London: City of Sin – London and its Vices. Catharine Arnold

London ist die Stadt der Sünde, Paris dagegen die Stadt der Liebe. „City of Sin“ erzählt die Geschichte der Prostitution in London von römischer Zeit bis in die Gegenwart.

Viele Details sind wissenswert und interessant. Wie zum Beispiel, dass für die römischen Bordelle regelmäßig Schiffsladungen junger Frauen aus dem ganzen römischen Reich an der Themse anlegten. Oder, dass zunächst die Gegend rund um die heutige Southwark Cathedral das „Rot-Licht-Viertel“ war, später Covent Garden, danach Haymarket. Oder, dass das Geschäft mit der Prostitution Jahrhunderte lang in Frauenhänden lag, was sich erst änderte, als ein Gesetz es Prostituierten verbot, sich zu mehreren unter einem Dach aufzuhalten; damit war der Schutz der Gemeinschaft weg und der Zuhälter wurde nötig. Oder, dass im Mittelalter Bischöfe und Könige Bordelle besaßen und gut an ihnen verdienten.

Arnold beschreibt in ihrem Buch, was getan wurde im Geschäftsfeld Prostitution. Sie erklärt weniger, warum. 333 Seiten über das immer wiederkehrende Was sind dann auch ein bisschen ermüdend… – Ja, Arnold bietet kleine Ansätze von Einbettungen in einen größeren gesellschaftlichen Kontext. So, wenn sie die Leidenschaft der adligen Kunden für Flagellation auf deren frühe Lust-Schmerz-Erfahrungen in Public Schools zurückführt. Aber diese Ansätze sind insgesamt zu zaghaft, zu unsystematisch und zu wenig fundiert.

Außerdem nutzt sie im wesentlichen Quellen von männlichen Personen, während die Stimmen derjenigen, die einen großen Teil der Dienstleistung erbrachten, kaum vorkommen. Die Reflexion derjenigen, die sich prostituierten, ihre Bewertung der eigenen  Lebensumstände und ihres Gewerbes kommt in meinen Augen zu kurz. Eine gute Bewertung des Buchs bietet ein Artikel des Guardian: “ (…) Post-Belle de Jour, this revelation seems far less spicy than it might once have done, but it does add an interesting dimension to Arnold’s book, in that a history of London as locus for the pleasures of the flesh is largely a history of prostitution. Sex and commerce have been intimately entwined in the capital since the earliest accounts, and this thorough, chronological tour of London’s demimonde from the Romans to the present shows that while fashions in public morals may come and go, human nature remains reassuringly predictable when it comes to sexual adventures. (…)“

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Arnold geht chronologisch- von römischen Lupanarium bis zum Swinging London – vor, bildet hierbei thematische Schwerpunkte: Sie berücksichtigt weibliche und männliche Prostituierte, Kinder, homosexuelle Praktiken und „Perverse Pleasures and Unnatural Lusts“, Bordelle und den Straßen Strich.

Catharine Arnold hat Bücher über das Globe-Theater, Irrenhäuser und Gefängnisse veröffentlicht.

No Voice from the Hall – Early Memories of a Country House Snooper. John Harris

Dieses Buch erzählt die Geschichte englischer Herrenhäuser, denen das Schicksal nicht hold war. Es berichtet von Häusern, die es mittlerweile nicht mehr gibt oder nur noch in extrem veränderter Form.

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Herrenhäuser in England

Ist England nicht das Land voller wunderbarer Herrenhäuser? Ja, das ist es. Dennoch wurden in den späten 1950er Jahren jede Woche zwei bis drei Häuser zerstört. Jede Woche. Und nicht einfach die architektonisch und historisch unbedeutenden. Es waren Häuser gebaut von bekannten Architekten für wichtige Familien. Häuser gefüllt mit geschnitzten Treppen, Marmorkaminen, Stuckdecken, Kronleuchter, Möbeln, Porzellan… und umringt von Gärten oder Parks.

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Harris erzählt, wie er als Junge dazu kam, mit seinem Onkel verlassene Herrenhäuser zu besichtigen. Wie dies zu einer Leidenschaft wurde, weiter angeheizt durch Kenntnisse im Handel mit Antiquitäten sowie die Arbeit für Nikolaus Pevsners ambitionierte Nachschlagewerke zur Architektur Englands.

„Up, over and in“: Country House Snooping

Er erzählt auch vom schmerzlichen Zauber, die Reste dieser „houses in distress“ zu entdecken, und von seiner Wut über die verantwortungslose, oft willkürliche Zerstörung. Das Buch enthält kleine Essays, die diese Entdeckungsgeschichten des Autors beschreiben: über den Zaun, durch den Stacheldraht, durchs Fenster: „When I turned to look at the door (…)  the most bizarre item in this bizarre room was a huge nineteenth-century gilt picture frame, missing its picture, that had been buckled into a corner.“

Cover

Welche Schicksalsschläge hatten die Häuser in Not gebracht?

