The Palladio Guide. Caroline Constant

The Palladio Guide von Caroline Constant ist ein Reiseführer zu den Bauten Andrea Palladios im Veneto.

 

Auf der Suche nach Villen Palladios in der meist flachen Landschaft des Veneto, zwischen Feldern, Industrieanlagen und kleinen Orten ist dieses Buch der Garant für den Erfolg. Oder wenigstens die Voraussetzung dafür;  ein Navigationssystem erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit, eine der weniger bekannten Villen auch wirklich zu finden. Andrea Palladio ist einer der einflussreichsten Architekten der westlichen Welt, dennoch sind einige seiner Villen verfallen. Busladungen von Touristen kommen nur zu denjenigen Villen, die gerade auf einer Liste der 10 besten von irgendetwas stehen.

Auf der Suche nach dem vollkommenen Haus

Vor einem Vierteljahrhundert war das Auffinden der kleineren, unbekannteren Villen ein Abenteuer mit offenem Ausgang. Es gab keine Auflistung aller Gebäude, keine Wegbeschreibungen. Stattdessen endlos scheinende Fahrten durch die Terra Ferma.

Bildergebnis für andrea palladio

Das kleine Buch von Constant  – erschienen 1993 in der zweiten Ausgabe – ist für alle, die die wunderbaren, wunderschönen Gebäude Palladios selbst in deren beeindruckender räumlichen Wirkung erfahren wollen, ein Segen.

„The Palladio Guide“ is a complete guide to the buildings of sixteenth century architect Andrea Palladio. A useful tool for architects, artists, tourists, and armchair travelers.”

Ein Reiseführer auch für Armchair Travelers

Nach einer kurzen Einleitung folgt chronologisch die Beschreibung aller Gebäude, die Palladio gebaut hat. Ihre Entstehungsgeschichte, Besitzerwechsel und der Erhaltungszustand sind gut verständlich und knapp beschrieben. Am Ende des Buchs ergänzen ein Lageplan der Villen im Veneto sowie ein Detail-Plan jeweils für Venedig und Vicenza die Beschreibungen der einzelnen Gebäude.

Bildergebnis für andrea palladio

Einführung in Architektur und Einfluss von Palladio

Die Einführung ist auch für Nicht-Architekten nachvollziehbar. Sie leistet ein besseres intellektuelles Verständnis der Bauten und bereitet auf ihre überwältigende visuelle und räumliche Erfahrung vor.

…dass man vielleicht nicht immer ganz nachvollziehen kann, wo Palladio nach Caroline Constants Meinung die Zentralperspektive zugunsten der horizontalen Perspektive im Sinn hatte oder an welchen Stellen das Räumliche und wo das Szenische im Vordergrund stehen … – mag sein und ist nicht wichtig.

Ausgezeichnet wird der „Palladio Guide“ durch „Das vollkommene Haus“ von Witold Rybzynski ergänzt. Diese Buch sowie das umfangreiche Buch „Andrea Palladio – The Architect in his Time“ zu Person und Werk mit vielen Hintergrundinformationen haben wir hier besprochen….

The dream of Rome. Boris Johnson

Dieses Buch ist eine Warnung. Vor dem Autoren, Boris Johnson.

Von seinem anderen Buch über London und die Personen, die es zu dem gemacht haben, was es ist, war ich ja noch eher positiv überrascht. Dieses Mal ist es umgekehrt.
Boris Johnson: il leader della Brexit che sogna l'Impero Romano

Boris Johnson beschäftigt sich mit dem römischen Reich, wie und wodurch es groß wurde, wie und wodurch es verschwand. Immer wieder eingestreut vergleicht er das römische Reich mit der europäischen Union. Rom gewinnt immer, denn die Europäische Union macht – nach Meinung Johnsons – eigentlich alles schlechter.
Antike: Römisches Reich (600 v. Chr.-600 n. Chr.)

Um mit Positivem zu beginnen

Johnson schreibt auch in diesem Buch flott, unterhaltend, spannend. Geschichten mit Charme erzählen, das kann er. Auch erzählt er über das römische Reich keinen Unsinn.

Etwas ausführlicher zum Rest, dem Negativen

Johnson erwähnt immer wieder, dass er ganz Neues und Unerhörtes über das römische Reich schreibt, dass er versucht, eine gewagte Hypothese mit Fakten zu untermauern. Die große Pose des genialen, mutigen Wissenschaftlers, der sich der Wahrheit zuliebe in Gefahr begibt.
Dagegen ist jedoch alles, was er schreibt, sattsam seit Jahrzehnten (oder länger, er schreibt ja über das römische Reich…..) bekannt. Bahnbrechendes habe ich nirgends gefunden. Statt dessen düst Johnson gerne eher faktenarm auf oberster Ebene durchs Gelände. Und streut gerne pittoreske, etwas reißerische Anekdoten ein – vielleicht ist das der Ersatz für Faktenreichtum?

Erstaunlich ist, dass Boris Johnson sich anscheinend auch dieser wenigen Inhalte nicht recht sicher war – trotz Studiums der Klassischen Philologie in Oxford. Er bemüht deshalb eine große Anzahl von Professoren (die Danksagung an diese Akademiker umfasst beinahe eine Seite!) für die Bestätigung seiner Erinnerung.

Geradezu bedrückend und erschreckend, dass im Vergleich zu allem, was Johnson über die Europäische Union zu wissen und zu verstehen scheint, seine Kenntnisse zum römischen Reich geradezu enzyklopädisch wirken. Alles zur EU ist bei Johnson seicht, parolisch, tendenziös.
Boris Johnson's passion for painting is no portrait of deceit, but ...

