Flüchtlinge: Handbuch Migration in Deutschland – Literaturhinweis

Ein Buch ist neu erschienen, das die Migration in Deutschland und den Umgang mit Flüchtlingen vom 17. Jahrhundert bis heute untersucht: „Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert“ von Jochen Oltmer (Hg.), Berlin/Boston: Verlag De Gruyter Oldenbourg 2016, 1058 Seiten, gebunden € 89,85 €.

Zu manchen Zeit haben deutsche Landesfürsten und später Politiker mit viel Mühe versucht, Menschen nach Deutschland zu holen. Zum Beispiel, um die massenhafte Abwanderung der eigenen Bevölkerung auszugleichen oder um Arbeitskräfte zu finden.

Besprechung des Buchs bei WDR 3: „Es gab Zeiten, da versuchten deutsche Landesfürsten verzweifelt, die Abwanderung ihrer Landeskinder zu unterbinden. Je nach wirtschaftlicher und politischer Lage gilt Migration als vorteilhaft bzw. systemgefährdend. Alle, die heute bei uns als Bürokraten oder engagierte Mitglieder der Zivilgesellschaft mit den Asylsuchenden befasst sind, sollten sich unbedingt in das eben erschienene Handbuch Staat und Migration vertiefen, das auf 1.040 Seiten in 30 Beiträgen Deutschlands wechselvolle Geschichte der Migration seit dem 17. Jahrhundert erhellt.“

Der Radio-Beitrag vom 13. Januar 2016 mit Hans-Jörg Modlmayr findet sich ebenfalls auf der WDR-Seite.

Die Manns: Geschichte einer Familie. Tilmann Lahme

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Gewaltig ist der Berg aller bisherigen Veröffentlichungen über Thomas Mann selbst und auch über sein Umfeld. Das Buch „Die Manns: Geschichte einer Familie“ ergänzt ein wichtiges Schäufelchen Erde im oberen Bereich.

Etwas skeptisch bin ich an „Die Manns“ herangegangen mit der Befürchtung, eventuell eine Hagiographie in die Finger zu bekommen oder ein etwas oberflächliches Werk, das die Popularität des Themas nutzend (man denke an die noch gar nicht so alte Fernsehserie von Breloer über die Familie Mann!) versucht, Bestseller-Zahlen zu erwirtschaften, oder gar ein Buch, das umständlich die literarischen Erzeugnisse der Familie auf- und nacherzählt.

Gelesen habe ich das Buch beeindruckt und mit viel Vergnügen. Sehr gefallen hat mir, dass Lahme keinen der Protagonisten – Thomas Mann, seine Ehefrau Katia Mann sowie die sechs Kinder Elisabeth, Erika, Golo, Klaus, Michael und Monika Mann – wichtiger macht als die anderen oder sie aus einer einzelnen Perspektive wie z.B. ihr Verhältnis zu Thomas Mann betrachtet.

Ebenfalls angetan bin ich davon, dass Lahme nicht polemisiert im Sinne einer Anti-Hagiographie und die Schattenseiten der Familie besonders hervorhebt: Die Familie und ihre Mitglieder werden in all ihrem Handeln und all ihren Haltungen und Meinungen beschrieben; Lahme wertet nicht, er stellt dar und überlässt Urteile den Lesern, so sie denn urteilen wollen.

Beachtlich das Geschick, mit dem Lahme die Fülle des Stoffs – 80 Jahre Familien- und internationale Geschichte, 8 Manns mit ihren Ehepartnern, Lebenspartnern, Kindern, Freunden…. – auf gut 400 Seiten so aufbereitet, dass man nie in Details erstickt, sondern durch Kombination aus prägnant zusammenfassender Beschreibung einerseits und andererseits Zitat wie Anekdote den Eindruck bekommt, einen guten Überblick mit vertiefenden Einblicken zu erhalten.