Viele Häuser wurden im 1. Weltkrieg von ihren Besitzern für humanitäre, seltener militärische Zwecke zur Verfügung gestellt. Im 2. Weltkrieg wählte die britische Regierung gezielt Häuser für militärische Zwecke aus, z. B. für die Unterbringung von Soldaten oder von Kriegsgefangenen. Die Schäden, die diese Nutzung angerichtet hatten, waren derart weitreichend, dass die ihnen gegenüber stehende geringe Kompensation eine Restaurierung für die Besitzer häufig unmöglich machte. Dazu kamen hohe Erbschaftssteuern in der Nachkriegszeit, vandalierende Jugendliche,  Regen, Schimmel…

Erst die Ausstellung „Destruction of the Country House“ von 1974, organisiert von John Harris und Marcus Binney, rief der englischen Öffentlichkeit ins Bewusstsein, in welchem Ausmaß sie dabei war, ihr architektonisches Erbe zu zerstören.

Good Hope – South Africa and the Netherlands from 1600. Martine Gosselink

Diese Geschichte Südafrikas ist etwas ganz Besonderes: sie bietet einen einfachen Einstieg ins Thema, verständliche Texte und interessante Bilder. Sie ist umfassend und fundiert, leistet eine multiperspektivische Annäherung.  Aus meiner Sicht ist „Good Hope“ ein durch und durch modernes Buch in Aufmachung, Themen und Inhalten. Erstaunlich gut. Verblüffend gut lesbar.

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Das Buch räumt auf mit dem Mythos eines leeren Landes, das durch die Holländer besiedelt wurde. Es erklärt, dass Sklaverei von Anfang an eine tragende Säule der Gesellschaft in Südafrika war. Eine besondere Leistung liegt darin, nachvollziehbar zu erklären, wie organisatorische Regelungen ganz unterschiedlicher Art zu verschiedenen Zeiten im Zusammenleben zwischen Weißen und Nicht-Weißen die Voraussetzung für Ausbeutung waren. „Good Hope“ macht deutlich, wie Europäer bereit waren, zu ihrem eigenen Vorteil jenseits von christlichem Glauben und Moral dem Antrieb der Gewinnmaximierung zu folgen. Und dies unabhängig von ihren jeweiligen Herkunftsländern. Link zum Video hier.

Aufbau von „Good Hope“

Das Buch ist chronologisch aufgebaut, beginnt mit der Bevölkerung Südafrikas, bevor Europäer sich dort niederließen, und endet in der heutigen Zeit. Viele kurze Texte sind in 21 thematische Kapitel sortiert. Jeder dieser Kurztexte ist in sich abgeschlossen. Deshalb kann man das Buch gut nach eigenen Vorlieben kreuz und quer lesen. Es hat 375 Seiten, hiervor zeigen über die Hälfte Abbildungen. Eine Fülle von Autorinnen und Autoren aus Südafrika und den Niederlanden eröffnet den Lesern den Blick auf historische, kulturelle und politische Aspekte.Bildergebnis für Good Hope South Africa and the Netherlands from 1600

Kapitel von „Good Hope“ (Auswahl)

  • The world the Dutch invaded: pre-colonial South Africa
  • Home from home: the colonists settle in
  • Slavery in South Africa
  • The early Muslim comminity
  • State, church and the people: the Dutch role in apartheid
  • Afrikaans: a language on the move

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Der Untertitel legt nahe, dass es nur um diejenigen Bereiche der gemeinsamen Geschichte geht, die Südafrika und die Niederlande teilen. Ja und nein. Ja, diese Beziehung von 1600 bis heute ist der inhaltliche Fokus des Buchs. Nein, denn auch andere Bereiche werden ausreichend deutlich erklärt, so z. B. die Rolle Englands in Südafrika oder die wechselvolle Geschichte von Transvaal, der Goldrausch und die Entdeckung von Diamanten.

„In the geopolitical flux of the twenty-first-century world it is intriguing to think about how colonial communities changed metropolitical societies. Some historians and political theorists have observed the profound influence that colonies and settlements in far-flung places have had on European countries, their knowledge, cultures, worldviews and power structures.“

„Good Hope“ ist durch das niederländische Rijksmuseum 2017 als Ausstellungskatalog der gleichnamigen Ausstellung herausgegeben worden. Material zur Ausstellung auf der Seite des Museums hier. Editiert wurde das Buch von Martine Gosselink, Maria Holtrop und Robert Ross.

