Frauen der 1920er: Flappers – Six Women of a Dangerous Generation. Judith Mackrell

Ein wunderbares Buch über die 20er Jahre! Klug, wissensreich, spannend, anrührend und  – all dies und außerdem auf eine ungewöhnliche Weise erzählt.

Weshalb wurden in den Goldenen 20ern in New York fast täglich neue Cocktails  erfunden? Die Antwort hierauf und auf viele andere Fragen bietet „Flappers“ (Auflösung auch am Ende des Beitrags).
Das Buch ist so gut wie sein Cover. Am Beispiel von sechs Frauen, zeigt Mackrell wie Frauen nach dem 1. Weltkrieg begannen, neue, eigene Wege zu gehen, wodurch sie ermutigt wurden und welche Erfolge sie hatten. Und wie ihr Leben später weiter ging als die Zwanziger Jahre vorbei waren.

Ein Flapper ist das englische Äquivalent der Garsonne: Flappers were a generation of young Western women in the 1920s who wore short skirts, bobbed their hair, listened to jazz, and flaunted their disdain for what was then considered acceptable behavior. Flappers were seen as brash for wearing excessive makeup, drinking, treating sex in a casual manner, smoking, driving automobiles, and otherwise flouting social and sexual norms. Flappers had their origins in the liberal period of the Roaring Twenties, the social, political turbulence and increased transatlantic cultural exchange that followed the end of World War I, as well as the export of American jazz culture to Europe.“ So Wikipedia.

http://images.npg.org.uk/264_325/9/5/mw175095.jpghttp://media.artsblog.it/m/mos/mostre-torino-2015/tamara-de-lempicka-torino-palazzo-chiablese-06.jpghttp://www.dumbofeather.com/wp-content/uploads/2011/04/N_Cunard.jpg

Mackrell stellt dieses sechs Frauen in den Mittelpunkt ihres Buchs: Diana Cooper, Nancy Cunard, Tamara de Lempicka, Tallulah Bankhead (hier Eindrücke aus Movie Legends), Zelda Fitzgerald und Josephine Baker (Tanz-Video). Für sie alle waren die Zwanziger eine Zeit außergewöhnlicher individueller Entwicklungsmöglichkeiten. Als eine Gruppe von Frauen sind sie repräsentativ für ihre Zeit. Sie waren ambitioniert, waren (zeitweise) äußerst erfolgreich, lebten einen Teil ihres Lebens in Paris und genossen einen hohen Bekanntheitsgrad.

Über diese sechs Frauen schrieben bereits zu Lebzeiten Buchautoren und Journalisten, Fotografen, Filmemacher und Bildhauer machten ihre Gesichter bekannt. So wurden sie zu Vorbildern und Rollenmodellen für Tausende von jungen Frauen: „All these women lived many of their private moments on the public stage. Having made their names as writers, painters or performers, as well as popular celebrities, the things they said and did, the clothes they wore, were routinely reported in the press and had a widespread impact on other women. Yet stylish, talented and extraordinary as these six were, to imagine their lives now one has to look past the glamour and glare of their fame.“

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Möglich wurde dieser große Bekanntheitsgrad erst durch das sich schnell verbreitende Kino und die Werbung, die sich zum ersten Mal an eine große Zahl junger Frauen mit eigenem Einkommen richtete. Die Erzählform des Buchs besteht in sechs Kurzbiografien, die erklären, wie es sechs junge Frauen geschaft haben, ungewöhnliche Entscheidungen zu treffen. Danach kommen wieder sechs Kurzbiografien, die zeigen, wie ihr Leben weiterging. Eine Auswahl aus den vielen Faken, die die Autorin wie nebenbei für ein besseres Verständnis der Zeit mitliefert:

  • Morphium wurde als Stärkungs- und Beruhigungsmittel zunächst während des 1. Weltkriegs den Soldaten an der Front geschickt. Wie ein Medikament wurde es dann auch von zivilen Personen genutzt.
  • Haschisch wurde in den 20ern als Party-Droge oft in Kugelform verwendet und in Cocktails aufgelöst.
  • Cocktails wurden in New York täglich neu erfunden, um durch ihre intensiv schmeckenden Zutaten den unangenehmen Geschmack des schwarz-gebrannten Alkohols zu überdecken. Es herrschte ja Prohibition.

Und nach den Goldenen Zwanzigern? „This book ends on the cusp of the old and the new decade. It was the point at which the experimental party spirit of the Twenties was coming into collision with economic crisis, with the extreme politics of communism and fascism and the gathering clouds of war. And just as this moment heralded the the winding down of the jazz age, so too it marked the end of the flapper era.“

Einfach toll und sehr lesenswert!

