Nachtwachen von Bonaventura. August Klingemann

Die Nachtwachen sind 1804 anonym erschienen und haben zunächst niemanden so recht interessiert.

Das Interesse kam später…

Wer hat sie wohl geschrieben? Goethe vielleicht sogar? Oder Schelling, E.T.A. Hoffmann, Brentano oder F.G. Wetzel? So rätselte man dann.

Was passiert in den 16 Nachtwachen? Sie sind ein böser Eintopf aus Theater-Stück-Zitaten, Puppen- und Marionetten-Spiel-Sequenzen, Maskenspielen, Erzählungen aus dem Leben, überführt in neue Theaterstücke.

Da wird das Drama „Der Mensch“ aufgegeben, sein Autor erhängt sich nach längerer Ansprache an sein nie gehabtes Publikum: „Der Mensch taugt nichts, darum streiche ich ihn aus. Mein Mensch hat keinen Verleger gefunden weder als persona vera noch ficta, für die lezte (meine Tragödie) will kein Verleger die Druckkosten herschießen, und um die erste, (mich selbst) bekümmert sich gar der Teufel nicht, und sie lassen mich verhungern (…).“

Da fallen die Schauspieler für Ophelia und Hamlet aus ihren Theater-Rollen und verlieben sich im echten Leben. Woran sie den Verstand verlieren: So Ophelia an Hamlet, „Du stehst einmal als Stichwort in meiner Rolle, und ich kann dich nicht herausreißen, so wenig wie die Blätter aus dem Stücke, worauf meine Liebe zu dir geschrieben ist. So wil ich denn, da ich mich aus der Rolle nicht zurücklesen kann, in ihr fortlesen bis zum Ende (…). Dann sage ich dir, ob außer der Rolle noch etwas existiert und das Ich lebt und dich liebt.“

Da sitzt im Irrenhaus ein Mann, der sich einbildet, der Weltenschöpfer zu sein. Enttäuscht von seiner Schöpfung führt er Selbstgespräche: „Aber dies winzige Stäubchen, dem ich einen lebendigen Athem einbließ und es Mensch nannte, ärgert mich wohl hin und wieder mit seinem Fünkchen Gottheit, das ich ihm in der Übereilung anerschuf, und worauf es verrückt wurde. (…) Beim Teufel! Ich hätte die Puppe ungeschnitzt lassen sollen! – Was soll ich nur mit ihr anfangen? – Hier oben sie in der Ewigkeit mit ihren Possen herumhüpfen lassen?“

… und noch viel mehr dergleichen. Alles zusammengehalten durch einen menschenfeindlichen Nachwächter als Erzähler.

Und all das gemacht – wie man heute weiß – vom besten Theater-Macher seiner Zeit: August Klingemann. Dessen Faust-Drama vor Goethes gespielt wurde, der Goethes Faust uraufführte und mit zahlreichen Aufführungen beider Varianten des Stoffs Theater-Geschichte schrieb.

Und was sagen uns die Nachtwachen?

„Die Frage scheint auf eine merkwürdige und verwirrende Weise, die indessen gerade zum Reiz des Buches beitragen mag, ins Leere zu führen, in eine Leere ähnlich der, von der im Buch selbst (…) die Rede ist. Man hat das Gefühl, eine Maske nach der anderen, Zwiebelschale auf Zwiebelschale gleichsam abzuziehen (…). Larve, Rolle und Schauspiel werden zu Metaphern für ein krisenhaftes Verhältnis des Ichs zur Wirklichkeit und zu sich selbst, indem es, auf sich reflektrierend, in der eignen Tiefe bald alles, bald nichts findet“, so Jost Schillemeit. Mehr zu den „Nachtwachen von Bonaventura“ hier…
Gelesen habe ich die Ausgabe des Inselverlags mit einem guten Nachwort von Jost Schillemeit und Illustrationen von Lovis Corinth, auf die sich gut verzichten läßt.

Die Oden. Horaz

Einige Autoren – wie zum Beispiel Haruki Murakami, der Autor des letzten Beitrags – werden hoch gehandelt und sogar für den Literatur-Nobelpreis diskutiert. Würde ich das noch erleben können, wäre ich gespannt, welche Rolle er in 50 Jahren noch spielen wird. Andere Autoren haben den Test der Zeit, sogar der Jahrtausende schon hinter sich, und behaupten sich unverdrossen. Einer hiervon ist sicherlich der römische Dichter Quintus Horatius Flaccus, kurz: Horaz.