Bellissima – Feminine Beauty and the Idea of Italy. Stephen Gundle

Die Schönheit italienischer Frauen: hier ist das Spektrum der Assoziationen weit. Von den leichtbekleideten Frauen im italienischen Fernsehen über Sophia Loren bis hin zu den Frauengesichtern des Quattrocentro. Was immer das Herz begehrt… Aber, schöne Frauen UND die Idee von Italien? Das ist ein ungewöhnlich interessanter Ansatz.

Stephen Gundle beschreibt in seinem Buch, wie das Ideal der schönen Italienerin im Lauf der Jahrhunderte für ganz unterschiedliche Zwecke derer genutzt wurde, die es propagierten: politische Einheit, Tradition, Wohlstand nach Kriegsjahren, Modernität, Marketing, Sex. Er skizziert sowohl die inner-italienischen Trends wie auch den Blick nordeuropäischer Reisender und des westlichen Filmpublikums der 50er und 60er Jahre.

Gesamtpaket: Schönes Italien, schöne Italienerinnen

Die Idee von speziell italienischer, weiblicher Schönheit hat nach seinen Ausführungen im wesentlichen eine integrative Funktion.  Im Zusammendenken von Italien, Kultur, Kunst und weiblicher Schönheit spendete letztere auch Trost in einer als unübersichtlicher und komplexer wahrgenommenen Welt: „One of the most striking features of Italian feminine beauty is continuity or (…) the semblance of continuity. A crucial part of the appeal of this cultural configuration lies in the fact that the beautiful Italian woman is considered to be timeless (…). From the time of the Grand Tour, northern Europeans looked to the peninsula and its women, hoping to find there a sense of the wholeness that they were convinced had disappeared from their own countries.“

Schönheitswettbewerbe als Praxistest für Ideale

Besonders interessant ist Gundles Ansatz, über die Veranstaltung, Verdammung und mediale Verwertung von Schönheitswettbewerben seit den 30er Jahren die widersprüchlichen Anforderungen an das Ideal der italienischen Schönheit innerhalb der Gesellschaft zu zeigen. Alleine das Bildmaterial hierzu ist faszinierend.

Verbüffend, doch ebenso interessant wie nachvollziehbar sind seine Ausführungen zur beliebtesten italienischen Porn-Queen, Moana Pozzi, die nach ihrem frühen Tod eine Art säkulare Heilige wurde…

Kapitel von „Bellissima“

  • Italy, the Land of Beauty
  • The Blonde Aura of Queen Margherita
  • The Rise of the Professional Beauty
  • Fascism and the Allure of the Female Image
  • Beauty and National Identity after the Second World War
  • Catholics, Communists and Beauty Contests
  • The Female Film Stars of the 1950s
  • Mass Consumption and Ideals of Beauty
  • Emancipation, Eroticism and Nostalgia
  • Beauty and Ethnicity in the Era of Globalisation
  • The Return of the „Bella Italiana“

Schönheitsideal und Kulturgeschichte

Good Reads zu „Bellissima“: Feminine beauty has been more associated with national cultural identity in Italy than in any other country. From the time of Dante and Petrarch, ideals of beauty have informed artists’ work. This intriguing and gloriously illustrated book investigates the many debates this topic has provoked in modern Italy.“

Der Autor thematisiert explizit das Ideal weiblicher, italienischer Schönheit als Wunschvorstellung von Männern. Auch sprachlich berücksichtigt er diesen Aspekt: konsequent formuliert er mit großer Sensibilität, dass sich der männliche Blick auf den weiblichen Körper richtet. Dort, wo Frauen selbst die Initiative zur Selbstdarstellung und Selbstreflexion nutzten, berücksichtigt er diese Belege. Erstaunlicherweise – oder auch eben nicht – entdeckte die katholische Kirche alleine sehr schnell, dass der unbekleidete weibliche Körper, der für Marketingzwecke eingesetzt wird, nicht unbedingt eine Wertschätzung von Frauen ausdrückt.

„Bellissima“ ist reichbebildert und verfügt über eine umfangreiche Bibliografie.

Tractatus theologico-politicus. Baruch Spinoza

Seit einiger Zeit schon pirsche ich mich an dieses Buch heran. Erst habe ich in der Philosophiegeschichte von Gottlieb über Spinoza gelesen, dann ein Buch von Nadler speziell über diesen Theologisch-politischen Traktat.

Eines ist offensichtlich: Bei der Wahl seines Buchtitels hat Spinoza entweder keinen Marketing-Experten hinzugezogen, oder er wollte absichtlich vom Lesen abschrecken. Sperriger und unattraktiver geht kaum noch. Erzählen Sie mal auf einer Party, dass Sie gerade einen theologisch-politischen Traktat lesen. Da können Sie dann gleich alleine weiter trinken….