Mutter Teresa. Christian Feldmann und Leo Maasburg

Die beiden Bücher „Die Liebe bleibt – Das Leben der Mutter Teresa“ von Christian Feldmann und „Mutter Teresa – Die wunderbaren Geschichten“ von Leo Maasburg sind Auflagen früherer Ausgaben: Anlass der ergänzten und bearbeiteten Neuauflagen ist die Heiligsprechung von Mutter Teresa in 2016.

 

 

Was ist eine Heiligsprechung?

Mutter Teresa wurde 2003 zunächst selig, 2016 dann heilig gesprochen. Eine Heiligsprechung ist ein kirchenrechtliches Verfahren der katholischen Kirche, in welchem der Papst die Gewissheit erklärt, dass ein Toter sich in seligmachender Gottesschau befindet und deshalb als Heiliger bezeichnet und verehrt werden kann. Der Nachweis eines Wunders ist die Voraussetzung. Zu Heiligen darf gebetet werden, um ihre Fürsprache bei Gott zu erhalten. Bei Mutter Teresa wurde durch Papst Johannes Paul II als Wunder anerkannt, dass eine Inderin, die an Krebs erkrankt war, durch Auflegen eines Bildes von Mutter Teresa geheilt wurde.

Eine beeindruckende und eine umstrittene Figur?

Mutter Teresa beeindruckte die Öffentlichkeit weltweit dadurch, dass sie seit den 1950er Jahren in Kalkutta, Indien, für die Ärmsten der Armen Sterbehäuser, Frauenhäuser und Kinderhäuser gegründet hat. Sie selbst war sich nicht zu schade, ebenfalls arm zu sein und schmutzige Arbeiten zu verrichten. Ihr Mut und ihre Unerschrockenheit Macht und Gefahr gegenüber war entwaffnend. In gewisser Weise folgte ihr Leben für die Armen dem Zitat Jesu aus Matth. 25, 31ff: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Aus ihrer Liebe zu Christus leitete Mutter Teresa ihr Engagement für die Armen ab.

Dennoch ist Mutter Teresa eine umstrittene Figur: Man warf ihr verhehrende hygienische und soziale Zustände in den Sterbehäusern von (z.B. Spritzen, die mehrfach verwendet wurden, Verweigerung von Schmerzmitteln, Unterkühlung und Hunger der Patienten). Ebenso einen Mangel an Transparenz im Umgang mit Spendengeldern. Ein gewichtiger Vorwurf ist außerdem die Frage nach ihrer Motivation: Wollte sie Leiden mildern oder war Missionierung letztlich ihr Ziel? Gute Hintergrundinformation bietet ein Artikel der Zeit.

Mutter Teresa: Die wunderbaren Geschichten von [Maasburg, Leo]

Was leisten die Bücher nicht?

Keines der Bücher diskutiert die Frage, warum moderne Menschen auf der ganzen Welt durch Mutter Teresa angesprochen und beeindruckt sind. Beide Bücher diskutieren nicht, welches Verständnis von „Armenarbeit“ heute sinnvoll sein kann und welche ethischen wie praktischen Konsequenzen sich daraus ergeben. Keines geht auf kritische Distanz zu ihr.

Wie gehen sie vor?

Beide Bücher sind aus einer verehrenden Perspektive geschrieben. Beide nutzen eine Kapitelstruktur, in der Themen lose zusammengefasst sind, so dass eine prinzipiell chronologische Erzählweise eingehalten werden kann. Beide bleiben eng am Subjekt ihres Buchs. Feldmann ist Journalist; er schreibt aus meiner Sicht die erträglichere Sprache. Außerdem wechseln biografischer Text und Auszüge aus dem Gebet-Buch Mutter Teresas ab. Maasburg ist Priester. In dieser Rolle hat er Mutter Teresa häufig begleitet. In seinem Buch berichtet er über Situationen, in denen er sie erlebt hat. Er schildert seine Wahrnehmungen, seine Gedanken und Gefühle. Sein Buch ist dadurch eine Art Anhäufung von Anekdoten. Leicht lesbar und eingängig sind beide Bücher.

Outsider: always almost, never quite. Brian Sewell

Mir war bisher gar nicht aufgefallen, dass Brian Sewell, ein 2015 verstorbener englischer Kunsthistoriker, äußere Ähnlichkeiten mit Loriot hat.

Darum geht es hier aber nicht.

Brian Sewell, enfant terrible der englischen Kunstkritik und Schrecken aller Promotoren zeitgenössischer Kunst, hat eine Autobiographie geschrieben, die in zwei Bänden erschienen ist und deren ersten Teil ich gerade gelesen habe. Der Untertitel passt ausgezeichnet: „Always almost, never quite“.