Gefreut hat mich, dass der S. Fischer-Verlag, in dem das Buch erschienen ist, anscheinend auch wenig oder gar nicht versucht hat, auf die Beschreibung der Rolle von Verlag und Verleger zum Beispiel während des Nationalsozialismus Einfluss zu nehmen. Das Buch wirkt generell angenehm frei von Zensur in jeder Hinsicht – wahrscheinlich begünstigt dadurch, dass die 8 Manns zwischenzeitlich alle nicht mehr am Leben sind; und hat damit auch der genannten Breloer-Serie einiges voraus.

Als Leseprobe vielleicht der letzte Absatz des Buches:
„Auf dem Kilchberger Friedhof, hoch oben im Ort, mit weitem Blick über den Zürichsee und die Berge, liegt das Grab der Manns. (…) Ein dezenter Grabstein für Vater und Mutter, die Namen, die Lebensdaten lateinisch. Die Grabplatten für die Mann-Kinder liegen vor dem Stein der Eltern: Erika, Michael, Monika und Elisabeth. Es fehlen zwei. Der als Erster starb, Klaus Mann, liegt in Cannes. Auch Golo Mann hat, seinem ausdrücklichen Wunsch folgend, seinen Platz anderswo gefunden: auf demselben Friedhof wie die Familie, in derselben Erde, aber so weit entfernt wie möglich  auf der kleinen Anlage, in einem Einzelgrab nahe der Friedhofsmauer. Was bleibt, sind Bücher und Geschichten. Eine davon ist die von der erstaunlichen Familie, der ‚amazing family‘.“

Gelesen und genossen habe ich die 2. Auflage von Oktober 2015.

 

Britischer Roman: In Their Own Words – British Novelists

In Their Own Words

Diese Dokumentarserie zur Geschichte des britischen Romans im 20. Jahrhundert ist ein echtes Fundstück. Durch Originaltöne der Autoren selbst in Interviews und Vorträgen entsteht ein Überblick zum britischen Roman und zugleich über die Kulturgeschichte, der sehr gut Moderne, Nachkriegszeit und Post-Moderne abdeckt.  Facettenreich, intellektuell anregend, immer wieder auch berührend, spannend.

In drei Teilen – Among the Ruins:1919-1939; The Age of Anxiety: 1945-1969; Nothing Sacred: 1970-1990 – werden wesentliche Tendenzen in der Entwicklung des Romans anhand wesentlicher Autoren mit ihren wesentlichen Romanen aufgezeigt.

Die DVDs bieten das einzige erhaltene Originalton-Fragment von Virginia Woolf, zeigen faszinierende Gespräche mit Kingsley Amis, bringen ein Interview mit J.R.R. Tolkien, lassen auch immigrierte Schriftsteller wie zum Beispiel Sam Selvon aus Jamaika zu Wort kommen, zeigen J.D. Salinger, bieten ein für mich neues Bild von Salman Rushdie, sparen auch Ian Fleming nicht aus….

Ich habe viel gelernt durch diese Serie – und gleich ein, zwei Bücher bestellt!

Leider gibt es diese DVDs ausschließlich in der englischsprachigen Originalausgabe von 2011. Aber Originaltöne in Übersetzung wären ja auch keine Originaltöne.

Imperialismus: Culture and Imperialism. Edward W. Said

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Edward Said gehört zu den Autoren, von denen ich schon viel gehört, aber noch nichts gelesen hatte. Der Klassiker aus seiner Feder ist „Orientalismus“, worin er darstellt, dass das Verständnis des Orients im Westen oft nicht mehr ist als eine sehr einseitige, auch durch westlichen Imperialismus geprägte Projektion: Der Orient ist jeweils und immer anders als der Okzident, also das Gegenbild des Westens.