Horaz lebte – siehe der fotografische Beleg – von 65 bis 8 vor unserer Zeitrechnung, und ist einer der wichtigsten Dichter der Zeit von Kaiser Augustus.  Seit damals ist Horaz beliebt und gefürchtet als Quelle lateinischer Zitate. Wenig ist vor ihm sicher, und vor wenigem er selbst. Als generelle Lebensmaxime, Name von Unternehmensberatungen sowie von Pflegeshampoos ist sein „carpe diem“ immer noch im Einsatz.

Und sogar Reifen lassen sich mit Horaz anscheinend besser verkaufen.

Neben Satiren und den sogenannten Epoden sind die Oden das Hauptwerk von Horaz. Geschrieben im Jahr 23 sind sie sprachlich am ausgefeiltesten und hatten bis heute den größten Einfluss vor allem auf  die westliche Literatur und Kultur. Sie sind der Inbegriff klassischer Dichtung. Und sie sind so allgemeingültig und so auf den Punkt geschrieben, dass sie auch heutigen Lesern ohne Weiteres zugänglich sind.

Als Beispiel möchte ich die 9. Ode des ersten Buches nehmen, da sie jahreszeitlich besonders gut passt und recht typisch für die Oden ist:


Permitte Divis caetera: qui simul
Stravere ventos aequore fervido
   Deproeliantis, nec cupressi,
       Nec veteres agitantur orni.
Quid sit futurum, fuge quaerere; &
Quem fors dierum cumque dabit, lucro
   Adpone: nec dulcis amores
       Sperne puer, neque tu choreas.
Donec virenti canities abest
Morosa; nunc & campus, & areae,
   Lenesque sub noctem susurri
       Conposita repetantur hora:
Nunc & latentis proditor intimo
Gratus puellae risus ab angulo;
   Pignusque dereptum lacertis,
      Aut digito male pertinaci.

Die „Lateinoase“ (die gibt es! und man kann sich dort ganz gut aufhalten!) übersetzt:
„Siehst du, wie der durch hohen Schnee strahlende Soracte dasteht und wie die sich abmühenden Wälder die Last nicht mehr aushalten und wie die Flüsse von scharfer Kälte erstarrten?
Vertreibe, reichlich Holz auf den Herd legend, den Frost und hole, o Thaliarch, freigiebiger den vier Jahre alten Wein im Sabinerkrug hervor.
Gestatte das andere den Göttern. Sobald sie die kämpfenden Winde auf dem tosenden Meer beruhigt haben, werden weder die Zypressen noch die alten Bergeschen hin- und herbewegt. 
Vermeide es zu fragen, was morgen sein wird, und was das Schicksal dir auch immer an Tagen gewähren wird, nimm es als Gewinn und verachte nicht die süßen Liebschaften, Junge, nicht die Reigentänze, 
solange das launische Greisenalter fern der Jugend ist. Bald mögen Feld, Flächen und leises Geflüster in der Nacht zu geregelter Stunde gesucht werden, 
bald das willkommene Lächeln als Verräter des sich versteckenden Mädchens vom geheimen Winkel und das ihren Armen oder ihrem kaum beharrlichen Finger entrissene Pfand.“

Die Übersetzung ist sehr wörtlich und gymnasial hinreichend mindestens für ein „gut“. Sie gibt sich Mühe. Gute Dichtung ist sie nicht. Aber das ist vielleicht eines der Haupthemmnisse für Horaz: Er lässt sich nicht wirklich überzeugend übersetzen (ähnlich wie klassische chinesische Gedichte). Zu viel geht verloren. Das Versmaß mit seinen Längen und Kürzen in Kombination und Reibung zur normalen Betonung der Worte, das im Deutschen immer als Hebungen und Senkungen im Einklang mit der Wortbetonung widergegeben wird: fad und platt und plump mit seinem dammda-dammdada-dammda-damm. Die freie und damit absichtsvolle Stellung der Worte, die die Bestandteile eines Satzes kunstvoll und nuancenreich ineinander verweben kann, funktioniert im Original problemlos, lässt sich jedoch im Deutschen überhaupt nicht nachbauen, ohne gestelzt, vollständig obskur oder beginnend verrückt zu wirken (wer so etwas einmal lesen möchte, ist mit der Horaz-Übersetzung von Bernhard Kytzler bei Reclam bestens bedient). Und wenn man das Gedicht anders, freier nachdichtet? Dann ist es nicht mehr von, sondern nach Horaz.

Ein guter Grund also, die Lateinkenntnisse wieder auszugraben (oder neu anzulegen?) – der ästhetische Genuss ist es wert. Nicht nur zu Weihnachten oder wenn Schnee liegt.