Zum Party-Einsatz also empfehle ich das Buch nicht. Sonst aber in jeder Hinsicht. Meine Gründe dafür?

  • Hilft beim Nachdenken über Gott und die Welt, über Demokratie und Meinungsfreiheit, das Verhältnis von Religion und Staat, über Rechtsstaat und Heiligenglaube
    Viele der wirklich grundlegenden Fragen, mit denen sich nachdenkende Menschen beschäftigen, werden in diesem Buch behandelt und beantwortet. Wer sich gerne einmal sortieren möchte, kann dies mit Spinoza tun.
  • Ist auch für theologische oder philosophische Einsteiger lesbar und verständlich
    Spinoza schreibt sehr klar, sehr schnörkellos, sehr auf den Punkt. Seine Terminologie ist einfach. Er erklärt immer vorweg, was er zu tun beabsichtigt, legt seine Argumente offen und versetzt den Leser so in die Lage, selber zu Schlüssen zu kommen. Spinoza ist damit im allerbesten Sinn ein Autor der Aufklärung und ein Vertreter besten wissenschaftlichen Arbeitens. Es wäre toll, wenn alle Wissenschaftlicher und alle Philosophen heute so transparent und klar schreiben würden.
  • Macht keine faulen Kompromisse
    Es gibt nur wenige Tabus des späten 17. Jahrhunderts (und zum Teil der heutigen Zeit), die Spinoza nicht bricht. Er stellt alles in Frage und schaut, ob es einer nüchternen, logischen Betrachtung standhält. Propheten, Wunder, die Wahrheit der Bibel, Herrscher von Gottes Gnaden und viele(s) mehr werden nicht akzeptiert und als gegeben angenommen, sondern analysiert und hinterfragt. Spinoza räumt Fassaden weg und schaut, ob es eine Substanz gibt und wie sie aussieht.
  • Ist kein Theoretiker, sondern praxisorientiert, mit Umsetzung auch im eigenen Leben
    Spinoza baut keine theoretischen Konstrukte, deren abstrakte Schönheit nur von wenigen Eingeweihten im stillen Kämmerlein gewürdigt werden kann und die keinerlei Relevanz für die Realität haben. Auch Menschen sind für ihn nichts Abstraktes, sondern Lebewesen mit all ihrer Fehlbarkeit, Eitelkeit, Manipulierbarkeit, mit ihrer Hab- und Machtgier, mit ihren intellektuellen Begrenztheiten und der eigenen Selbstüberschätzung. Obendrein hat man Spinoza in seinem Leben zwar sonst alles Mögliche vorgehalten, musste aber – wie ein Kommentator schrieb – einräumen, dass er „not only preached a philosophy of tolerance and benevolence but actually succeeded in living it“. 
  • Ist ein sympathischer Mensch, der mit seinen eigenen Ängsten mutig umgeht
    Spinoza hat gewusst, welche Ablehnung, welche Anfeindung, welchen Hass dieses Buch in der Öffentlichkeit auslösen wird. Ein wenig ist er davor zurückgewichen durch den sperrigen Titel, durch anonyme Veröffentlichung. Aber er hat geschrieben, veröffentlicht und ausgehalten.
    Spinoza weiß, dass er zu den Schlauen gehört. Intellektuelle Arroganz ist ihm nicht fern. Zugleich kann er aber an völlig unerwarteten Stellen witzig sein und sich selbst in Frage stellen. Bertrand Russell ließ sich hinreißen, Spinoza als „the noblest and most lovable of the great philosophers“ zu bezeichnen. Oder – wie Gottlieb schreibt – „The worst anyone found to say about him, religious matters aside, was that he sometimes enjoyed watching spiders chase flies“. In der Tat kann man sich gut vorstellen, dass es ein Vergnügen gewesen wäre, ihn persönlich zu kennen, sich mit ihm zu unterhalten, eventuell sogar auf eine Party zu gehen (siehe oben).
  • Ist sogar im Original für Schul-Lateiner mit ein klein wenig Geduld ohne Weiteres zu verstehen!