Gelesen habe ich „Culture and Imperialism“. In diesem später geschriebenen Buch untersucht Said die Wechselwirkungen zwischen westlicher Kultur und westlichem Imperialismus anhand von individuellen Beispielen wie Jane Austens Buch „Mansfield Park“, Rudyard Kiplings „Kim“, E.M. Forsters „Passage to India“, Joseph Conrads „Heart of Darkness“, Giuseppe Verdis „Aida“, Albert Camus‘ „L‘ Etranger“ und anderen bis hin zur Gegenwart mit Salman Rushdie. Die Einzelinterpretationen Saids sind bestechend in ihrer analytischen Schärfe und augenöffnend insbesondere bei Werken, die ich selber vorher nicht bewusst in den kontextuellen Rahmen des Imperialismus gestellt hatte wie Verdis Aida.

Dabei ist der Kontext oft erstaunlich offensichtlich wie in der folgenden Passage von Charles Dickens‘ „Dombey and Son“:
The earth was made for Dombey and Son to trade in, and the sun and moon were made to give them light. Rivers and seas were formed to float their ships (…) winds blew for or against their enterprises (…) Common abbreviations took new meanings in his eyes, and had sole reference to them: A.D. had no concern with anno Domini, but stood for anno Dombi – and Son.

Ebenfalls beeindruckend die Einleitung, in der Said seine Grundthesen klar und nachvollziehbar darstellt.
Trotz dieser vielen positiven inhaltlichen Aspekte ist es mir trotz intensiven Bemühens nicht gelungen, das Buch zu Ende zu lesen. Zu zahlreich die Redundanzen, zu mäandernd die Argumentation, zu häufig die Hinweise auf andere wissenschaftliche Autoren außerhalb der Fußnoten. Sicherlich ein Bestseller, aber für mich leider doch kein Bestreader.
Gelesen habe ich in der Taschenbuchausgabe von 1994. In deutsch ist das Buch unter dem Titel: „Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht“ im Jahr 1993 erschienen.

Die wichtigsten Bücher des Jahres 2015 weltweit

In seiner Ausgabe vom 5 Dezember 2015 bietet „The Economist“ unter dem Titel „Shelf life“ eine Übersicht über die – seiner Ansicht nach – besten Bücher des Jahres. Anregend ist der internationale Fokus dieser Auflistung. Die Empfehlungen enthalten jeweils alle Erscheinungsdaten, einschließlich Preis sowie eine knappe Beschreibung des Inhalts. Die Neuerscheinungen sind diesen Kategorien zugeordnet: Politics and current affairs, History, Biography and memoir, Economics and Business, Culture, Society and travel, Science and technology, Fiction und What we wrote when we weren´t in the Office.

Auch wenn Weihnachten vorüber ist, findet sich hier bestimmt ein Buch, mit dem man sich selbst oder anderen eine Freude machen kann: Link zu „Shelf life“

Voltaire’s Coconuts or Anglomania in Europe. Ian Buruma

imageAufmerksam wurde ich auf dieses Buch durch Bloody Foreigners.
Voltaire’s Coconuts befasst sich damit, wie sich die Anglophilie oder -Phobie der Kontinental-Europäer über die letzten Jahrhunderte entwickelt hat – und was das jeweils ausgelöst hat. Die Beispiele reichen von Voltaire und Goethe über Marx und Coubertin bis zu Wilhelm II und Pevsner. Hierbei verbindet Buruma – ohne seine eigene Anglophilie zu verstecken – auf intelligente, sehr lesbare und anregende Art und Weise Historie mit Biographie, Anekdote mit großen Entwicklungslinien, Amüsantes mit Ernsthaftem. Nach dem Lesen war mir vieles klarer.
Wer nicht spontan weiß, was es mit Voltaires Kokosnüssen und mit Churchills Zigarre auf sich hat oder warum Pevsner neben einer sehr alten Kirche in Clyffe Pypard begraben ist, sollte das Buch lesen. Auch als Weihnachtsgeschenk bestimmt ein Treffer.
Gelesen habe ich die englische Ausgabe von 1999. In deutscher Sprache ist es 2002 unter dem Titel „Anglomania: Europas englischer Traum“ erschienen.