Naokos Lächeln. Haruki Murakami

Vor fast 30 Jahren, 1987, erschien der fünfte Roman von Haruki Murakami, sein Titel: ノルウェイの森 (Noruwei no mori), auf Englisch: Norwegian Wood, auf Deutsch: Naokos Lächeln. Dieses Buch etablierte den Ruhm und die Verehrung Murakamis bei der (nicht nur) japanischen Jugend.

Sinn und Unsinn deutschsprachiger Buchtitel kommentiere ich in diesem Fall nicht. Nur soviel: Der Bezug auf das gleichnamige Lied der Beatles erschließt sich auf japanisch und englisch unmittelbarer.

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Murakami, geboren 1949, ist ein Garant hoher Verkaufszahlen. Seine Romane sind in mehr als 50 Sprachen übersetzt, etliche verfilmt; er selbst ist vielfach preisgekrönt. Artikel auf Wikipedia über ihn gibt es sogar in fast 70 Sprachen – hier der Link zu einer ebenso kurzen wie graphisch gelungenen Variante für all diejenigen, die einmal eine neue Sprache ausprobieren wollen.

In diesem Roman geht es um Verlust, Orientierungslosigkeit, Beziehungen, vielleicht um Liebe, jedenfalls um Sex, auch Selbstmord im Japan der späten 60er Jahre.

Murakami schreibt flott, eher umgangssprachlich (zumindest in der Übersetzung) und unprätentiös. Die Atmosphäre ist oft etwas surreal und leicht geheimnisvoll. Er verwendet meist einen nicht-allwissenden Ich-Erzähler. Rückblenden sind ein sehr beliebtes Element. Sexszenen werden relativ regelmäßig, ohne dabei in irgendeiner Weise sparsam zu sein, eingestreut.

Ich muss gestehen, bei mir ist kein Funke übergesprungen. Zu lässig geschrieben, zu lang, zu flach und platt, zu sehr auf Wirkung ausgerichtet, zu wenig spannend, die Charaktere trotz vieler Details zu scherenschnittig und durchsichtig. Dass Murakami angeblich immer wieder für den Literatur-Nobelpreis gehandelt wird, erschließt sich mir nur aus den Verkaufszahlen. Andererseits: Vielleicht sind seine anderen Werke deutlich besser. Oder: Es geht gar nicht um literarische Qualität. Und auch: Ich kann es nicht beurteilen, denn ich habe den Roman nicht bis zum Ende gelesen….

Eine beliebige, aber durchaus typisch-seicht-plätschernde Leseprobe aus der englischen Übersetzung (in der ich gelesen habe):
„Reiko gave a deep sigh (…), then folded her hands on her knees.
‚This will be your bed,‘ she said, patting the sofa. ‚We’ll sleep in the bedroom, and you’ll sleep here. You should be all right, don’t you think?‘
‚I’m sure I’ll be fine.‘
‚So, that settles it,‘ said Reiko. ‚We’ll be back around five. Naoko and I both have things to do until then. Do you mind staying here alone?‘
‚Not at all. I’ll study my German.‘
When Reiko left, I stretched out on the sofa and closed my eyes. I lay there steeping myself in the silence (…).“

Keine Empfehlung also. Wird aber den Bestseller-Zahlen nicht schaden.

Sylvia Plath und Ted Hughes: Du sagst es. Connie Palmen

Eine Frau beißt einen Mann in die Wange bis das Blut läuft.

Ist das Liebe?

So jedenfalls lernt sich im Buch von Connie Palmen eines der berühmtesten Liebespaare der modernen Literatur kennen.

Das Buch ist der fiktive Bericht einer leidenschaftlichen Liebesgeschichte, einer Ehe, einer Selbsttötung: aus der Sicht des männlichen Protagonisten, Ted Hughes. Hughes selbst hat in der Realität zur Beziehung zwischen Plath und ihm  geschwiegen. Im Archiv befindet sich allerdings eine versiegelte Kiste, die laut Testament erst 2023 geöffnet werden kann…

Warum ist diese Konstellation interessant?

Nach Plath’s Suizid im Jahr 1963 galt sie als Märtyrerin, Hughes als Verräter. Ihre Beziehung wurde in den Medien und von ihren Freunden immer wieder thematisiert, dabei mit großem Detailreichtum an die Öffentlichkeit gebracht.

Funktioniert die Fiktion?

Das Buch ist auf den ersten Blick eines: verblüffend überzeugend. Man nimmt Palmen die Stimme ab, die sie Hughes in den Mund legt.