Zwei Zitate zum Abschluss, eines zur Meinungsfreiheit, eines zu Spinoza:

„Gesetzt aber, diese Freiheit könnte unterdrückt und die Menschen könnten  in Schranken gehalten werden, daß sie nicht zu mucken wagten ohne Erlaubnis der höchsten Gewalten, so wird es doch sicherlich niemals dahin kommen, daß sie auch bloß so denken, wie die höchsten Gewalten es wollen. Die notwendige Folge wäre also, daß die Menschen tagaus, tagein anders redeten, als sie dächten, und damit würden Treu und Glaube, die dem Staate doch so nötig sind, aufgehoben (…). Aber weit entfernt, daß alle wirklich nur nach der Vorschrift redeten, würden die Menschen gerade um so hartnäckiger auf der Redefreiheit bestehen, je mehr man sie ihnen zu nehmen trachtete, und zwar nicht die Habgierigen, die Schmeichler und die anderen Menschen von ohnmächtigem Geist, deren größtes Glück es ist, das Geld im Kasten zu betrachten und sich den Bauch zu füllen, sondern gerade diejenigen, die ihre gute Erziehung, die Reinheit ihrer Sitten und die Tugend zu freieren Menschen gemacht haben.“

Und:
„Ich weiß, daß ich ein Mensch bin und daß ich habe irren können.“

Zur Überprüfung, wieweit das Schullatein noch reicht:
„Scio me hominem esse et errare potuisse.“

Gelesen (und zitiert) habe ich die zweisprachige Ausgabe von Gawlick und Niewöhner aus dem Jahr 1979.

The Mystery of the Portland Vase. Robin Brooks

Eine wertvolle Glasvase. In ihrem fast 2000 Jahre alten Leben zweimal in Fragmente zerlegt. Eine solche Vase verliert auch dann nicht ihren Wert: wenn sie die Portland Vase ist.

The Portland Vase: The Extraordinary Odyssey of a Mysterious Roman Treasure by [Brooks, Robin]

Kulturgeschichte eines Objekts

Robin Brooks erzählt die Geschichte der berühmten Vase durch die Geschichten ihrer illustren Besitzer und Besitzerinnen sowie der Künstler, die sie kopiert haben: ein Grabräuber, Kardinäle, Prinzessinnen und Herzoginnen, Diplomaten, Dukes, das British Museum. Auch ein Restaurateur kommt vor, der heimlich Splitter der Vase in einer Schachtel aufhob… Für jede Person, die die Vase besitzen wollte, war sie nicht nur begehrenswert schön. Sie war auch ruinös teuer.

Nachdem die Vase 2000 Jahre überstanden hatte, kam am am 1845 ein junger Ire ins Britische Museum, nahm ein antikes Marmor-Trümmerstück und schleuderte dieses auf die gläserne Vitrine mit der gläsernen Portland Vase. 2000 Jahre nach ihrer Entstehung bestand die Vase aus 200 kleinen Glasstückchen.

Besitzer

19 „Fragmente“ enthält das spannende Buch von Brooks. Jedes Fragment erzählt von einer anderen Phase in der Geschichte der Vase. Durch ihre Besitzer und deren Leidenschaften bekommt sie sozusagen Leben eingehaucht. Sie ist von Hand zu Hand gegangen. Kalt gelassen hat die Vase dabei offenbar selten.

„So the vase changed hands, and continued its journey down the river of history, its course following the currents of the great and the peculiar. It now passed from ist first attested owner (Kardinal Francesco Del Monte) to the second, and the second is one of the very greatest and most peculiar that it would encounter in its long career. In 1627, after the death of Francesco, the vase made a short journey from the Palazzo Madama to the Palazzo Barberini. This particular swirl of the current had at its centre Maffeo Barberini, known to posterity as Urban VIII. The vase’s career as a top-flight status symbol was only just beginning, and far from being used to illuminate the past, it was about to be mixed up in the most excessive social posturing imaginable, not to mention black magic and murder.“

Die berühmteste Kopie

Künstler wie Winckelmann, Keats und William Blake waren von der Portland Vase fasziniert. Am berühmtestes ist jedoch Josiah Wedgwood: Ihm gelang es, einen sensationellen PR-Coup zu landen, indem er die Vase kopierte. Mehr hierzu in unserer Besprechung einer Wedgwood-Biografie.

Herkunft der Vase

Die Portlandvase ist eine römische Amphore aus der Zeit von Augustus. Sie besteht aus dunkelblauem Glas, das mit einer Schicht aus weißem Glas überzogen wurde. In diese weiße Schicht wurden die Figuren hineingeschnitten. Sie ist heute etwa 25 cm hoch. Möglicherweise hatte sie ursprünglich einen höheren Fuß.

Die 200 Fragmente ihrer Zerstörung wurden wieder zusammengeklebt. Bis heute gab es zwei weitere Restaurierungen (1949 und 1989).

Was die abgebildeten Figuren bedeuten sollen, ist bis heute übrigens nicht ganz klar.

My name is book: an autobiography. John Agard

Ein erfreuliches Buch: leicht und flockig, voll kreativer Ideen und mit wunderbaren Illustrationen, inhaltsreich, ohne bedeutungsschwer zu werden, motivierend und amüsierend, nicht belehrend. Es macht – nicht nur Kinder und Jugendliche! – neugierig darauf, mehr über das Buch und seine Lebensgeschichte zu erfahren.