Keine Empfehlung also

Das Buch kann ich also nicht empfehlen, außer man möchte mehr über den Politiker Johnson erfahren.

Frauen im Mittelalter. Edith Ennen

Frauen im Mittelalter ist Thema und Titel des Buchs von Edith Ennen.

Die Autorin beschreibt darin den Alltag von Frauen in Klöstern und Stiften, sie rekonstruiert ihr Leben in Stadt und auf dem Land als Adelige, als Kauffrauen oder als Bäuerinnen. Detailliert geht sie der Frage nach, welche rechtliche Stellung Frauen hatten. Hierfür beschreibt sie regional und zeitlich unterschiedliche Konzepte zum Erbrecht und dazu, wieweit Frauen eigenständig als Personen ohne einen männlichen Vertreter handeln konnten.

„In besonderem Maß waren die Frauenklöster aber doch Stätten der Bildung. Der Anteil von Frauen am geistigen Leben ist im frühen Mittelalter sehr hoch, ja er übertrifft mitunter den männlichen.“

Bildergebnis für Frauen im Mittelalter

Frühes, mittleres und spätes Mittelalter

„Frauen im Mittelalter“ ist in die Zeiten frühes, hohes und spätes Mittelalter geteilt.  Einen Schwerpunkt, der sich durch alle drei Zeitabschnitte zieht, bilden die Frömmigkeitsbewegungen von Frauen im Mittelalter und die jeweilige rechtliche Position von Frauen.

„Die besondere städtische Entwicklung müssen wir auch im Rahmen der allgemeinen Fortbildung der Familien- und Eherechtes sehen. Bis zum 12. Jahrhundert hat sich in Mitteleuropa die Konsensehe durchgesetzt. In Randzonen, in Nordeuropa z. B., hält sich noch älterer Rechtsbrauch. Das norwegische Birkinselrecht – Marktrecht – kennt noch den vom Bräutigam zu zahlenden „mundr“ als Ablösung der Rechtsvertretung, die von Verheirater auf den Bräutigam übergeht.“

Umfangreiche Einleitung in das Mittelalter

Das Buch ist bereits etwas in die Jahre gekommen; die zweite Auflage erschien 1985. Die Wortwahl ist an einigen Stellen angestaubt, der Satzbau oft kompliziert, wodurch das Lesen stellenweise eher mühsam ist. Die Mühe lohnt sich jedoch, durch die gut herausgearbeiteten Inhalte. Sehr hilfreich für die historische Einordnung ist die umfangreiche Einleitung. Also: eine Empfehlung für Leserinnen und Leser, die am Thema Frauen im Mittelalter sehr interessiert sind.

Chanel – Couture and Industry. Amy de la Haye

Chanel – Couture and Industry von Amy de la Haye bietet den guten Überblick zu Coco Chanel, den man von einer Professorin für Dress History am Londoner College of Fashion erwarten würde. Geschrieben hat sie das Buch für das Victoria and Albert Museum.

Chanel: Couture and Industry

Der Inhalt

„Chanel“ ist eine kurze Zusammenfassung über Leben und Werk von Gabrielle Chanel (1883-1971) sowie ein Abriss zur Marke Chanel. Das Buch liest sich kurzweilig, ist informativ und schön passend bebildert. Viele inhaltlich Aspekte waren neu für mich.

Die Vorteile

„Chanel“ ist chronologisch gegliedert, die Aufmachung ist übersichtlich. Es berücksichtigt viele Aspekte und stellt dabei auch die Quellenlage gebührend dar: fast keine Eigenzeugnisse, aber viele Menschen die über Chanel geschrieben haben, sie gemalt und fotografiert haben. Viele der beeindruckenden Fotos sind im Buch abgebildet zum Beispiel von Horst P. Horst.

Das Buch zeigt ihre Art, Business zu betreiben, Lippenstift und Parfüm dafür zu nutzen, zusätzliche Einnahmen und Markenbekanntheit zu generieren. Es skizziert den ungeheuren finanziellen Erfolg einer Frau, der nicht in die Wiege gelegt worden war, die Mächtigen und Reichen nicht nur zu kennen, sondern anzuziehen.

Das Nicht-so-Vorteilhafte

Das Buch von de la Haye enthält kaum übergreifende Einordnungen in den historischen Kontext. Es konzentriert sich auf die Person Chanel, deshalb kommt Kontext eher am Rande vor, sogar bei der Modegeschichte. Warum Chanel derart erfolgreich war, bleibt deshalb etwas abgekapselt für sich stehen; Beweise für den phänomenalen Erfolg bietet es, doch wenige Gründe. Die Weltgeschichte, die anderen Designer, die Konsequenzen der wachsenden Modeindustrie bleiben blass. Das letzte Kapitel zu Chanel nach Chanel wirkt wie ein Werbeprospekt für Karl Lagerfeld…

Dennoch ist es ein gutes und vergnügliches Einsteiger-Buch.