„Es dauerte nicht lange, bis sie mir so vertraute, dass ich allmählich Risse in der Rüstung ihrer trügerischen Aufgeregtheit anbringen konnte. Weil sie auf meine Stimme reagierte wie ein neugeborenes Lamm auf das Blöken des Mutterschafs, konnte ich sie nach zwei missglückten Versuchen vollständig in Hypnose versetzen. Verdauung, Blutkreislauf, Atmung und schließlich ihre Träume – ich konnte sie mit meiner Stimme lenken.“

Dann, während des Weiterlesens, kommt die Frage auf, ob denn wirklich Sylvia Plath derart kindlich, so verängstigt, so hysterisch gewesen sein kann.

Noch später überzeugt mich dann der subtile Weg, auf welchem Palmen thematisiert, wie wenig Hughes seine Affairen infrage stellt und seine Rolle als Vaterfigur und Gottvater. Palmen läßt ihn fest davon ausgehen, dass dies seine Rollen in der Beziehung zu seiner Frau waren, ebenso selbstverständlich, dass seine Verhältnisse zu anderen Frauen notwendig waren.

Wer war Sylvia Plath?

Sie war eine amerikanische Schriftstellerin, geboren 1932, gestorben 1963. Als Plaths Hauptwerk gilt ihre Lyrik, insbesondere der nachgelassene Band „Ariel“ sowie ihr Roman „Die Glasglocke“. Ihre Werke werden zumeist im Kontext ihrer Lebensgeschichte gesehen und gelten als Bekenntnisliteratur. Ihr literarischer Erfolg setzte nach ihrem Suizid mit der Veröffentlichung nachgelassener Gedichte sowie der US-Publikation ihres Romans in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren ein. Plath wurde zu einer Symbolfigur der Frauenbewegung stilisiert und ihre Lebensgeschichte als Spiegelbild der Rolle der Frau in der Gesellschaft verstanden.

Tot geboren

Diese Gedichte leben nicht: eine traurige Diagnose.
Ihre Zehen und Finger sind richtig ausgebildet,
ihre kleinen Stirnen vor Konzentration gewölbt.
Sie haben es nie geschafft, umherzugehen wie Leute,
doch nicht etwa aus Mangel an Mutterliebe.

Ich begreife nicht, was aus ihnen geworden ist!
In Form und Zahl und allen Teilen sind sie gelungen.
Sie liegen so lieb in der Pökelflüssigkeit!
Sie lächeln und lächeln und lächeln mich an.
Und trotzdem füllen sich die Lungen nicht,
fangen die Herzen nicht an zu schlagen.

Sie sind keine Schweine, nicht einmal Fische,
obwohl sie etwas Schweinisches und Fischiges an sich haben –
es wäre besser, sie wären am Leben und wären diese Tiere.
Doch sie sind tot, und ihre Mutter ist halb tot vor Qual,
und sie starren nur dumm und sprechen nicht von ihr.

(Sylvia Plath, Stillborn, in der Übersetzung von Johannes Beilharz)

… und wer Ted Hughes?

Ted Hughes, 1930 bis 1998 war ein englischer Dichter und Schriftsteller. Er veröffentlichte angesehene Gedichtbände – der bedeutendste war „Crow“. Von 1984 bis zu seinem Tod war Hughes der von der britischen Königin berufene Nationaldichter Englands.

Last Letter

What happened that night, inside your hours
Is as unknown as if it never happened.
What accumulation of your whole life,
Like effort unconscious, like birth
Pushing through the membrane of each slow second
Into the next, happened
Only as if it could not happen
As if it was not Happening.

(Ted, Hughes, Strophe aus Last Letter, Informationen und Video zur Entdeckung des Gedichts auf dieser Seite…)

 

Gelesen habe ich die deutsche Übersetzung des niederländischen Originals. Mehr zur Autorin Connie Palmen hier…

Der Junge im gestreiften Pyjama. John Boyne

Die Frage muss zunächst einmal offen bleiben, ob es sich bei diesem Werk von John Boyne um ein Jugendbuch handelt – immerhin hat es Preise als ein solches bekommen – oder doch zumindest auch um ein Buch für Erwachsene. In jedem Fall hat mich, sicherlich nicht mehr ganz jugendlich, dieses Buch sehr beeindruckt. Darüber hinaus: Ein weiterer Beitrag aus der informellen Reihe dieses Blogs „Literatur aus Irland“.

