur Zeit aufbewahrt werden, und er trifft sie quasi wie Persönlichkeiten. Wie er selbst sagt: „the chapters are not unlike a series of celebrity interviews.“ Wobei er – etwas traurig – hinzufügt, dass es heutzutage leichter sei, den Papst oder den Präsidenten der USA zu treffen, als mehr als eine Seite dieser Handschriften jemals zu sehen oder sie gar in die Hand nehmen zu können.

Er lässt die Handschriften reden (immerhin enthalten sie ja auch alle viel Text, und auch die Bilder können sprechen). Er erzählt ihre Biographie von der Entstehung über die wechselvollen Wanderjahre mit verschiedenen Besitzern bis hin zu ihrem aktuellen (Gesundheits-)Zustand. De Hamel bietet seinen Lesern die Möglichkeit, mit ihm gemeinsam diese Handschriften kennen- und schätzen zu lernen. Und alle sind sie schillernde Persönlichkeiten mit vielen Geheimnissen, eigenwilligen Charakteren, voller Individualität und Zauber.
Aratea: Making Pictures with Words in the 9th Century – The Public ...

De Hamels Buch ist ein gelehrtes Buch. Wie man Handschriften kollationiert kommt darin vor, ebenso wie diverse Schriftarten, genauso wie Überblicke über die Generations- und Herrschaftfolge diverser europäischer Adelshäuser.

Zugleich ist dieses Buch überaus nahbar und zugänglich. Man spürt auf jeder Seite die Begeisterung und Entdeckerfreude de Hamels. Seine Detektiv-Arbeit muss sich nicht verstecken vor der von William von Baskerville in Umberto Ecos „Name der Rose“. In bester britischer Tradition nimmt er sich (und andere) auch nicht immer so ernst, ist ironisch, lästerlich, zwischenmenschlich. Man hat also nicht nur das Vergnügen, mit de Hamel die Handschriften zu treffen, sondern darüber hinaus auch noch ihn selbst, mit und ohne weiße Handschuhe, die er in vielen Museen anziehen muss, um nichts zu beschädigen. Und quasi mit ihm an der Whisky-Schokolade zu knabbern, die ihm eine Aufseherin im Rare Books Reading Room in St. Petersburg zusteckt, als er auf seine Mittagspause verzichtet (nachteilige Effekte für Handschrift und Handschuhe sind nicht überliefert).
Who was Ethelburga? – Pathways to the Past

De Hamel zum Schluss seines Epilogs:
„Finally, I hope that these encounters have conveyed some sense of the thrill of the pursuit and the simple pleasure of meeting an original manuscript, and asking it questions and listening to its replies.“

Zwei Anmerkungen als PS:

  • Das Buch gibt es auch in deutscher Übersetzung mit einem Titel, der alles Understatement des englischen Originals beiseite lässt: „Pracht und Anmut – Begegnungen mit 12 herausragenden Handschriften des Mittelalters“.
  • Es gibt in diesem Blog eine kurze Seite zur Buch-Geschichte mit einem Verweis auf ein anderes außerordentlich gelungenes Buch von de Hamel.

Becoming. Michelle Obama

Während ich die ersten Seiten über ihre Kindheit las, habe ich gedacht, doch so eine Biografie aus dem politischen Establishment, die zu viele Menschen gegengelesen haben, um alles auszumerzen, was irgendjemanden stören könnte…. und um noch einzufügen, was für irgendeinen potitischen Zweck noch fehlen könnte…

BECOMING - Obama, Michelle

Ist auch so, aber auch doch nicht: Im Nachhinein fand ich den ersten Teil genau richtig und hilfreich, um diese First Lady der USA besser zu verstehen: die schwarze Frau des ersten schwarzen Präsidenten, eine berufstätige Mutter, eine hochintelligente, Harvard-studierte Anwältin mit eigenen Ansichten.