Am Einband lag es nicht, dass ich dieses Buch gekauft habe. Entscheidend war, dass ich ausgezeichnete und in jeder Hinsicht idiosynkratische DVDs mit/von ihm gesehen habe, insbesondere die Reihe über die „Grand Tour“, und auch etliche seiner Kunstkritiken in diesem Blog besprochen habe. Für all diejenigen, die gut gesprochenes Englisch mögen, ist er auch ein akustisch-ästhetischer Gewinn. Ein Kommentator des Guardian beschreibt es so: „(…) he sounds, as I duly noted, like a dowager duchess carefully recalling a large turd she was once mistakenly served during tea at Claridge’s.“

Soviel zum Drumherum.

Der erste Band umfasst die Zeit von seiner Geburt 1931 bis zu seinem Ausstieg bei Christie’s 1967. Der Klappentext gibt eine recht gute Zusammenfassung: „Outsider is the life of a child, boy, adolescent, student and young man in London between the Great Depression of the 30s and the sudden prosperity and social changes of the 60s, affected by the moral attitudes of the day, by the Blitz, post-war austerity and the new freedoms of the later 50s that were resisted with such obstinacy by the old regime. It is about education in the almost forgotten sense of the pursuit of learning for its own sake. It is about the imposed experiences of school and National Service and the chosen experience of being a student at the Courtauld Institute under Johannes Wilde and Anthony Blunt. It is about sex, pre-pubertal, in adolescence and in early adulthood, and the price to be paid for it. It is about art and the art market in the turbulent years of its change from the pursuit of well-connected gentleman to the professional occupation of experts.“

So etwas wie diese Autobiographie habe ich noch nicht gelesen. Was für ein unmittelbares, direktes, ungeschöntes und vorbehaltloses Panorama der Zeit! Was für ein Selbstbewusstsein, sich selbst so ins Auge zu sehen und das Gesehene und Erlebte aufzuschreiben. Den Anspruch, den er als Kunsthistoriker und -kritiker hatte, wendet er auch auf seine Memoiren an: „(…) if I did not tell the whole truth it would not be truth at all. (…) approaching my eightieth year and old enough to be neither embarrassed nor ashamed, I no longer feel the need for reticence.“

Seine Erfahrungen im Courtauld-Institut und bei Christie’s sind faszinierend und bringen einen ins Grübeln. „Macht und Mensch“ ist immer wieder eine ungünstige Kombination, auch in der scheinbar erhabenen und zivilisierten Arena der Hochkultur, zumal wenn sie durch grundsätzliche Interessenkonflikte noch virulenter gemacht wird.

Seine Ausflüge ins sehr Private sind bestimmt nichts für jeden Leser. Dessen war sich Sewell bewusst:
„I have dug deep into indiscretion and some may say that I have dug deeper into prurience; perhaps I have, but again it is for the benefit of readers who are troubled by their private natures and feel that they alone are driven so. I have no doubt that many who admire me – my ‚doting elderlies‘, as an old woman friend once dubbed them – will be disgusted. So be it – truth is nothing if not whole.“

Der Guardian hat aber für mich recht, wenn er in seiner – auch sonst sehr lesenswerten – Rezension schreibt: „Outsider is a delicious read.“

Bluestockings – The Remarkable Story of the First Women to Fight for an Education. Jane Robinson

Bluestockings erzählt die Geschichte von universitärer Bildung für Frauen in Grossbritanien. Das Buch von Robinson geht dieser in 10 Kapiteln nach. Nicht nur ziehen sich negative Bewertungen weiblicher Intelligenz durch die öffentliche Disskussion im 19. Jahrhundert. Bildung für Frauen wurde auch als schädlich für die Gesellschaft angesehen: Die Energie, die das Denken benötigt, fehlt dann dem Uterus, um gesunde Kinder empfangen und gebären zu können. Also: entweder gebären oder denken: „(…) no woman could follow a course of higher education without running some risk of becoming sterile.“

Die Bezeichnung Blaustrümpfe / Bluestockings

Der erste Blaustrumpf war ein Mann: Benjamin Stillingfleet tauchte derart bekleidet im Kreis der gelehrten Diskussionsrunde auf, die sich regelmäßig zu intellektuellen Gesprächen im Haus von Elisabeth Montagu in Mayfair traf. Das war 1765 (nicht ungewöhnlich) und die meisten Mitglieder waren Frauen (sehr ungewöhnlich): „Stillingfleet’s tendency to eccentricity was shared by other members of the group. The very idea of a female’s opinion actually mattering to the intelligentsia was unconventional, for a start.“

Die ersten Frauen-Colleges

In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Mädchen zunehmend zu Prüfungen der Ausbildungsinstitute in ihrer Region zugelassen. Aus heutiger Sicht wirken die Prüfungsthemen ambitioniert. Hier als Beispiel die Themen von Edith Class aus Leeds, die 1909 Botanik studierte : „It expects candidates to cope with a panoply of questions, from the nature of sin, or Macchiavellianism, to the American system of taxation; to be able to draw a map of Queensland, Australia, labelling its railways and rivers; and to compose essays on military training, spelling reform, or Florence Nightingale.“

Aus Mädchenschulen, die auf die Aufnahmeprüfungen der Universitäten vorbereiten oder eine Alternative sein sollten, entwickelten sich erste Frauen-Colleges: z. B.