Über den Inhalt möchte ich nicht mehr sagen, als der Klappentext verrät (keinesfalls eine Inhaltsangabe vorher lesen!):
„The story of The Boy in the Striped Pyjamas is very difficult to describe. Usually we give some clues about the book on the jacket, but in this case we think that would spoil the reading of the book. We think it is important that you start to read without knowing what it is about.
If you do start to read this book, you will go on a journey with a nine-year-old boy called Bruno (though this isn’t a book for nine-year-olds.) And sooner or later you will arrive with Bruno at a fence.
Fences like this exist all over the world. We hope you never have to cross such a fence.

John Boyne, geboren 1971 in Dublin, hat zwischenzeitlich 14 Romane veröffentlicht, die in 48 (!) Sprachen übersetzt sind. Sicherlich also kein unbekannter Stern am Literaturhimmel. Die 5 Millionen verkauften Exemplare des „Jungen im gestreiften Pyjama“, die für ihn den Durchbruch als Schriftsteller bedeutet haben, sind gut nachvollziehbar, denn Boyne versteht auf sehr unprätentiöse, leise-tönende Weise sein Handwerk. Die Beschreibung „a small wonder of a book“ des Guardian passt da durchaus.

Das Buch ist in keiner Weise brutal, im Gegenteil. Verstörend schon.

Zitieren möchte ich die letzten Zeilen auf Englisch:
„And that’s the end of the story about Bruno and his family. Of course all this happened a long time ago and nothing like this could ever happen again.
Not in this day and age.“
Und schon fragt man sich, ob das wohl stimmt….

 

Liebe. Elizabeth von Arnim

Das dritte Buch von Elizabeth von Arnim, das wir in diesem Blog empfehlen, nach The solitary summer und Introduction to Sally. Dieses Mal handelt es sich um ihren 15. Roman, erschienen 1925 unter dem Titel „Love“, im Gruppenfoto der vierte Band von links.

Etwas spät, aber immerhin noch rechtzeitig im Jahr ihres 150. Geburtstags, für den Elizabeth-Enthusiasten nicht nur eine Elizabeth-Rose gezüchtet, sondern auch einen passenden Kuchen gebacken haben.

Statt eines Kuchens also ein Blogbeitrag…. Um aber wenigstens festlich ein wenig nicht englisch-sprachige Abwechslung in unseren Blog zu bringen, habe ich dieses Buch nicht im Original oder in Deutsch gelesen, sondern die ausgezeichnete spanische Übersetzung mit flottem 20er Jahre Einband von Lucía Vázquez de Castro.

Neben Krimis in Übersetzung sind Bücher von Arnims wahrscheinlich mit am besten dazu geeignet, die eigenen Fremdsprachenkenntnisse auf angenehme und anregende Art und Weise fit zu halten: recht einfach geschrieben, kein abgehobener Wortschatz, viel wörtliche Rede; amüsant, auch spannend, jedenfalls ein wenig bissig, immer mit viel Menschenkenntnis, durch und durch human.

„Amor“ behandelt ein ungleiches Liebespaar, Er Mitte zwanzig, Sie in den Vierzigern, beide schwer ineinander verliebt, wobei Sie das rational für Unsinn und ein Unding hält. Eine damals (und heute?) schwierige Konstellation, geprägt von viel Ablehnung der Mitmenschen, Ängsten und Voreingenommenheit der beiden Protagonisten, aber auch von viel Vertrauen, Unbedingtheit, Zuwendung der beiden.

Catherine Cumfrit und Christopher Monckton lernen sich in einem Kino kennen:
„La primera vez que se vieron, aunque no lo sabían porque no eran conscientes de la presencia del otro, fue en La hora immortal, que se presentaba entonces con escasísimo público allá en King’s Cross; pero ambos iban tan a menudo y la audiencia era en aquella época tan visible por lo poco numerosa (…).
Ella fue consciente de su presencia por primera vez durante la noche de su quinta visita, cuando oyó hablar a dos personas detrás de ella justo antes de levantarse el telón, y una de ellas decía con orgullo: ‚Es la undécima vez que vengo‘, y la otra respondió, sin darle importancia: ‚Yo, es la trigésima segunda‘. (…)
A partir de entonces notaron su mutua presencia durante tres representaciones más y luego, cuando era la novena de ella y la trigésima sexta de él (…) y se encontraban sentados en la misma fila con sólo doce asientos vacíos entre ellos, él se aproximó seis hacia ella cuando cayó el telón entre las dos escenas del primer acto y, al final de éste, tras aquella escena de amor que invariablemente elevaba al pequeño grupo de fieles a una especie de místico frenesí de deleite, se aproximó los otros seis y se sentó con audacia junto a ella.“

Nach dem Kennenlernen kommt viel Liebe, aber auch viele Beispiele dafür, wie Menschen sich und einander das Leben durch Konventionen und Vorurteile mies machen können. Zum Glück hat Elizabeth von Arnim eine große Fähigkeit, auch den biestigsten Szenen durch ironische Boshaftigkeit etwas Erfreuliches mit zu geben.