Johnson’s life of London. Boris Johnson

Boris Johnson ist aktuell einer der Politiker, über die viel gesprochen und viel geschrieben wird. Die Wettbüros handeln ihn mit deutlichem Abstand als Favoriten für die Position des Partei- und Regierungschefs der Konservativen in Großbritannien. Er hat ganz ausgeprägte Fans und ganz ausgeprägte Gegner. Nur kalt lassen tut er anscheinend wenige. Hier bei uns in Deutschland scheint mir die veröffentlichte Meinung überwiegend kritisch oder negativ. Er sei zwar kein Donald Trump, gehöre aber in dieselbe Schublade populistischer, verantwortungsloser, gefährlicher Politiker. Ihm gehe es nicht um Großbritannien, auch nicht um seine Partei, sondern zu allererst um sich selbst.
Brexit: Hardliner Boris Johnson will Zahlung an die EU zurückhaltenMay's Brexit deal has reached the end of the road: Boris Johnson ...Thank Fucking God Boris Johnson Is NOT Going To Run For Prime ...

Da ich zufällig ein bereits gelesenes (immerhin!) Buch von ihm entdeckt habe, wollte ich mir selbst ein Urteil bilden. Sein Thema: London. Erschienen: 2011. Damals war Boris Johnson Bürgermeister dieser Stadt. Gestern habe ich die letzte Seite dieses Buchs über London und Menschen, die diese Stadt geprägt haben, fertig gelesen. Heute also mein Beitrag.

Zunächst – wer sich intensiv mit Boris Johnson beschäftigt, wird’s ahnen – eine Ungeschicklichkeit meinerseits: Dieser Beitrag erscheint etwas zu früh.

Wenn ich noch bis zum 19. Juni hätte warten wollen, wäre es ein Geburtstagsbeitrag geworden, denn an diesem Tag des Jahres 1964 wurde Alexander Boris de Pfeffel Johnson in Manhattan/New York geboren. Dass er damit auch die amerikanische Staatsbürgerschaft hat, war mir neu. Ebenfalls neu für mich, dass er nicht nur in Eton zur Schule und in Oxford zur Universität ging, sondern auch die European School in Brüssel besucht hat. Insgesamt war sein Leben bisher in etwa so wild wie seine Frisur ungekämmt.

Buchtitel und Einband haben zunächst einmal meine durch die Medien geprägten Vorurteile bestätigt (gelesen habe ich die Nummer drei).
Johnson's Life Of London: The People Who Made The City That Made ...Johnson's Life of London: The People Who Made the City that Made ...Johnson's Life of London..., by Boris Johnson - review | London ...

  • Mit dem Titel „Johnson’s life of London“ rückt sich Johnson in die Tradition von James Boswell und Samuel Johnson (Boswell schrieb „Boswell’s life of Johnson“). Bescheiden ist das nicht, denn Samuel Johnson ist eine der intellektuellen und kulturellen Größen der englischen Vergangenheit.
  • Abgebildet auf dem Einband ein Fahrrad mit 16 Sitzen und 15 Fahrradfahrern: Im Buch beschäftigt sich Boris Johnson mit mehr als 14 Personen, nicht alle haben es also aufs Fahrrad geschafft – die Nummer 15 ist er selbst, natürlich ganz vorne. Hier lenkt der Chef, mit grünen Socken, lila Krawatte und dazu passendem Jacket-Innenfutter. Auch hier also keine übertriebene Zurückhaltung Johnsons.

Das Buch selbst hat mich aber dann doch überrascht. Ich habe es sehr gerne und mit Genuß gelesen. Die Gründe?

  • Die Auswahl der Personen kombiniert die üblichen Verdächtigen wie Chaucer, Shakespeare oder Churchill mit überraschenden Namen wie Keith Richards, William Turner oder William Stead (schon einmal etwas über ihn gehört?).
  • Johnson schreibt wohl-recherchiert. An der einen oder anderen Stelle meinte ich, ihn bei falschen Fakten ertappen zu können. Leider hatte er jeweils recht, ich nicht.
  • Nicht umsonst war Johnson Präsident der Oxford Union. Er kann zweifellos schreiben, flüssig, intelligent, spannend, lebendig, anregend, charmant und humorvoll. Sowohl aufgeblasen wie unprätentiös. Sein Englisch-Buch kennt viele Worte, für die man im Oxford English Dictionary nicht viele Belege findet.
  • Die Eitelkeit Johnsons wird schon immer wieder deutlich, aber letztlich viel weniger als erwartet, eher als „ich war dabei“ statt „ich hab’s geleistet“. Auch Belege für Rassismus oder Antisemitismus, die ihm gelegentlich vorgeworfen werden, habe ich nicht gefunden, auch wenn er sicherlich den einen oder anderen Vorbehalt zum Beispiel gegenüber Deutschland zu haben scheint.

Zwei Aspekte zusätzlich: Johnson und der Populismus – und natürlich Johnson und der Brexit.
I cannot stress too much that Britain is part of Europe – and ...

Zuerst der Populismus, anhand einer Passage zu John Wilkes, einem ebenfalls unter Populismus-Verdacht stehenden Briten des 18. Jahrhunderts:
„I have a terrible feeling that as a fifteen-year old I wrote a pompous essay on Wilkes (…). Thankfully the document has been lost, but the gist was that Wilkes was a berk, a second-rate chancer, an opportunist, an unprincipled demagogue who floated like a glittering bubble on a wave of popular sentiment that he did not really share. It may be that in some places that is still the conventional opinion.
If so, it is wrong. It is not just that I have come to admire Wilkes for his courage and his dynamism and his boundless animal spirits. Any sober assessment of his work confirms that he really was as his adoring crowds saw him – the father of civil liberty. He not only secured the right of newspapers to report the proceedings of the House of Commons, he was the first man to stand up in Parliament and urge explicitly that all adult males – rich or poor – should be allowed to vote.“