  • Benslow House in 1869, daraus wurde 1873 Girton College in Cambridge
  • 1879 Somerville Hall und Lady Margaret Hall in Oxford
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Universitätsabschlüsse für Frauen

Bereits ab 1830 haben einzelne Bildungseinrichtungen Frauen zu Vorlesungen zugelassen. Bereits? Ja, denn Cambridge als letzte  (Oxford 1920) Universität in GB erteilte Studentinnen erst 1948 offizielle Abschlüsse. Sowohl die Zulassung von Studentinnen zu Vorlesungen wie auch die Möglichkeit, Prüfungen abzulegen, wurden an vielen britischen Universitäten durch heftige Proteste der männlichen Studenten begleitet, erschwert und verhindert. Bei diesen Protesten wurden Steine geworfen und Strohpuppen bekleidet mit Frauen-Unterwäsche verbrannt. Eine amüsante literarische Darstellung dieser Auseinandersetzungen bietet „Gaudy Night“, der Krimi von Dorothy L. Sayers, deutsch unter dem Titel  „Aufruhr in Oxford“ zu haben und sehr nett verfilmt 1987 mit Peter Petherbridge und Harriet Walter.

Trotz Studium kaum Berufsaussichten

Auch nach einem Studium, welches mit brilliantem Ergebnis abgeschlossen wurde, gab es nur wenige Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen. Die offensichtlichste Lösung war es, Lehrerin zu werden oder sogar eine eigene Schule zu gründen. Gesellschaftlich erwartet wurde eher, dass die universitäre Ausbildung dann in der Erziehung der eigenen Kinder Früchte tragen würde.

Am Anfang des Buchs bietet eine chronologische Übersicht über alle entscheidenden Meilensteine einen praktischen Einstieg in das Thema. Außerdem verfügt das Buch über eine gute Bibliografie.

Das Buch selbst ist eine gründliche Darstellung aller relevanten Fakten und Entwicklungsphasen. Ein reines Vergnügen ist die Lektüre allerdings nicht. Zum einen möglicherweise, da die Geschichte vom Zugang von Mädchen und Frauen zu Bildung nicht immer heiter war, zum anderen jedoch auch, da dem Buch ein paar Funken Witz bestimmt gut getan hätten. Auch eine weniger detailbezogene Erzählweise hätte das Lesevergnügen gefördert. Für einen vergnüglichen Einstieg in die Thematik bleibt dann ja dennoch „Gaudy Night“.

Naked emperors: Criticisms of English contemporary art. Brian Sewell

Balsam für die geschundenen Nerven und Minderwertigkeitskomplexe all derer, die mit zeitgenössischer Kunst wenig anfangen können und oft von Kunstverständigen und Künstlern als Ignoranten und Banausen apostrophiert werden. Biestig für die zeitgenössischen Künstler und ihre Förderer, die sich von einem kompetenten und eloquenten Kritiker konfrontiert sehen. Für alle gemeinsam aber ein Buch, das hält, was es verspricht: Kritische Äußerungen über die englische zeitgenössische Kunst.

Wie das Foto erkennen lässt, war der 2015 verstorbene Sewell jemand, dem man durchaus selbst-ironische Tendenzen unterstellen kann. Kunst hingegen nahm er sehr ernst. Und das nahm man ihm übel. 1994 hielten es 35 (!) Protagonisten der zeitgenössischen Kunst für an der Zeit, ihm in einem offenen Brief an den „Evening Standard“ (für den Sewell als Kunstkritiker tätig war) vorzuwerfen: „homophobia“, „misogyny“, „demagogy“, „hypocrisy“, „artistic prejudice“, „formulaic insults“ und „predictable scurrility“.

Offensichtlich wurde Sewell als Kritiker sehr ernst genommen, ein verstecktes Kompliment immerhin. Mit einigen der Vorwürfe hatten die Kritiker des Kritikers auch bestimmt recht. Entkräftet haben sie seine Kritik an ihrer Kunst und ihrem Kunstverständnis damit allerdings nicht. Eingeschüchtert haben sie Sewell bestimmt nicht, denn der kritisierte emsig und jetzt noch vielbeachteter weiter.