Natürlich hat „Amor“ ein Happy End, aber mit einem Glücksgefühl, das einem im Halse stecken bleibt. Kein romantischer Sonnenuntergang, davor ein Liebespaar Hand in Hand umwoben von kitschiger Musik, sondern sehr unschöne Wolken am Horizont….:
„Iba a decir: ‚Nos querremos much‘, pero pensó que aquello podría parecer una exigencia y se detuvo.
Se quedaron silenciosos un rato, tan inmóviles que los conejos empezaron a pensar que no estaban allí y se les acercaron mucho con sus movimientos desgarbados.
Entonces, él dijo muy dulcemente:
– Voy a cuidar de ti, Catherine.
Y ella respondió, con la voz algo temblorosa:
– ¿Sí, Chris? Estaba pensando que eso es lo que voy a hacer contigo.
– Muy bien. Entonces, nos cuidaremos mutuamente.
Los dos trataron de reírse, pero fue una risa trémula e insegura, porque los dos tenían miedo.“

Für all diejenigen, die dieses Buch weder in der englischen noch in einer spanischen Version lesen möchten – aber lesen sollte man es! – gibt es auch eine deutsche Übersetzung, die antiquarisch zu bekommen ist.

One crimson thread. Micheal O’Siadhail

Diese Sammlung von Sonetten lässt sich nicht lesen, ohne berührt, betroffen, beeindruckt und verändert zu werden. Ich habe schon einiges von Micheal O’Siadhail gelesen, aber mit solchen Gedichten habe ich nicht gerechnet. „I read slowly, carefully and with deep emotion One Crimson Thread. It is a beautiful, beautiful but terribly sad poem of love.“

150 Sonette, ein Thema: Die Liebe zwischen ihm und seiner Frau Bríd vor dem Hintergrund der letzten zwei Lebensjahre seiner Frau, die schon seit 20 Jahren an Parkinson litt, danach auch unter Demenz.

Eine solche Themenwahl kann leicht schief gehen, kann voyeuristisch werden, gefühlsduselig, peinlich. Diese Klippen umschifft O’Siadhail mit seinen vielleicht besten und bestimmt persönlichsten Gedichten. Unter diesem Link findet sich ein Video, in dem O’Siadhail eines seiner Sonette liest.

Inhaltlich kann ich die Sonette nicht besser beschreiben, als dies ein Zitat von Joseph Heininger auf der Buchrückseite tut: „(…) Michael O’Siadhail explores how a devoted husband and wife respond and adjust when she is greatly altered by Parkinson’s disease, examining his states of mind and feeling, his daily adjustments, her changing personality, and finally his sorrow and brokenness at her death. Yet at the spiritual heart of this sequence are the ways in which the poems courageously show how the couple’s deep-rooted love searches for ways to overcome her debilitating illness, their fear and dread, and their eventual loss.“

Die Sprache, so scheint mir, ist das Gerüst, das O’Siadhail beim Schreiben über seine Gefühle geholfen hat, Stabilität zu bewahren. Die Worte sind einfach, viel weniger Fremd- oder ungewöhnliche Worte als in anderen seiner Gedichtbände. Auch der Satzbau ist eher schlicht. Vorsichtig schreibt er, tastend, aber auch sehr deutlich und unmittelbar, benennt die Dinge, berührt die Stellen, an denen es wehtut.

Und voller Dichtkunst, dicht zum Beispiel an der Reim- und Assonanz-Tradition irischer und walisischer Lyrik seit dem frühen Mittelalter, dicht vielleicht auch an der Qualität von Shakespeares Sonetten. Mit ausbleibendem Reim, je weiter weg ihm seine Frau vorkommt, je mehr er kämpft und verzweifelt ist.

Eine Zeile aus Sonett 150:
„The pain of loss the price of love we pay.“

Die irische Aeneis. Übersetzt von George Calder

Wieder ein Beitrag aus der Serie obskurer Werke aus Irland. Irgendwann vor 1400 entstand in Irland eine der frühesten Adaptionen der Aeneis von Vergil in eine einheimische Sprache überhaupt. „Übersetzung“ wäre falsch, denn die Aeneis, auf Irisch „Imtheachta Aeniasa“ oder die „Fahrten des Aeneas“, wurde tatsächlich ver-irisch-t.