Und Brexit? Hierzu eine Passage aus dem Shakespeare-Kapitel zur Schlacht zwischen England und Frankreich bei Agincourt unter Heinrich V. und zur spanischen Armada:
„If the Spanish tried to invade again, they would find a nation prepared to defeat overwhelmingly more numerous foes – just as the English had done at Agincourt. ‚We few, we happy few! We band of brothers!‘ says the king on the eve of the battle, setting up an English idea of the heroic ratio – few against many – that was to serve England well through the Napoleonic period and into the Second World War.“

Unterschätzen sollte man Johnson nicht. Wer sein Kapitel über Winston Churchill liest, kennt sein politisches Vorbild. Gut, wenn er das Richtige will, denn er kennt viele Mittel für seine Zwecke. Und immer gut für einen Scherz und das passende Foto. Mit Theresa May nicht zu vergleichen.
Life's Work: An Interview with Boris Johnson

Bad medicine: Doctors doing harm since Hippocrates. Eine Geschichte der Medizin von David Wootton

„Murder, mayhem, and the medics“, so könnte man den Titel vielleicht auch formulieren. Reißerisch kann David Wootton also offensichtlich auch. Zumindest legt der Titel dieses Frühwerks von ihm (erschienen erstmalig 2006) das nahe. Sein Thema: die Geschichte der Medizin einmal anders, mit Fokus darauf, was schief gelaufen ist und vor allem warum. Kein Titel eigentlich, wie man ihn bei der superseriösen Oxford University Press erwarten würde.
Bad Medicine: Doctors Doing Harm Since Hippocrates: Amazon.co.uk ...

Seriös also oder skandalös? Da bleibt nichts außer: lesen.

Bereits in der Einleitung springt einen ein Satz an: „For 2,400 years patients have believed that doctors were doing them good; for 2,300 years they were wrong.“ Aber auch: „So don’t be misled by the title of this book. This is neither an attack on the medical profession nor an indictment of modern medicine. When I was young, doctors twice saved my life: I have the scars to prove it.“

Drei Aspekte in dieser Geschichte der Medizin finde ich bemerkenswert neben allen hochinteressanten medizinhistorischen Details, die er erzählt.

  • „(…) progress in knowledge and progress in therapy are quite distinct (…)“
    Wissensfortschritte gab es viele in der Medizin, nicht zuletzt durch die Anatomie am lebenden oder toten Körper. Erstaunlicherweise hatten diese neuen Erkenntnisse aber bis Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich praktisch keinerlei Auswirkungen auf die Therapie. Aderlass sowie Brech- und Abführmittel blieben die Mittel der Wahl für fast alle Krankheiten außer im orthopädischen oder psychischen Bereich, teilweise noch bis ins 20. Jahrhundert hinein.
    Anders formuliert also: Erkenntnisgewinn bedeutet nicht automatisch auch einen Fortschritt in der Praxis. Das vermutet man intuitiv ja so nicht, hoffnungsfroh (und offenbar naiv) wie man ist.
  • „What we need in (such) cases (…) is a history, not of progress, but of delay; not of events, but of non-events; not of an inflexible logic, but of a slopply logic; not of overdetermination, but of underdetermination. And these cases, it turns out, are in medicine (at least until very recently) the norm, not the exceptions.“
    Wer in welchem Feld auch immer Fortschritte erzielen möchte, braucht also nicht nur die richtigen inhaltlichen Erkenntnisse. Er (oder sie) sollte sich zusätzlich darin auskennen, woran es in der Praxis oft scheitert, selbst wenn die Vorteile völlig offensichtlich sind und einem kaum oder keine Nachteile einfallen. Chirurgen z.B. haben über lange Zeit ihr Möglichstes getan, weiter ohne Einsatz von Anästhesie zu operieren. Wootton: „To think about progress, you must first understand what stands in the way of progress – in this case, the surgeons’s pride in his work, his professional training, his expertise, his sense of who he is.“ Oder an anderer Stelle, etwas allgemeiner formuliert: „The primary obstacle to progress (…) was (…) psychological and cultural. It lay in the doctors‘ sense of themselves, their awareness of their own traditions, their habit of conferring authority upon an established canon and upon established therapies.“
  • Fortschritte wurden oft nur dann tatsächlich erzielt, als es nicht mehr anders ging, als ein „weiter so“ das Ende bedeutet hätte
    Das Aufkommen von statistischen Methoden begann deutlich zu machen, dass Aderlass und die anderen Standardtherapien mehr schadeten als nützte; die Ärzte standen schwer in der Kritik. Die Kliniken standen kurz vor der Schließung, da immer deutlicher wurde, dass sie eher der Sterbebeschleunigung dienten. In beiden Fällen gelang erst danach Neuerungen der Durchbruch.
    This picture represents the cholera outbreak in 1854 and John Snow ...

Wenn man bedenkt, dass in anderen Wissenschaften die Neuzeit schon im 16. oder 17. Jahrhundert begonnen hatte, war die Medizin recht offensichtlich multiresistent gegen Veränderung. Aber gerade Menschen in der heutigen Zeit sollten sich nicht beklagen: Heute hilft Medizin (und Mediziner) oft tatsächlich. Da haben wir Glück, spätgeboren zu sein. Ob die Multiresistenz damit allerdings vollständig überwunden ist?

Zur Geschichte der Medizin haben wir in diesem Blog übrigens auch einige weitere empfehlenswerte Bücher besprochen, zum einen „The smile revolution“ von Colin Jones, zum anderen „Murderous contagion“ von Mary Dobson.