Ein Ergebnis ist die Zusammenstellung von Artikeln Brian Sewells, die alle im „London Evening Standard“ erschienen sind. Sie sind allesamt auf hohem sprachlichen und auch intellektuellem Niveau auf den Punkt geschrieben, voll wunderbarer Formulierungen, erfrischend boshaft und keinesfalls anbetend Heiligen-verehrend.

Nein, die englische moderne Kunst hat wirklich keinen Fan an Brian Sewell. Dafür aber hat er gute Gründe, die er immer wieder beredt (und ziemlich unwidersprochen) darlegt.

Zu seinen kritischen Argumenten über zeitgenössische Künstler gehört vor allem, dass viele von ihnen letztlich nichts anderes tun, als immer wieder das umgedrehte Urinal von Marcel Duchamps von vor über einhundert Jahren zu kopieren, mit dem dieser damals seine Zeitgenossen provozieren wollte. Auch kritisiert er die Ideenarmut vieler Künstler, die über Jahrzehnte nicht mehr als eine einzige Idee zu variieren scheinen. Und er bedauert, dass echte handwerkliche Kunstfertigkeit nichts mehr gilt.

Den Förderern dieser Kunst wirft er Selbstbereicherung und Volksverdummung vor. In England (und sicherlich nicht nur dort) schiebt sich anscheinend eine recht kleine Clique von Museumsdirektoren und Kuratoren, gemeinnützigen Institutionen, Galeristen, Sammlern und Künstlern wechselseitig die monetären Schneebälle zu.

Dabei findet er nicht alles uniform schlecht, sondern differenziert und nuanciert. Tracy Emin, Damien Hirst, die Chapman Brothers und Lucian Freud zum Beispiel werden jeweils sehr anders von ihm beurteilt. Auch die großen Promotoren der englischen modernen Kunst, die Werbegröße Charles Saatchi und der Tate-Chef Nicholas Serota, werden nicht nur kritisiert, sondern auch in Teilaspekten positiv gewürdigt.

Sewell zu zitieren ist nicht leicht: Die Auswahl ist zu schwierig wegen der Fülle prägnanter Zitate. Zu einer Retrospektive englischer Kunst der Jahre 1965-1975 in der Whitechapel Gallery schreibt er im Jahr 2000:
„In revisiting this pretentious and dull trivia, the Whitechapel Gallery reminds us how arid it all was to both eye and intellect, and how utterly familiar it is, partly because the work of those contributing artists who are still alive has changed so little in the passage of a generation, and partly because so much of what they did has been done again and again by student imitators imitating imitations. It is all very well to argue that art must be disassociated from the skills of art, but to disassociate so far that the skills become disreputable, their exercise clear proof that the practitioner is not an artist, results in visual mayhem (…).“

Oder in einem Artikel von 1999:
„For twenty years I have locked horns with successive chairmen, panjandrums, secretaries and Councillors of the Arts Council, probing their Byzantine methods of selection and appointment, their often outrageous exploitation of appointment for professional advantage, and their buddy-boy and back-scratching patronage and subsidy, and with every poke and prod the stink of corruption has oozed froms this long-standing midden.“

Eine beeindruckende Sammlung knackig-kompetenter Kritiken. Nur das Cover ist völlig unvorteilhaft fad.
Naked Emperors: Criticisms of English Contemporary Art

Gut getroffen und fair – glaube ich – ist sein Nachruf im Guardian.

Die Wirklichkeit der Bilder – Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts. Michael Baxandall

Was zeigt ein Bild aus der Renaissance? Wie haben die Zeitgenossen das Bild gesehen, wie es interpretiert? In „Die  Wirklichkeit der Bilder“ bietet Michael Baxandall Hilfestellungen für eine Annäherung.

Ein Bild kann nur verstanden werden – so Baxandall – auf der Basis von Konventionen, die dabei helfen, die Formen auf der zweidimensionale Fläche zu entschlüsseln. Kulturelle Konventionen, auch Training und Malerei hängen dabei eng zusammen: „(…) dass nämlich ein Bild sehr empfindlich reagiert auf die verschiedenen Arten der Interpretationskunst – Muster, Kategorien, Schlussfolgerungen und Analogien -, die man an es heranträgt. Die Fähigkeit, eine bestimmte Form oder Formbeziehung zu unterscheiden, wird Folgen haben für die Aufmerksamkeit, die der Betrachter einem Bild entgegenbringt. Wenn er beispielsweise darin geübt ist, auf proportionale Beziehungen zu achten, oder Erfahrung damit hat, komplexe Formen auf Verbindungen einfacher Formen zu reduzieren, (…) können ihm diese Fähigkeiten durchaus dazu verhelfen, seine Erfahrung von Piero della Francescas Verkündigung anders zu strukturieren als Menschen ohne diese Fähigkeiten (…).“  

