Das unvollendete Bildnis. Agatha Christie

Der deutsche Titel ist wieder so na ja. Im englischen Original von 1942 heißt dieser Krimi von Agatha Christie „Five little pigs“. Er bezieht sich auf einen Kinderabzählreim, bei dem die Fußzehen durchgezählt werden:
„This little piggy went to market.
This little piggy stayed at home.
This little piggy has roast beef,
This little piggy had none.
And this little piggy cried „Wee! Wee! Wee!“ all the way home.“

Damit ist klar, dass es – neben dem Detektiv, in diesem Buch Hercule Poirot – fünf Hauptpersonen gibt, pro Schweinchen eine.

„Five little pigs“ ist formal ausgesprochen eigenwillig. Es wird dauernd dasselbe erzählt: Der Mord an dem Maler Amyas Crale mit allem, was davor und unmittelbar danach passierte. Jede Hauptperson schildert Poirot zunächst mündlich, dann auch schriftlich die eigenen Erinnerungen und Eindrücke. Macht schon 10mal dasselbe. Außerdem erzählen noch mehrere am Prozess gegen die Ehefrau von Crale beteiligte Personen – sie wurde verurteilt – ihre Interpretation. Damit ist mehr als ein Dutzend voll. Und ganz zum Schluss kommt noch die Erzählung von Poirot mit der Auflösung.

Ein Patentrezept für Langeweile also – und doch ist dieser Krimi ganz ausgesprochen fesselnd.

  • Die Psychologie aller handelnden Personen wird subtil ausgeleuchtet – vielleicht finden sich in diesem Krimi die best-gezeichneten Charaktere von Agatha Christie.
  • Und da immer dasselbe erzählt wird, mit feinen Unterschieden, kann man aufs beste nach Hinweisen suchen, wer der Mörder sein könnte. Poirot weiß zu jedem Zeitpunkt genau dasselbe wie die Leser. Es wird nicht geschummelt.

Der Krimi ist also exzellent. Dasselbe gilt übrigens für die bisher einzige Verfilmung mit David Suchet als Poirot, die sich erfreulich eng an die Vorlage hält.

Agatha Christie gehört in diesem Blog zu den meist-rezensierten Krimi-Autorinnen und -Autoren. Über die Suchfunktion kommt man gut zu ihren anderen Krimis. Aber auch über diesen Link findet man mehr.

The World my Wilderness. Rose Macaulay

„The World my Wilderness“ von Rose Macaulay ist ein Roman, der eine Welt beschreibt, der die zivilisatorischen Werte verloren gegangen sind. Die Handlung spielt in der unmittelbaren Nachkriegszeit, Schauplätze sind Südfrankreich und London.

Protagonisten sind zwei halbwüchsige Kinder, die sich in Frankreich der Widerstandsbewegung gegen die deutschen Besatzer angenähert haben. Sie erleben eine abenteuerliche Welt, Alltag als Abenteuer, voller Gewalt, die jeden immer treffen kann. Diese Welt ist für sie der einzige Standard, den sie für ihr Leben kennen. Als beide Kinder zu unterschiedlichen Familien nach London kommen, interpretieren sie die zerbombten Teile der Stadt als jene Wildnis, die sie aus dem Partisanen-Kampf kennen. Ganz selbstverständlich sehen sie „London“ durch die Brille ihrer Erfahrungen. Lüge, Betrug, Diebstahl, Folter und Mord sind den Kindern nicht fremd.

Was tut der Zerfall von Wertmaßstäben, von zivilisatorischen Spielregeln mit den Menschen? Dieser Frage geht der Roman bei der Darstellung der Jugendlichen nach. Eine weitere Möglichkeit, Spielregeln innerhalb der Zivilgesellschaft zu brechen, statt außerhalb ihrer, zeigt die Figur der Mutter des Mädchens: Sie bricht die Ehe, verliert hohe Geldsummen im Spiel und „entdeckt“ ganz nebenbei alte Provencalische Lieder, die sie dann herausgibt…

Ich mag diesen Roman von Rose Macaulay, da er ruhig und unaufgeregt erzählt wird. Er ist voller starker, gut gezeichneter Figuren. Erzählerisch wechselt die Perspektive: Mal sprechen die Kinder, mal erzählt die Autorin aus der Perspektive der Mutter oder der des Vaters oder der Stiefmutter. Das Geschehen ist hin und wieder dramatisch, seine Darstellung wirkt jedoch nie platt. Das Drama entfaltet sich unterschwellig, da das Wichtigste meist nicht ausgesprochen wird.