Die Biografie ist in drei Teile aufgeteilt

  • Becoming, über Elternhaus, Kindheit, Schulzeit und Studium bis hin zur ersten lukrativen Stelle als Anwältin
  • Becoming us, über die Entstehung der Beziehung zu Barack Obama, die Ehe, die beiden Töchter, Einstieg Barack Obamas in die Politik und Michelle Obamas Versuch, einen sinnstiftenden Beruf zu finden und damit auch Geld zu verdienen
  • Becoming more, über den Einzug der Familie Obama in das Weiße Haus, nachdem Barack Obama die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte, das Leben als First Lady, als Familie im Weißen Haus bis zum Auszug daraus, nachdem die zweite Amtszeit zu Ende gegangen war und Donald Trump die Wahl gewonnen hatte.

Im Fokus die Themen Erziehung, Bildung und Kinder

Vielleicht kein Wunder, die Botschaft: prinzipiell hat  jedes Kind es in sich, mehr aus sich zu machen, es zu schaffen, aus Armut und beengenden Verhältnissen herauszukommen, wenn, wenn, wenn es die notwendige Förderung und Ermutigung erhält.

BECOMING! Michelle Obama's Memoir to arrive in November - WuzupNigeria

Eine Stimme finden

Immer wieder auch Reflexionen darüber, was sie als prominente schwarze Frau, später als First Lady auslöst: Abwehr, Verachtung, aber auch Ängste vor der „aggressiven“ schwarzen Frau. Deshalb sieht Michelle Obama „Becoming“ auch als eine Geschichte darüber, wie eine schwarze Frau aus armen Verhältnissen und einer schlechten Wohngegend ihre Stimme findet. Den Mut zu sprechen, auch wenn sie oft die einzige Frau im Raum voller weißer Amerikaner ist, die einzige schwarze Frau. Wer ihr auf diesem Weg Mut gegeben und Selbstbewußtsein vermittelt hat, erzählt sie packend und anschaulich. Die vielen Menschen, die unterstützend waren – unter anderem Mutter und Vater – erhalten Raum in dieser Geschichte. Wie sie sagt: sie und ihr Mann waren unter den 44 Paaren, die das Weiße Haus bewohnten, unter den 11, die dies für eine zweite Amtszeit taten und – das einzige schwarze Präsidenten-Paar.

Michelle Obama als aktive Wahlkämpferin für ihren Mann

„I was a child of the mainstream, and this was an asset. Barack sometimes referred to me as “Joe Public”, asking me to weigh in on campaign slogans and strategies, knowing that I kept myself happily steeped in popular culture. (…) All of this is to say that I saw ways to connect with Americans that Barack and his West Wing advisers didn´t fully recognize, at least initially. Rather than doing interviews with big newspapers or cable news outlets, I began sitting down with influential “mommy bloggers” who reached an enormous and dialed-in audience of women.”

Didn't think about Barack Obama as someone I'd want to date ...

Im dritten Teil erklärt „Becoming“ die Funktion Michelle Obamas während der Wahlkämpfe um das Präsidentenamt und berichtet vom Alltagsleben im Weißen Haus. Sie selbst hat ihre Rolle als First Lady dazu genutzt, die Medien, welche sie auf Schritt und Tritt verfolgten, mit Vorsatz an diejenigen Orte zu führen, die ihr wichtig waren: arme Vororte, Schulen, Krankenhäusen für Kriegsveteranen. So hat sie sozialen Themen durch die eigene Person zu einer medialen Aufmerksamkeit verschafft, die sonst unmöglich gewesen wäre.

“When the weather was nice (in einer unterprivilegierten Gegend), the gangs got more active and the shooting got worse. (…) Sometimes, they (die Schulkinder aus diesem Gebiet) told me, taking the safest path home meant walking right down the middle of the street as cars sped past them on both sides. Doing so gave them a better view of any escalating fights or possible shooters. And it gave them more time to run. (…) America is not a simple place. Its contradictions set me spinning. I’d found myself at Democratic fund-raisers held in vast Manhattan penthouses, sipping wine with wealthy women who would claim to be passionate about education and children’s issues and then lean in conspiratorially to tell me that their Wall Street husbands would never vote for anyone who even thought about raising their taxes.”

Mein Fazit: unbedingt lesenswert, nicht nur für Frauen, für Politikinteressierte, für Amerika-Enttäuschte.