Baxandall erläutert in seinem Buch, dass in den Reihen der Auftraggeber und des Publikums  Kaufleute waren. Sie waren geübt darin, unregelmäßige Gegenstände in ihren Volumina zu berechnen. Fokus ihrer Ausbildung lag auf Geometrie und Arithmetik. Aus diesem Grund – so die These – hatten sie ein ganz besonders Vergnügen, in den Bildern Formen von dreidimensionalen Körpern zu erkennen, die sie potenziell berechnen konnten. Mehr und mehr seien die Kunstfertigkeit der Maler, ihre Fähigkeit Perspektiven, Verkürzungen zu zeigen, an die Stelle von früher Image-trächtigem Gold oder Lapislazuli getreten.

Als weitere zeitgenössische „Kultur“-Quellen für die Bilder der Renaissance führt er auf:

  • die Figuren des Tanzes, die Gruppierungen der Personen in den Bildern beeinflussten
  • die Gesten, die in Predigten genutzt wurden, um das Gesagte zu unterstützen
  • und die Darstellung von Gefühlen in religiösen Schauspielen.

In der Renaissance war man der Auffassung, dass inneres, emotionales Erleben  seinen unmittelbaren Ausdruck im Äußeren eines Menschen zeigt, in Haltung, Mimik und Gestik. Besonderen Einfluss auf künstlerische Gestaltung differenzierter Gefühle hatte hierbei die Darstellung Marias während der Verkündigung. Fünf deutlich voneinander unterschiedene geistliche und emotionale Phasen Marias sollten erkennbar sein:

  1. Aufregung
  2. Überlegung
  3. Nachfragen
  4. Unterwerfung (unter den Willen Gottes)
  5. Verdienst (mit der Empfängnis).

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Dieses spannende, sehr gut lesbare Buch beruht auf Vorlesungen für Studierende. Deshalb setzt Baxandall kein spezielles Wissen voraus, bietet aber ein Handwerkszeug, um die Bilder der Renaissance neu und anders zu sehen. Man sollte das Buch einfach in den nächsten Toskana-Urlaub mitnehmen und sich in seinen Bann ziehen lassen.

Ein Zusammenfassung des Buchs bietet dieser Artikel der „Zeit“ hier. „Die Sichtweise Baxandalls auf die italienische Kunst des 15. Jahrhunderts stand am Anfang einer ganzen Forschungsrichtung über den Zusammenhang von Kunstwerken und der sie umgebenden sozialgeschichtlichen Realität. Anhand von Verträgen, Briefen und Rechnungen rekonstruiert der Autor im ersten Kapitel die Struktur des damaligen Gemäldehandels und die ökonomische Grundlage für die Anwendung verschiedener malerischer Techniken. Dann erläutert Baxandall, wie sich ganz unterschiedliche Erfahrungsbereiche – darunter das Predigen, das Tanzen und das Ausmessen von Fässern – im Schaffensprozess großer Kunstwerke wiederfinden.“ Zitat aus der Beschreibung des Verlags Klaus Wagenbach.

Michael Baxandall Michael Baxandall Telegraph

Michael Baxandall war ein britischer Kunsthistoriker (1933-2008). Er lehrte an vielen Universitäten der Welt. Seine Bücher zählen heute zu Klassikern der Kunstgeschichte: Giotto and the Orators, Painting and Experience in Fifteenth Century Italy, The Limewood Sculptors of Renaissance Germany, Patterns of Intention, Tiepolo and the Pictorial Intelligence, Shadows and Enlightenment und Words for Pictures. 

Die irische Aeneis. Übersetzt von George Calder

Wieder ein Beitrag aus der Serie obskurer Werke aus Irland. Irgendwann vor 1400 entstand in Irland eine der frühesten Adaptionen der Aeneis von Vergil in eine einheimische Sprache überhaupt. „Übersetzung“ wäre falsch, denn die Aeneis, auf Irisch „Imtheachta Aeniasa“ oder die „Fahrten des Aeneas“, wurde tatsächlich ver-irisch-t.

Aufgeschrieben ist dieses Werk im sogenannten Book of Ballymote, in dem sich auch andere klassische Werke in irischer Verkleidung wiederfinden, unter anderem eine äußerst faszinierende, ebenfalls sehr irische Version der Odyssee.