John Agard, geboren 1949 in Guyana, kann viel.

Er ist Dichter, Illustrator, Sachbuchautor. Die Liste der Veröffentlichungen von ihm oder mit seiner Beteiligung ist lang. Die seiner Auszeichnungen auch. In Deutschland ist er nicht unbekannt, da die Autobiographie des Buchs auch in deutscher Übersetzung (mit allen Illustrationen!) erschienen ist.

Als Beispiel ein Auszug aus dem Kapitel über Bibliotheken, überschrieben „The house of memory“:
„Well, as you know, there was and still is a place where you can borrow me for free and take me home, though if you Keep me too Long you have to pay what’s called overdues.
Such a place was called the ‚house of memory‘ by the Sumerians, ‚the healing place of the soul‘ by the Egyptians, and ‚an ocean of gems‘ by the Tibetans.
I’m talking about a library, of course.
As far back as I can remember, there were libraries. they grew as writing grew. Ges ago a librarian was known as the ‚keeper of tablets‘ and a library as the ‚house of tablets‘. takes me back to the days of writing on clay. One Assyrian king I knew then was such a keen collector of clay tablets, he even had had his own library with a built-in kiln for baking them. Talk about hot off the press!“

Dringende Empfehlung für alle Bibliotheken, dieses Buch. Und für die, die noch kein Bücher-Fan sind. Und für alle, die schon dazu gehören.

London: Guide to the Architecture of London. Edward Jones, Christopher Woodward

Dieser „Guide to the Architecture of London“ ist einfach ein Muß für alle, die London lieben und natürlich Architektur.

Was macht diesen Guide to the Architecture of London von Edward Jones und Christopher Woodward aus?

  • Er läßt sich in einer größeren Damen-Handtasche tragen.
  • Er ist nach 16 inneren Gebieten und acht Außenbezirken aufgeteilt.
  • Jede Region wird zunächst zur Orientierung durch eine Landkarte vorgestellt.
  • Alle besprochenen Gebäude sind auch im Bild zu sehen.
  • Die Beschreibung der Architekturen ist beschränkt auf das Wesentliche (wirklich kurz und knapp).
  • Innerhalb der Kapitel zu den einzelnen Regionen ist die Ordnung chronologisch.

Dieser Architektur_Führer ist ein Muster an Klarheit, Ordnung und Systematik. Er ist praktisch und informativ.

Ganz egal, ob man sich auf ein bestimmtes Stadtgebiet Londons beschränken möchte, ob die persönliche Leidenschaft Georgianische Architektur ist oder die Häuser der 1970er Jahre: Dieses Buch schärft den Blick für die wunderbare Stadt London und leistet einen Beitrag dazu, sie noch schöner zu finden.

Ach, es enthält auch eine Einleitung für den Gebrauch, eine knappe Biografie der Stadt und ihrer Gebäude; es bietet ein Farbleitsystem, ein Register und noch viel mehr…

Guide To The Architecture Of London

Tyrants: A history of power, injustice, and terror. Waller R. Newell

Zeitlich hätte dieses Buch kaum besser passen können: Eine Geschichte über Tyrannei und Tyrannen, geschrieben vom kanadischen Wissenschaftler Waller Newell, erschienen bei der Cambridge University Press im vergangenen Jahr. Vielversprechend.

Newell geht chronologisch vor und schlägt dabei zeitlich einen großen Bogen: Er beginnt mit der homerischen Zeit in Griechenland und endet fast in der Gegenwart, allerdings noch vor der amerikanischen Präsidentenwahl. Hierdurch gelingt es ihm, deutlich zu machen, dass es keinen Grund zu der Annahme gibt, in aufgeklärten Ländern und in unserer aufgeklärten Gegenwart ginge die Gefahr für Tyranneien immer weiter zurück: „(…) tyranny is a permanent alternative in human affairs and in explaining political action.“

Eine wirkliche Definition von „Tyrannei“ bietet Newell dabei allerdings nicht. Er unterscheidet pragmatisch drei Typen, die einander überschneiden und in unterschiedlichen Gewichtungen bei ein und demselben Tyrannen vorhanden sein können.