Aufgeschrieben ist dieses Werk im sogenannten Book of Ballymote, in dem sich auch andere klassische Werke in irischer Verkleidung wiederfinden, unter anderem eine äußerst faszinierende, ebenfalls sehr irische Version der Odyssee.

Es gibt eine ganze Reihe von Aspekten, die dieses Werk sehr interessant machen. Da ist zunächst wie erwähnt der sehr frühe Zeitpunkt der Adaption irgendwann im 14. Jahrhundert. Obwohl Dichtung in Irland weit verbreitet und gut etabliert war, wählte der Verfasser keine irischen Hexameter, sondern eine Prosaübertragung, eventuell um einen historisch-faktischen Charakter der Aeneis zu betonen.

Vor allem aber sticht die „Irisierung“ hervor.

Ein Keltologe, Edgar Slotkin, hat die Verfahrensweise des Verfassers so beschrieben: „His concern was not so much a translation from one language to another but from one culture to another (…) The Irish Aeneid is periphrastic. Words are not fixed, but nothing essential is omitted. (…) The substantial additions the translator made to the original are (…) not new themes or content, but native elaborations on content which he encountered there.“ Ein anderer Keltologe, Erich Poppe, beschreibt die irische Aeneis „as the product of the fusion of a developed vernacular stylistic and narrative tradition with a learned and historiographical interest in events of classical antiquity. (…) Imtheachta Aeniasa can tell its modern readers much about the mentality and interests of its medieval Irish audience, precisely because it departs characteristically from its source.“

Sprachlich macht sich die Irisierung dadurch bemerkbar, dass der Verfasser in bestem irischen Sagenstil schreibt: Die Vergil’schen Epitheta und Vergleiche verschwinden. Statt dessen finden sich viele Alliterationen und Aneinanderreihungen von wohlklingenden Synonymen. Auch gibt es die für irische Sagen typischen, etwas barock und floral anmutenden Beschreibungen von handelnden Personen.

Hierfür lohnt es sich, einige Beispiele zu geben.
Für die Beschreibung eines aussichtslosen Plans:
„is lam a nead nathrach, is lua fri broth & lem chind fri hall“,
auf Englisch: „it is a hand in a nest of serpents, it is a kick against goads and a dash of a head upon a rock“

Für  Alliterationen bei der Beschreibung von Personen:
„Ba suairc sochraidh sognimach saerchlanda socheniuil in ingen sain“,
auf Englisch: „That daughter was gentle, of beautiful form and good actions, free-born and noble.“

Und für eine längere Passage eine Beschreibung von Aeneas bei seiner ersten Begegnung mit Dido, nur in Englisch, wobei manche englische Worte etwas unpassend wirken – hierfür kann aber das irische Original nichts:
„Pleasant, comely, lovely, and well-born was the hero that came there – fair, yellow, golden hair upon him; a beautiful ruddy face he had; eyes deep-set, lustrous in his head like an image of a god, the expression which Venus, his mother, with love’s splendour, threw into his face, so that whoever looked upon him should love him.“

Gelesen habe ich die 1907 erstmals erschienene irisch-englische Ausgabe von George Calder, die recht gut als Nachdruck zu bekommen ist. Interessant ist der Text allemal. Sonst hätte ein anderer irischer Dichter, Seamus Heaney, nicht auch eine Übersetzung der Aeneis versucht.

Ich bin eine freie Frau. Francoise Giroud

„Ich bin eine freie Frau“ von Francoise Giroud ist ein autobiografischer Text. Er blieb lange unveröffentlicht. Interessant sind die Agumente dafür.

 

Der Text sei peinlich, seine Qualität sei außerordentlich schlecht, eine Veröffentlichung würde dem Image der Autorin schaden.

Worum geht es? Nach dem ersten Versuch einer Selbsttötung wird die Autorin im letzten Moment gerettet. Im Krankenhaus unternimmt sie einen zweiten Versuch; auch dieser scheitert. Daraufhin beschließt sie, den Umstand, zu leben, zu akzeptieren: „Die Grenzen meiner Freiheit kenne ich. Ich habe sie an dem Tag erfahren, als ich meinem Leben ein Ende setzen wollte, um dem KZ zu entkommen, in das ich mich selbst eingesperrt hatte und aus dem ich nicht mehr herausfand. Das ist mir merkwürdigerweise nicht gelungen, obwohl alles gut organisiert war. Über den eigenen Tod zu bestimmen, über den Zeitpunkt und die Umstände, ist doch der reinste Ausdruck von Freiheit. Er blieb mir verwehrt.“

Wer war Francoise Giroud? Sie lebte von 1916 bis 2003 und war eine der bekanntesten Journalistinnen Frankreichs. Giroud war Chefredakteurin von Elle und gründete das Nachrichten-Magazin L´Express zusammen mit Jean-Jacques Servan-Schreiber. Unter ihren vielen Büchern sind Biografien über Jenny Marx, Cosima Wagner und Alma Mahler.