Kleine Anmerkung zusätzlich in eigener Sache: Auch wenn es jetzt eine ganze Reihe von Beiträgen über David Wootton und seine Bücher gibt, das ändert sich auch bald wieder.

Power, pleasure and profit: Insatiable appetites from Machiavelli to Madison. David Wootton

Vor wenigen Tagen habe ich bereits ein Buch von David Wootton in diesem Blog besprochen. Damals ginge es um die Revolution in den Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert. Ich war sehr beeindruckt. Davon angeregt habe ich ein weiteres Buch von Wootton gelesen. In ihm geht es darum, wie sich im Zuge der Aufklärung das Denken darüber, was wichtig ist für den Menschen, völlig verändert hat. „Pleasure“, das Glück oder das Wohlbefinden, steht auf einmal ganz oben. Anders gesagt: Eigennutz ist das Maß der Dinge. Diese Änderungen im Denken sind aktuell weiter gültig und haben dazu beigetragen, dass die Welt heute so ist, wie sie ist.
News – David Wootton

Vorher: Tugend oder gottgefälliges Handeln

Früher war alles anders. In der Antike war Tugend wichtig. Selbst wenn man als Anhänger Epikurs eher spaßorientiert an das Leben heranging, war das Ideal Gleichmut. Gottgefälliges Handeln stand hoch im Kurs, besonders mit dem aufkommenden Christentum.

Seit der Aufklärung: Eigennutz

Dann kam die Aufklärung. Ganz vorne dabei Thomas Hobbes. Sein Verständnis: Der Mensch maximiert immer sein Glück oder sein Wohlbefinden. Er minimiert sein Unglück oder sein Leiden. Der Mensch strebt nach – im Original – „pleasure“. Hilfreich dabei sind Macht und Vermögen – im Original „power“ und „profit“. Die Vernunft – „reason“ – steht dabei nicht oben in einer Pyramide, sondern sind ist ein Instrument. Die Vernunft hilft dabei auszurechnen, was unter dem Strich am meisten Glück oder Wohlbefinden abwirft. Tugend oder gottgefälliges Handeln stehen nicht mehr hoch im Kurs. Es ist grundsätzlich nichts gegen sie zu sagen, solange sie das Wohlbefinden, den Eigennutz, fördern.
Thomas Hobbes: A grim portrait of human nature

Das Dreigestirn „power, pleasure and profit“ hat dabei eine besondere Eigenschaft gemein. Man kann sie jeweils maximieren. Sie sind zwar relativ, aber letztlich nicht endlich. Es geht immer noch mehr. Man kann sich immer weiter strebend bemühen. Noch mehr, noch reicher, noch mächtiger. Und die unsichtbare Hand von Locke hilft mit Umweg über Leibniz und Voltaire auf geheimnisvolle Art und Weise dabei, dass immer alles gut wird („Tout est au mieux dans le meilleur des mondes possibles.“).

Das Buch als Essay-Sammlung

Wootton beschreibt diese Revolution des Denkens über den Menschen in seinem Buch in einer Reihe von Essays, die er aus Vorlesungen entwickelt hat. Seine Kapitel:

  • „Insatiable appetites
  • Power: (mis)reading Machiavelli
  • Happiness: words and concepts
  • Selfish systems: Hobbes and Locke
  • Utility: in place of virtue
  • The state: checks and balances
  • Profit: the invisible hand
  • The market: poverty and famines
  • Self-evidence“.

Das Thema ist offensichtlich wichtig und interessant. Die Nutzung seiner Vorlesungen pragmatisch und effizient. Leider wird daraus kein einheitliches, durchgängiges, gut lesbares Buch. Wootton verliert sich oft in Details unter Verlust eines roten Fadens. Er schreibt eher für Wissenschaftler, die „ihre“ Autoren in- und auswendig kennen. Auch vor Wiederholungen ist er nicht gefeit.

Schade aus meiner Sicht auch zwei weitere Aspekte:

  • Hilfreich würde ich es finden, auch zu untersuchen, wie (und ob) durch diese Revolution im Denken auch konkret das Handeln der Menschen anders wurde. Nicht jeder hat ja damals Hobbes, Hume, Locke und Smith gelesen. Etwas Sozialgeschichte wäre gut.
  • Wootton problematisiert das egoistische, individualistische Denkmodell der Aufklärung durchaus. Er spricht von einem „eisernen Käfig“. Toll wären zusätzlich einige Gedanken seinerseits gewesen, wie man da wieder heraus kommt oder wie man es ändern muss, damit die negativen Konsequenzen weniger werden, oder ob darüber schon anderweitig nachgedacht wird.

Wenn es schon keine Empfehlung für das Buch insgesamt ist – und zum Glück stehe ich da nicht ganz allein…. – zur Eigennutz-Steigerung empfehle ich aber dem Leser (und natürlich der Leserin) doch die Kapitel „Insatiable appetites“, „Happiness“ und „Utility“, zusätzlich zur Einleitung. À la bonheur!

Die Erfindung der Naturwissenschaften. David Wootton

Lieber nicht lesen?