The Birth of the West: Rome, Germany, France, and the Creation of Europe in the Tenth Century. Paul Collins

imageEin faszinierendes und inhaltsschweres Buch, in dem – durchaus nachvollziehbar – argumentiert wird, dass das Europa, welches wir heute kennen, ganz wesentlich im 10. Jahrhundert gegründet und geprägt wurde. Neben allem historischen, sozialgeschichtlichen, kulturellen Tiefgang bietet Collins auch immer wieder anregende und überraschende Anekdoten, so zum Beispiel über einen katholischen Heiligen:
“ Another extraordinary story  concerns the relics of Saint Guinefort (…). Though a saint, Guinefort was not a person but a heroic pet greyhound! One day when his owner was absent, a large serpent approached the cradle of the owner’s child. Guinefort attacked and killed the snake but was badly hurt himself. (…) When the parents returned, they found both cradle and dog covered in blood. Assuming Guinefort had attacked the baby, they killed him but later found the baby safe and the snake torn to pieces. Local peasant women began to ‚visit the place and honor the dog as a martyr in quest of help for their sicknesses and other needs,‘ particularly for the greyhound to cure sick babies.“
Und das Buch ist eine beeindruckende Quelle aus der Mode gekommener Vornamen wie Hatheberg, Herimann, Heriger, Hildebert, um nur das H herauszugreifen.
Gelesen habe ich die Ausgabe von 2013.

Murderous Contagion: A Human History of Disease. Mary Dobson

imageDieses Buch bietet einen ausgezeichneten Überblick über die Geschichte wesentlicher Seuchen und Krankheiten der Menschheit von Pest und Cholera über Ebola und HIV/AIDS bis hin zu Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Mary Dobson schreibt ein sehr verständliches Englisch und vermeidet schwer verständliches medizinisches Fachvokabular. Dort, wo Fachtermini nicht zu vermeiden sind, hilft wieder das klar geschriebene Glossar.
Obendrein sehr fachkundig (soweit ich das beurteilen kann….), sehr engagiert und sehr anschaulich auch mit Zitaten und einschlägigen Anekdoten zu den einzelnen Krankheiten.
Ein Beispiel zu den Zitaten und Anekdoten, unter Tuberkulose:
In 1908 a health inspector in Massachusetts was shocked to find that spitting on the floor was common in most tailors‘ shops. The shop owners, however, merely responded with: ‚of course they spit on the floor; where do you expect them to spit, in their pockets?‘ (…) Linoleum (…) became popular as a cover for wooden floors to protect people from TB. It was believed that the germs hid in the cracks between the planks (…).
Gelesen habe ich die frisch aktualisierte, noch keimfreie Ausgabe (Ebola!) von 2015.

 

Empire: What ruling the world did to the British. Jeremy Paxman

imagePaxman beschreibt in seinem mitreißenden, journalistisch geschriebenen Buch, welchen Einfluss das „Empire“ auf die Briten und deren Selbstverständnis hatte und hat. „Without understanding how we looked at the rest of the world, we cannot really understand ourselves“, so Paxman zu seinem aufklärerischen Ansatz.

„(…) life in the empire promised freedom of one sort or another – from class, from creditors, from penury, from religious oppression. Living abroad offered a better life, at lower cost.“ Wie sich dies auf die eroberten Gebiete auswirkte, behandelt das Buch chronologisch. Im Fokus stehen die Regionen Karibik, Amerika, China, Indien und Asien sowie Palästina.

Paxman vermittelt sehr klar die wichtigsten Entwicklungen einerseits, ergänzt diese andererseits durch Anekdoten zu den wichtigsten Protagonisten:

„Gordon made his way up the Nile towards Khartoum in a buzz of thoughts, counter-thoughts, flashes of inspiration, second thoughts and fourth thoughts which he fired back to E. Baring in Cairo by telegraph, sometimes at the rate of  twenty or thirty a day (…) Baring soon decided that the only way to deal with Gordon´s dispatches was to let them pile up, and then to settle down in the evening and attempt to make out what was going on in his head.“

Zitiert nach der Ausgabe von 2011.