Warum die Versuche, dem Leben ein Ende zu setzten? Körperliche Arbeitsüberlastung, der Tod der Mutter, ein Unfall des Sohnes und dann die Trennung von ihrem Partner Servan-Schreiber, der eine Ehe mit einer jüngeren Frau anstrebte, um mit dieser eine bürgerlich-akzeptable Familie zu gründen. Wie diese biografischen Eckpunkte zusammenwirkten, Girouds Leben für sie selbst nicht mehr lebenswert erscheinen zu lassen, erzählt das Buch.

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…und ist der Text peinlich? Das Buch ist ein Porträt der Pariser Gesellschaft der sechziger Jahre. In dieser war Giroud eine äußerst bekannte, gut vernetzte Figur. Im Text reflektiert sie ihre Herkunft aus dem bürgerlichen Milieu im Kontrast zu ihren eher linken politischen Einstellungen. Sie thematisiert weiterhin die langjährige Liebes- und Arbeitsbeziehung zu einem Partner, mit welchem sie nicht verheiratet war, und spricht über die Abtreibung des gemeinsamen Kindes – damals gesetzlich verboten. Diese Kombination war der Sprengstoff. Aus meiner Sicht ist „Ich bin eine freie Frau“ ein sehr gut lesbares, kluges Buch, geschrieben in lakonischer Sprache.

„Wenn man unbedingt ein Flugzeug steuern will, ohne sich mit einem Fallschirm zu belasten, muss man das Risiko in Kauf nehmen und darf sich nicht beklagen, wenn man hinausgeschleudert wird und sich das Kreuz bricht. Ich beklage mich nicht. Ich war immer bereit, den Preis für meine Freiheit zu zahlen.“

Einen schönen Beitrag zum Buch hat das Deutschlandradio gesendet. Hier die Informationen…

Introduction to Sally. Elizabeth von Arnim

Schon an anderer Stelle habe ich Bücher von Elizabeth von Arnim empfohlen. Eine ideale Autorin für warme Sommertage, wenn das Monumentalwerk zur Geschichte der europäischen Scholastik unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses von Duns Scotus und Johannes Scotus Eriugena nicht das richtige ist.

„Introduction to Sally“, erschienen 1926, ist nicht mein Favorit unter von Arnims Romanen, aber ein gutes und gut lesbares Buch ist es allemal. Und da sollte man sich vom Einband der Erstausgabe nicht abschrecken lassen.

Die Titelheldin ist schön. Und schöne Frauen haben es nicht leicht.
Das hat schon Apuleius in der Antike gewusst und im Märchen von Amor und Psyche thematisiert. 1911, also etwas dichter am Erscheinungsjahr von Sally, hat Max Beerbohm in Zuleika Dobson die tragikomischen Aspekte in seinem einzigen Roman verarbeitet – eine Verbindung, die schon in einem anderem Blog aufgegriffen wurde. Und Shaws Pygmalion ist auch nicht weit weg.

Die Titelheldin ist schön. Und schöne Frauen können es weit bringen.
Dafür gibt es mehr Belege, als dass es nötig wäre, Beispiele zu nennen.

In Kombination ergibt das eine klassische Spannungskurve mit Exposition, Katharsis und Peripetie, vor allem aber mit einem Happy End – rechtzeitig zum Sommerabend, wenn dann der Cocktail neben einem steht. Die „dei ex machinis“ sind dabei ein englischer Duke und seine Tochter; seine „machina“ ein Rolls Royce, ihre ein englischer Zug in der ersten Klasse.

Immer wieder beeindruckend sind die witzig-weisen Formulierungen und Charakterisierungen von Arnims, zum Beispiel:
„Mr. Pinner was a God-fearing man, who was afraid of everything, except respectability. He married Mrs. Pinner when they were both twenty, and by the time they were both thirty if he had had to do it again he wouldn’t have. For Mrs. Pinner had several drabacks. One was, she quarrelled; and Mr. Pinner, who prized peace, was obliged to quarrel too. Another was, she appeared to be unable to have children; and Mr. Pinner, who was fond of children, accordingly couldn’t have them either. And another, which while it lasted was in some ways the worst, was that she was excessively pretty.“