Die Penguin-Ausgabe zählt 769 Seiten. Obendrein in Englisch, da sich noch keiner an eine Übersetzung herangewagt zu haben scheint… Rezensenten verwenden Begriffe wie „truly learned“, „deeply erudite“, „in (…) convincing detail“, „masterly account“, „magisterial“. Die Erwartung ist völlig klar: David Woottons Buch über die Erfindung der Naturwissenschaften – „the invention of science“ – ist nur etwas für die ganz und gar Hartgesottenen unter den Lesern (und Leserinnen), mit einer Menge Zeit, guten Nerven, Durchhaltevermögen. Viele Details. Viele Zitate. Viele Fußnoten. Viel zu viel.
Cundill Prize 2016 Finalist David Wootton - YouTube

Oder doch?

Und doch, da gibt es noch die anderen Schlagworte: „marvellous“, „fresh and compelling“, „gripping“, „to savour, to enjoy and to remember“, „beautifully written“. Also doch zumindest ein Hauch von Lesespaß zwischen all dem akademisch Beschwerten? Oder vielleicht sogar – verwegener Gedanke – vor allem ein Lese- und Denkspaß?

Gekauft habe ich den Wälzer, weil er mir empfohlen wurde. Dicke Bücher schrecken mich nicht. Außerdem lese ich sehr gerne Bücher von Simon Schama. Und der ist auch ganz unverschämt wissensschwer und bildungseitel.
Rhodri Marsden's Interesting Objects: Kepler's model of the ...

Schama und Wootton: Vielwisser, Querdenker, Welterklärer

Apropos Schama. Der Vergleich ist nämlich gar nicht schlecht. Beide Autoren, Schama und Wootton, haben neben ihren Belesenheit vier Dinge gemeinsam: Sie denken erstens offensichtlich gerne, meistens selbst und bevorzugt quer. Sie schaffen es zweitens, in all den Details Strukturen, Muster, Linien zu entdecken, die so intuitiv und so frappierend sind, dass einem gelegentlich der Mund offen steht, um mit dem Denken nachzukommen. Drittens sind sie keine Fachidioten, sondern stellen fachübergreifend immer mehrere Disziplinen zueinander in Bezug. Zuletzt, viertens, schreiben beide viel.  Für ihre Bücher braucht man meist eine Stütze und eine Transporthilfe. Andererseits: Warum kurz, wenn man soviel Interessantes und Neues zu sagen hat?

Also dann doch: Die Erfindung der Naturwissenschaften

Ich möchte gar nicht den Versuch machen, das Buch zusammenzufassen oder einige Inhalte exemplarisch hervorzuheben. Es ist tatsächlich eine exzellente Darstellung, wie, wodurch und durch wen im Zeitraum von 1572 (Tycho Brahe sieht eine Nova, einen neuen Stern) bis 1704 (die „Opticks“ von Newton werden veröffentlicht) eine Revolution der Naturwissenschaften stattfindet. Wie diese Revolution zugleich eine Art zu Denken und ein Vokabular einführt, das wir heute noch, völlig selbstverständlich, genauso verwenden. Wie letztlich unsere heutige Moderne entsteht. Dabei wird mit Vorurteilen, Selbstverständlichkeiten, Denkfehlern aufgeräumt, dass es einem ganz luftig im Kopf zumute wird. Trotz all der Details, die einem in demselben herumschwirren.
Image - Tycho Brahe in his observatory at the Castle of Ur

Mein Fazit

Toll. Die Zeit, dieses Buch zu lesen, sollte man sich nehmen. Man bekommt fast ein wenig Hochachtung vor dem Menschen und seinen geistigen Fähigkeiten, so mangelhaft sie auch sind, und versteht sich selbst und seine Umwelt hinterher besser. Mehr kann man von einem Buch doch eigentlich nicht verlangen, oder?

Etwas zu lesen zum Schluss

Ach so, vielleicht doch noch ein, zwei Zitate.

Eines von Descartes:
„Right understanding [unser Common Sense oder der gemeine Menschenverstand] is the most equally divided thing in the World; for every one beleeves himself so well stor’d with it, that even those who in all other things are the hardest to be pleas’d, seldom desire more of it than they have.“

Das andere von Wootton:
„(…) clocks provided an inpersonal mechanism for the coordination of community services (the saying of the offices in monasteries and cathedrals, the opening and closing of markets in town and cities). Egalitarian communities (cities, monasteries and cathedral chapters all chose their leaders through elections) are governed by the clock, while despotisms are not; clocks were given prominent, public places in monasteries, cathedrals and town halls, but they were slower to establish themselves in royal palaces. (…) These factors (…) were absent in China, and hence the Chinese admired clockwork but had no use for it.“
Daran kann man denken, sobald der eigene Chef (oder die eigene Chefin) einem den Terminplan ruiniert.
100 Years Carnegie: Newton: the Crucial Experiment

George Stubbs and the wide creation. Robin Blake

Bei einer Umfrage in Deutschland nach britischen Malern würde George Stubbs bestimmt weder gestützt noch ungestützt tolle Werte bekommen. In England sieht das schon besser aus, aber auch hier taucht er wahrscheinlich nicht unter den Top10 auf (auch wenn Jonathan Jones in seiner neuen Geschichte der britischen Kunst in sogar aufs Cover hebt! – siehe unseren Blogbeitrag).

George Stubbs – Tiermaler par excellence

Diese Beobachtung ist für George Stubbs, *1724, † 1806, durchaus typisch sogar zu seinen Lebzeiten.