  • Zunächst  „what I call ‚garden-variety‘ tyrants (…). These are basically men who dispose of an entire country and society as if it were their personal property, exploiting it for their own pleasure and profit and to advance their own clan and cronies.“
  • Dann „the tyrant as reformer. These are men who are indeed driven to possess supreme honor and wealth, and power unconstrained by law and democracy. (…) They really want to improve their society and people through the constructive exercise of their untrammeled authority.“
  • Zuletzt die totalitäre, ideologische Variante: „They are driven by the impulse to impose a millenarian blueprint that will bring about a society of the future in which the individual will be submerged in the collective and all privilege and alienation will forever be eradicated.“

In der Darstellung von Newell ist die totalitäte Tyrannei eine relativ neue Erscheinung. Ihre geistesgeschichtliche Basis findet Newell bei Rousseau, die erste Tyrannei dieser Art im jakobinischen Terror der französischen Revolution unter Robespierre. Die Kennzeichen dieser Art von Tyrannei:

  • „driven by a utopian aim in which society is to be completely transformed from being unjust, materialistic, and selfish in the present to being spiritually pure, selfless, and communal in the future.“
  • „have a common set of genocidal aims. They all envision the return of ‚the people‘ to the simplicity of its origins, to what the Jacobins called ‚the Year One,‘ to be achieved by a grimly repressive collectivist Utopia of pure duty, submission, and self-sacrifice. (…) this return to the origins is sparked by an intense loathing of the modern age of the Enlightenment and its alleged vulgarity, selfishness, and materialism.“
  • „share (…) the identification of class or race enemies standing in the way of the coming nirvana, an enemy that sums up in itself all the modern world’s worst qualities. This enemy becomes the embodiment of all human evil, whose destruction will cleanse the planet.“

Überzeugend scheint mir die Argumentation, den heutigen Islamismus weniger als religiösen Fanatismus zu verstehen, sondern notwendig als eine Variante der totalitären Tyrannei.

Beeindruckend Newells Analyse der Entstehung der sogenannten iranischen Theokratie, in seiner Analyse ebenfalls eine totalitäre Tyrannei. Newell verfolgt die geistesgeschichtliche Entwicklung von Rousseau über Heidegger, Sartre, Fanon hin zu Ali Shariati, der es gemeinsam mit Khomeini schließlich geschafft hat, eine Theokratie zu etablieren, die eigentlich überhaupt nicht mit der schiitischen Variante des Islam vereinbar ist: „The Caesoropapist fusion of absolute monarchy and supreme religious authority (…) traditionally had no place in Shia. That all changed due to Shariati and Khomeini.“

Hoffentlich nicht zu optimistisch ist Newells Einschätzung der Stärke der Demokratie in den USA: „America has always had political extremism on both the Left and Right (…), but never have they coalesced around a broad-based utopian vision for tomorrow based upon returning to the mystical ‚destiny‘ of the past that might enlist millions.“ Dies Zitat liest sich etwas ungemütlich vor dem Hintergrund, dass Newell den rechts-populistischen, pro-russischen Parteien in Europa hohe Punktzahlen gibt, wenn man die Kriterien für totalitäre Tyrannei durchgeht.

Also viele interessante Denkanstöße und Analysen. Dennoch für mich ein etwas enttäuschendes Buch. Newell vernachlässigt, eine saubere und tragfähige theoretisch-methodische Basis für seine Darstellung aufzubauen. Seine Argumentationen sind gelegentlich ebenso weitschweifig wie anekdotisch. Der geistesgeschichtliche  Hintergrund von Tyranneien bleibt zu sehr an der Oberfläche und begnügt sich mit Namen und Überschriften. Weniger Anekdoten, mehr wissenschaftliche Substanz bei gleicher Lesbarkeit wäre vielleicht auch für die Cambridge University Press eine bessere Kombination gewesen.

Diese Kritik ändert nichts daran, dass Newell sein Fazit gut auf den Punkt bringt:
„liberal democracy, even at its worst and most flawed, is preferable to tyranny even at its best.“ Und: „As long as we remain vigilant against the wolves who prowl the perimeter, democracy is bound  to defeat tyranny because it’s simply a better idea.“

A book forged in hell: Spinoza’s scandalous treatise and the birth of the secular age. Steven Nadler

Schlimmer verflucht als ihn hatte man noch keinen in der Amsterdamer Gemeinde, weder früher noch später. Baruch Spinoza, 23 Jahre alt, Jude von Geburt und Philosoph aus Neigung im 17. Jahrhundert, muss fliehen:

„Mit dem Urteil der Engel, mit dem Ausspruch der Heiligen, mit der Zustimmung des Gebenedeiten Gottes und dieser ganzen heiligen Gemeinde und dieser heiligen Bücher, mit den Sechshundertdreizehn Geboten, die in ihnen geschrieben sind, mit dem Fluch, mit dem Joshua Jericho verflucht hat, und mit dem Fluch, mit dem Elisha die Burschen verflucht hat, und mit allen Flüchen, die im Gesetz geschrieben sind, verbannen, verstoßen, verwünschen und verfluchen wir Baruch de Espinosa. Verflucht sei er bei Tag und verflucht sei er bei Nacht, verflucht sei er, wenn er sich hinlegt, verflucht sei er, wenn er aufsteht, verflucht sei er, wenn er hinein geht und verflucht sei er, wenn er hinaus geht. Möge ihm der Herr, der dann in diesem Mann, in dem alle Flüche, die im Buch dieses Gesetzes geschrieben sind, liegen werden, seinen Zorn und Missgunst zum Brennen und, mit allen Flüchen des Himmels, welche im Buch des Gesetzes geschrieben sind, seinen Namen unter dem Himmel auslöschen und, zu seinem Übel, aus allen Stämmen Israels entfernen wird, nicht verzeihen. Und ihr, die dem Herrn, eurem Gott, ergeben seid, seid alle heute am Leben. Wir warnen, dass niemand mit ihm weder mündlich noch schriftlich kommunizieren noch ihm irgendeinen Gefallen tun noch mit ihm unter einem Dach noch ihm näher als vier Ellen sein noch irgendein von ihm geschriebenes Blatt lesen darf.“
Hier das Original in Portugiesisch (die Amsterdamer Juden waren Sepharden mit Portugiesisch bzw. Spanisch als offizieller Sprache):

Die Christen waren da gerne mit dabei, sogar Leibniz regte sich auf. Der katholische Index verbotener Bücher war um einen Titel reicher. Man war sich einig: Ein schlimmer, gottloser, umstürzlerischer Mensch. Er muss weg. Und vor allem auch seine Bücher!

Neugierig auf Spinoza wurde ich durch die Philosophiegeschichte von Anthony Gottlieb.
An den Originaltext seines „Tractatus theologico-politicus continens dissertationes aliquot, quibus ostenditur Libertatem  Philosophandi non tantum salva Pietate, & Reipublicae Pace posse concedi: sed eandem nisi cum Pace Reipublicae, ipsaque Pietate tolli non posse“ habe ich mich noch nicht gewagt. Allerdings ist die Neugier nach dem Lesen des Buchs von Nadler noch größer geworden.

Der Grund der Aufregung?
Logisch sauber argumentiert und auch für Nicht-Philosophen sehr gut zu verstehen, zerlegt Spinoza so ziemlich alles, was den Mächtigen in Politik und Religionen für ihren Machterhalt (und vielleicht auch für ihren Glauben) wichtig war. In der Zusammenfassung der wichtigsten Punkte von Nadler:
„Spinoza was the first to argue that the Bible is not literally the word of God but rather a work of human literature; that ‚true religion‘ has nothing to do with theology, liturgical ceremonies, or sectarian dogma but consists only in a simple moral rule: love your neighbor; and that ecclesiastic authorities should have no role whatsoever in the governance of a modern state. He also insisted that ‚divine providence‘ is nothing but the laws of nature, that miracles (…) are impossible and belief in them is only an expression of our ignorance of the true causes of phenomena, and that the prophets of the Old Testament were simply ordinary individuals who (…) happened (…) to have particularly vivid imaginations. The book’s political chapters present as eloquent a plea for toleration (…) and democracy as has ever been penned.“

Seine Vorgänger wie Maimonides, Hobbes und seine Nachfolger wie Locke haben zwar vielleicht ähnlich radikal gedacht und argumentiert wie er, aber sie haben sich oft vorsichtiger ausgedrückt. Spinoza folgt allein der Logik seiner Argumentation, denkt und schreibt frei und unabhängig.

Logisches, unabhängiges, freies Denken und Schreiben ist ihm auch ein besonderes Anliegen, wie schon der lateinische Untertitel seines Tractatus theologico-politicus sagt: Nicht nur kann Freiheit des Denkens („libertas philosophandi„) gewährt werden, ohne dass es Religiosität und Frieden schadet, sondern im Gegenteil man zerstört diese, wenn man die Freiheit des Denkens beseitigt.
Meinungs- und Redefreiheit sind Grundvoraussetzung für ein dauerhaft funktionierendes, sich gut entwickelndes Gemeinwesen.

Und das Buch von Nadler?

Sehr gut lesbar. Durchaus auch spannend und unterhaltsam. Macht die Argumentation von Spinoza in ihren wesentlichen Aspekten sehr transparent und nachvollziehbar. Vielleicht gelegentlich etwas redundant geschrieben. Mit ausreichend Einbettung in die Biographie von Spinoza. Gut ausgewählte Anekdoten. Bietet zusätzlich eine sehr hilfreiche Einordnung in den politisch-religiös-kulturellen Hintergrund Hollands und Amsterdams im 17. Jahrhundert. Macht deutlich, warum sich Amsterdam für mehrere Jahrzehnte den alternativen Namen „Eleutheropolis“ verdient hat.

Und der Fluch?
Hat nicht gewirkt. Vielleicht hat also Spinoza Recht mit seinen Argumentationen?