Es gibt eine ganze Reihe von Aspekten, die dieses Werk sehr interessant machen. Da ist zunächst wie erwähnt der sehr frühe Zeitpunkt der Adaption irgendwann im 14. Jahrhundert. Obwohl Dichtung in Irland weit verbreitet und gut etabliert war, wählte der Verfasser keine irischen Hexameter, sondern eine Prosaübertragung, eventuell um einen historisch-faktischen Charakter der Aeneis zu betonen.

Vor allem aber sticht die „Irisierung“ hervor.

Ein Keltologe, Edgar Slotkin, hat die Verfahrensweise des Verfassers so beschrieben: „His concern was not so much a translation from one language to another but from one culture to another (…) The Irish Aeneid is periphrastic. Words are not fixed, but nothing essential is omitted. (…) The substantial additions the translator made to the original are (…) not new themes or content, but native elaborations on content which he encountered there.“ Ein anderer Keltologe, Erich Poppe, beschreibt die irische Aeneis „as the product of the fusion of a developed vernacular stylistic and narrative tradition with a learned and historiographical interest in events of classical antiquity. (…) Imtheachta Aeniasa can tell its modern readers much about the mentality and interests of its medieval Irish audience, precisely because it departs characteristically from its source.“

Sprachlich macht sich die Irisierung dadurch bemerkbar, dass der Verfasser in bestem irischen Sagenstil schreibt: Die Vergil’schen Epitheta und Vergleiche verschwinden. Statt dessen finden sich viele Alliterationen und Aneinanderreihungen von wohlklingenden Synonymen. Auch gibt es die für irische Sagen typischen, etwas barock und floral anmutenden Beschreibungen von handelnden Personen.

Hierfür lohnt es sich, einige Beispiele zu geben.
Für die Beschreibung eines aussichtslosen Plans:
„is lam a nead nathrach, is lua fri broth & lem chind fri hall“,
auf Englisch: „it is a hand in a nest of serpents, it is a kick against goads and a dash of a head upon a rock“

Für  Alliterationen bei der Beschreibung von Personen:
„Ba suairc sochraidh sognimach saerchlanda socheniuil in ingen sain“,
auf Englisch: „That daughter was gentle, of beautiful form and good actions, free-born and noble.“

Und für eine längere Passage eine Beschreibung von Aeneas bei seiner ersten Begegnung mit Dido, nur in Englisch, wobei manche englische Worte etwas unpassend wirken – hierfür kann aber das irische Original nichts:
„Pleasant, comely, lovely, and well-born was the hero that came there – fair, yellow, golden hair upon him; a beautiful ruddy face he had; eyes deep-set, lustrous in his head like an image of a god, the expression which Venus, his mother, with love’s splendour, threw into his face, so that whoever looked upon him should love him.“

Gelesen habe ich die 1907 erstmals erschienene irisch-englische Ausgabe von George Calder, die recht gut als Nachdruck zu bekommen ist. Interessant ist der Text allemal. Sonst hätte ein anderer irischer Dichter, Seamus Heaney, nicht auch eine Übersetzung der Aeneis versucht.

How architecture works: A humanist’s toolkit. Witold Rybczynski

An anderer Stelle habe ich ein Buch über Andrea Palladio von Witold Rybczynski empfohlen. Allerdings: Nicht immer schreibt man auf demselben Niveau. Sein Buch „How architecture works“, ebenfalls mit – allerdings deutlich breiterem – Fokus auf Architekturgeschichte, ist eine Enttäuschung.

How Architecture Works: A Humanist's Toolkit von [Rybczynski, Witold]

Warum? Weil das Buch nichts von dem hält, was der Titel verspricht. Jedenfalls nicht bis zu der Seite, auf der ich dann ermattet das Lesen beendet habe (und ich war wirklich recht tapfer und lange dabei….). Der Grad an Abstraktion, um erklären zu können, wie Architektur funktioniert, wird nie erreicht, ein Toolkit nie abgeleitet. Statt dessen viele Details zu vielen Gebäuden und vielen Architektenbüros mit viel zu wenigen Illustrationen, von denen viele obendrein nicht das Gewünschte illustrieren.

Da mag ich auch nichts zitieren…

Schade, schade. Lag’s am Verlag? Zu wenig Zeit und Muße? Anspruch zu hoch geschraubt? Zu sehr vom vergangenen Erfolg verwöhnt?

Dennoch: Sein Buch über Palladio ist tatsächlich ausgezeichnet.

Helene Schjerfbeck – Die Malerin aus Finnland. Barbara Beuys

Da bleibt einem ja doch der Atem weg: Ein Ölbild gemalt von der 18jährigen Helene Schjerfbeck, es zeigt einen verwundeten Soldaten im Schnee liegend. Sehr beeindruckend! Helene Schjerfbeck? Hatte ich vorher noch nie gehört.