Einerseits war er unter ferner liefen. Die Sujets, die er häufig malte, fallen in die Kategorie „Sonderinteressen“, meistens Tiere, vor allem Pferde. „Horse painter“ würden viele Engländer wahrscheinlich spontan über ihn sagen. Dabei hat er auch andere Tiere gemalt, Zebras, Nashörner, Affen, Kängurus und Elche.
Rhinoceros | Art UK Government puts export ban on George Stubbs' kangaroo and dingo ...Amazon.com: George Stubbs A Zebra, 1763 90x72 [Kitchen]: Prints ...
Das bringt einen natürlich nicht nach vorn in den Charts. Vorn, dort fand man im 18. Jahrhundert Historienmaler oder auch Porträtisten, die Maler der Großen, der staatstragenden Kunst, Maler wie Joshua Reynolds oder Thomas Gainsborough. Geholfen hat bestimmt nicht, dass Stubbs immer bodenständig war, pflichtbewusst, zurückhaltend. Kein Mann der Fassade mit überbordendem Sendebedürfnis und Sendungsbewußtsein.

Andererseits war er schon der Beste. George IV., als er noch Prinzregent war und George Augustus hieß, beauftragte Stubbs. Der sonstige Hochadel, angemessen stolz auf seine Pferdezucht und die hochdekorierten Rennpferde , kam um ihn nicht herum. In der Society of Artists, einem Vorläufer und dann Konkurrenten  der Royal Academy, war er eines der prominentesten Mitglieder. Und immerhin, eines seiner Gemälde, „Gimcrack mit einem Reitknecht auf Newmarket Heath“ erzielte bei einer Auktion den Preis von 48 Mio. $. Nicht schlecht für einen Tiermaler.
Gimcrack mit einem Reitknecht auf Newmarket Heath (George Stubbs)

Robin Blake – sensibler Biograph mit Augenmaß

Mit Robin Blake hat Stubbs endlich den richtigen Biographen gefunden. Er versteht etwas von Kunst – eine seiner anderen Biographien behandelt Anthony van Dyck. Rennpferde sind ihm eine Herzensangelegenheit. Er kann schreiben: Es ist beeindruckend, wie Blake immer wieder Dinge auf den Punkt bringt und mit wie wenigen Strichen er Atmosphäre und Charaktere schafft. Und er forscht gerne: Unter anderem ist es Blake gelungen, beim Durchstöbern von Kirchenbüchern herauszufinden, dass Stubbs bereits in jungen Jahren geheiratet hat, was vorher keiner bemerkt zu haben scheint.
Biography

Kleine Anmerkung zwischendurch: Die Ausgabe seiner Stubbs-Biographie von Ramdom House ist eigentlich ein Skandal und hat Blake nicht verdient. Selten habe ich Illustrationen so erbärmlicher Druckqualität gesehen. Ich frage mich tatsächlich, ob die sich etwas dabei gedacht haben?!

Anatomische Studien an Pferden

Schwer zu vergessen ist Blakes Schilderung davon, wie Stubbs von 1756 – 1759 in Horkstow, einem kleinen Ort in Lincolnshire, anatomische Pionierarbeit an Pferden leistet. Mit seiner Lebensgefährtin und Haushaltsperle – damals noch keine 20 Jahre alt – wuchtet er gemeinsam Pferdeleichen ins Obergeschoss, hängt eine faszinierende Vorrichtung an die Decke, um darin das Pferd in lebensechte Position zu bringen. Der Grund? Sicherlich Neugier, aber auch das Grundbedürfnis, so naturgetreu wie möglich zu malen. Und dafür muß man halt die Natur studieren. Gründlich. So wie schon Leonardo da Vinci, der in dieser Beziehung in Stubbs einen Nachfolger gefunden hat.
The first anatomical table of the skeleton of the horse by George ...

Stubbs, Erasmus von Rotterdam, Humbletonian und Herakles

Zuletzt möchte ich noch versuchen, eine Verbindung zwischen diesen etwas disparaten Namen herzustellen.

Erasmus von Rotterdam brauche ich, weil ich über ihn meinen letzten Blogbeitrag geschrieben habe (und weil er überhaupt nichts mit Stubbs gemein hat). Erasmus hat sich – unbescheiden wie er war – ganz gerne mit Herakles vergleichen. Seine extrem zeitaufwändige und nervenaufreibende Herausgeber-Arbeit an den Werken des heiligen Hieronymus hat er daher mit dem Begriff „die Mühen des Herakles“ bezeichnet.

Stubbs brauche ich natürlich auch, denn um ihn geht es hier. Blake berichtet über ihn: „Stubbs’s attachment to Hercules was great and long-lasting.“ Auch hat Stubbs drei große, leider verschollene, Gemälde mit dem griechischen Halbgott gemalt.

So weit, so gesichert.

Spekulativ wird es jetzt. Stubbs hat ein schon damals sehr umstrittenes Bild gemalt. Es zeigt eines der berühmtesten Rennpferde seiner Zeit – Name: Humbletonian – unmittelbar nach dem Gewinn eines der berühmtesten Pferderennen überhaupt. Das Bild ist so umstritten, weil Humbletonian erschöpft gezeigt wird, völlig erledigt nach einem Galopprennen über vier Meilen. So malt man keine Helden.
Hambletonian', Rubbing Down | Art UK

Humbletonian ist so erschöpft wie ein anderer Held, wie Herakles in einer der berühmtesten Skulpturen der Antike, dem Herakles Farnese. Er kann nicht mehr nach seinen zwölf Heldentaten, den Mühen des Herakles. Ein Kraftprotz, der nicht mehr kann und nicht mehr will und der vielleicht auch nicht weiß, wofür das alles gut gewesen ist.
Farnese Hercules | Hendrick Goltzius | 17.37.59 | Work of Art ...

Und damit hat sich der Kreis geschlossen.
George Stubbs – Wikipedia

Erasmus, man of letters: The construction of charisma in print. Lisa Jardine

Erasmus von Rotterdam (* um 1467, † 1536) zählt auch heute noch zu den bekanntesten Persönlichkeiten der nordeuropäischen Renaissance und des europäischen Humanismus. Er ist das Paradebeispiel eines Gelehrten, uneigennützig, rein an der Sache orientiert, immer auf der Suche nach Wahrheit. Trotz seines Namensanhängsels „von Rotterdam“ ist er einer der ersten Europäer (während sein Zeitgenosse Luther klar als Deutscher einsortiert werden würde). Ein europäisches Studentenaustauschprogramm ist nach ihm benannt. Auch Universitäten und viele Schulen tragen seinen Namen. Und damit sind alle Häuser, Brücken, Straßen, Plätze, U-Bahn-Linien, ICEs …. noch nicht einmal erwähnt.
Erasmusbrücke

Das Buch von Lisa Jardine, ehemals Professorin für Renaissance-Studien in Großbritannien, aber leider im Jahr 2015 verstorben, geht der Frage nach, wie Erasmus eigentlich zu seinem guten Ruf gekommen ist.
Lisa Jardine: Tributes after renowned historian dies - BBC News

PR-Profi des Humanismus

Ihre Erkenntnis: Erasmus hat sich offenbar sehr bewusst darum gekümmert, genau den Ruf aufzubauen, den er heute hat. Modern formuliert: Erasmus war ein ausgeprägter PR-Profi in eigener Sache.

Einige Aspekte von Jardines Buch sind zum Glück recht gut nachvollziehbar, auch ohne Experte zu sein, Latein zu beherrschen und ihr Buch zu lesen.

Die Porträts: Erasmus als neuer Hieronymus

Jardine macht überzeugend deutlich, dass nicht der jeweilige Künstler – Metsys, Holbein oder Dürer – entschieden hat, in welcher Pose, mit welchen Gegenständen, vor welchem Hintergrund und mit wem Erasmus abgebildet wird, sondern Erasmus selbst. Besonders auffällig dabei ist, wie sehr die Porträts sich an der Ikonographie des Heiligen Hieronymus orientieren (wobei Erasmus – siehe seine Kleidung – schon mehr Wert auf teure Kleidung legt als sein Vorbild, dafür aber auf Totenkopf und Löwen verzichtet….)
Erasmus von Rotterdam – WikipediaHieronymus oder die Kunst des Übersetzens | Gymnasium Leoninum Handrup

Hieronymus war nicht nur ein christlicher Kirchenvater und Asket, sondern durch seine Übersetzung der Bibel ins Lateinische – die Vulgata – auch ein Gelehrter. Er beherrschte Latein, Griechisch und Hebräisch. Außerdem hat er intensiv Textkritik betrieben und versucht, dem ursprünglichen Bibeltext möglichst nahe zu kommen. Und nicht zuletzt ist Hieronymus für seine Briefe berühmt.

Durch die Porträts präsentiert sich Erasmus quasi als neuen Hieronymus. Er stellt sich als würdigen, gleichwertigen Nachfolger in eine lange Tradition von christlichen Gelehrten überregionaler Bedeutung, die sich mit der Herausgabe und Übersetzung zentraler Texte der Antike und der christlichen Tradition beschäftigen.

Die Briefe: Das Epizentrum der europäischen Macht- und Geisteswelt

Neben all seinen anderen Schriften und Textausgaben sind die weit über 2000 erhaltenen Briefe von und an Erasmus von überragender Bedeutung. Wer immer während seiner Lebenszeit auch nur ansatzweise VIP-Status hatte, bekam Post (und antwortete anscheinend auch oft). Martin Luther, Heinrich VIII., Papst Leo X. und viele, viele mehr: Sie alle sind mit dabei.

Diese Briefe waren ihm wichtig. Er reagierte allergisch, wenn jemand anderes ohne sein Einverständnis sie veröffentlichte. Gleichzeitig kümmerte er sich selbst akribisch darum, dass die richtigen Briefe in der für ihn richtigen Abfolge erschienen.
La Maison d'Érasme - Portraits d'Erasme

Damit positionierte sich Erasmus als supervernetzt im, Europa des 16. Jahrhunderts. Alle von Rang und Namen finden ihn offenbar toll, alle bitten ihn um Rat, ohne ihn geht praktisch nichts, jedenfalls nichts Wichtiges.

Hübscher Nebeneffekt dabei: Erasmus stellt sich wieder in eine lange Tradition bis in die Antike. Seine Briefe werden in einem Atemzug genannt mit denen von Cicero, Plinius, Libanios und – siehe oben – dem Heiligen Hieronymus.

Das Buch von Jardine: eher für Spezialisten

Für das breite Publikum hat Jardine sicherlich nicht geschrieben. Durchhaltevermögen, Lateinkenntnisse und Spaß an komplexen Nominalkonstruktionen im Englischen sind wichtig. Oder anders formuliert: Stilistisch kommt Jardine bei weitem nicht an Erasmus heran.
Erasmus, Man of Letters: The Construction of Charisma in Print by ...

Dennoch, gerade ihre Kapitel über die Porträts und die Briefe sind recht gut zugänglich und sogar mitunter fast spannend geschrieben. Nicht umsonst und zurecht ist das Buch – ursprünglich 1993 erschienen – 2015, kurz vor Jardines Tod, noch einmal neu aufgelegt worden.