 

Keine Bilder von ihr hatte ich vor Augen. Und das trotz einer Ausstellung in der Schirn vor einigen Jahren…

Das Verdienst dieser Biografie von Barbara Beuys ist es, eine ganz beeindruckende Malerin auch in Deutschland bekannter zu machen. Schjerfbeck hat von 1862 bis 1946 gelebt. Sie hat in Finnland, anderen skandinavischen Ländern und  Frankreich viele Preise gewonnen.

Bildergebnis für helene schjerfbeck

 

Die Malerin: toll.

Die Biografie: nicht so sehr. Aber vielleicht liegt das auch an meinen eigenen Ansprüchen an gute Biografien. Ich möchte gerne mehr als ein erzähltes Leben, von den Eltern bis zum Grab. Mehr als Anekdoten aus dem Leben. Mehr als Zitate aus Briefen. Barbara Beuys hat eine sehr gut lesbare, interessante Biografie geschrieben, die sich gut wegschmökern läßt. Sie gibt außerdem einen guten Zugang zur finnischen Geschichte. Wer von uns ist hierin schon ganz firm? Weitere Informationen zur Malerin bietet auch FemBio.

Bildergebnis für helene schjerfbeck

Dass meine Lieblingsbiografien eher von Lyndall Gordon geschrieben sind, ist eine andere Sache. Aber empfehlen kann ich doch sehr – und sei es nur des Kontrastes wegen – ihre Biografien zu Viginia Woolf und zu Henry James.

front cover of Virginia Woolf: A Writer's Life,

The dream of reason: A history of Western philosophy from the Greeks to the Renaissance. Anthony Gottlieb

Lesbar und verständlich, überhaupt nicht flach, voller Einsichten, macht Spaß. Sieht nach ziemlich voller Punktzahl aus für den ersten Teil der Philosophiegeschichte von Anthony Gottlieb, der den Zeitraum von der griechischen Antike bis zur Renaissance umfasst.

Gottlieb denkt gerne selbst, hat Humor und kann schreiben. Das hat ihm schon dabei geholfen, Executive Editor des Economist und Gast-Fellow in Harvard und Oxford zu werden/zu sein. Das hilft dem Leser und der Leserin, sich mit  Anaxagoras, Sextus Empiricus, Duns Scotus und Pico della Mirandola genussvoll zu beschäftigen.

Beeindruckend, wie Gottlieb den Überblick behält zwischen den verschiedenen Philosophenschulen, ihren Spielarten, Vertretern, Nachfolgern, Gegnern, wie er Entwicklungslinien bis in die Gegenwart aufzeigt und nicht zuletzt, wie er immer wieder die Relevanz von Philosophie für die Naturwissenschaften, für die Technik, für das heutige Leben aufzeigt.

Das Vergnügen beginnt schon mit der Einleitung und dort im ersten Absatz: „The last thing I expected to find when I began work on this book, many years ago, is that there is no such thing as philosophy. Yet that, more or less, is what I did find, and it explained a lot. Determined to forget what I thought I knew, I set out to look at the writings of those from the past 2,600 years who are regarded as the great philosophers of the West. My aim (politely described by friends as ‚ambitious‘ when they often meant ‚mad‘) was to approach the story of philosophy as a journalist ought to: to rely only on primary sources, wherever they still existed; to question everything that had become conventional wisdom; and, above all, to try and explain it all as clearly as I could.“

Aristoteles fand ich persönlich immer etwas sperrig und spröde und abschreckend. Noch nie habe ich einen so guten Überblick über ihn bekommen wie in diesem Buch. Gottlieb hat es geschafft, dass ich fast (aber nur fast) einmal wieder etwas von ihm im Original lesen möchte.
Für über 1600 Jahre war er nicht nur in Philosophie und Logik – for better, for worse – das Maß der Dinge. Gottlieb:
„If Aristotle had never existed, it would be pointless to try to invent him. Nobody would believe that there could have been such a man, and quite right too. (…) his surviving works run to almost one and a half million words. There is good reason to think that this is no more than a quarter of what he wrote; all of his works that were polished for publication have been lost (…). Any credible description of the impressiveness of his work would be an Understatement. (…) The surviving works (…) include books dealing with ethics, political theory, rhetoric, poetry, constitutional history, zoology, meteorology, astronomy, physics, chemistry, scientific method, anatomy, the foundations of mathematics, language, formal logic, techniques of reasoning, fallacies, and other subjects (…)“

Unter den Philosophiegeschichten definitiv ganz weit vorne dieses Buch. Und auch der Folgeband scheint gelungen, wenn man den Rezensionen Glauben schenkt.