Ein sehr guter, schön zu lesender Roman, der eine seltsame Aktualität zu haben scheint, obwohl er Anfang der 1950er Jahre erschien.

Landscape and Memory. Simon Schama

„Landscape and Memory“ von Simon Schama ist ein fürchterlich gebildetes Buch, voller Geschichten, erzählt wie Märchen aus Tausend–und–einer-Nacht.

Es ist ein verrücktes Buch: assoziativ, über alle Disziplinen springend, vom Hölzchen aufs Stöckchen, faszinierend, spannend, bildend.

Bildergebnis für Landscape and Memory. Simon Schama

„Natur“ denken ist immer schon Kultur

Wir können Natur nicht unabhängig von unseren kulturgeprägten Augen wahrnehmen, das zeigt Schama in „Landscape and Memory“. Schama stellt in seinem Buch Zusammenhänge her zwischen Landschaften, deren Historie und menschlichen Ambitionen. Beschreibt, wie Landschaften Geschichten hervorrufen, wie aus Erinnerungen Landschaften werden, wie die Landschaft die menschlichen Erlebnisse in sich trägt, wie die Landschaft aufgeladen wird mit den Begegnungen der Menschen, die in ihr stattfanden. Die New York Times kommentierte das Erscheinen von „Landscape and Memory“ 1995 so:

„In his eye-opening new book, „Landscape and Memory,“ Simon Schama journeys through „the garden of the Western landscape imagination“ while exploring the topography of cultural identity. A transplanted Englishman now rooted in American soil, Mr. Schama lives with his wife and their two children 20 miles north of New York in a house overlooking the Hudson River. Having grown up in London, he also has an affinity for cities. (…) „Landscape and Memory“ began, he said, with a desire to probe „the painful relationship between German history and ecology,“ the fact that the Nazi regime could have been so conscientious about protecting the forest primeval.“

Bildergebnis für Landscape and Memory. Simon Schama

Ich habe das Buch zum zweiten Mal gelesen. Hierfür habe ich viele Wochen benötigt, immer wieder lange Pausen dazwischen. Und ja, ich habe es genossen.

Wald, Berge, Wasser als Protagonisten von “Landscape and Memory”

Simon Schama schreibt in diesem Buch, wie ein großartiger Erzähler Geschichten zu erzählen weiß, um seine Zuhörer in den Bann zu ziehen. Das Buch wie eine Geschichte aus Tausend-und-einer-Nacht. Unterhaltsam, spannend, nie gedachte Bezüge werden nachgezogen, nicht gewusste, abwegige, doch interessante Details ausgebreitet. In großen erzählerischen sowie historischen Bögen lässt Schama seine Leserinnen und Leser eintauchen in die übergreifenden Themen Wald, Berge, Wasser. Im letzten Kapitel bringt er alle drei Themenbereiche zusammen am Beispiel der britischen Landschaftsgärten und ihrer Herrenhäuser.

Nach Lesen dieses wunderbaren und gewaltigen Buchs hat man verstanden, warum die Päpste Obelisken aus dem alten Ägypten in Rom errichten ließen. Oder warum Fürsten sich um die Wasserversorgung kümmerten. Oder warum es den Mount Rushmore gibt, aber nur vier Männer im Stein, keine einzige Frau.

Sir Simon Schama, geboren 1945 in London, ist ein britischer Historiker. Er stammt aus einer Familie osteuropäischer jüdischer Immigranten. Er studierte Geschichte in Cambridge und war dort am Christ College von 1966 bis 1976 Fellow.

Zu guter Letzt eignet sich „Landscape and Memory“ aufgrund seines Gewichts auch als Wurfgeschoß gegen Einbrecher. Das Buch ist gewaltig und gewichtig, es hat 580 engbedruckte Seiten. Unbedingt eine Empfehlung. In deutscher Übersetzung lautet der Titel „Der Traum von der Wildnis“.

Der Traum von der Wildnis

Alexander McQueen – Savage Beauty. Andrew Bolton

Alexander McQueen Savage Beauty herausgegeben von Andrew Bolton ist der Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung von 2011, eröffnet weniger als ein und ein halbes Jahr nach McQueens Freitod. Diese Ausstellung war die zur damaligen Zeit meistbesuchte Mode-Ausstellung des New Yorker Metropolitan Museums. Kurator der Ausstellung, Andrew Bolton, gelang es, sich durch „Savage Beauty“ einen internationalen Namen als Mode-Kurator zu machen.

Mode als Kunst

Der Ausstellungskatalog thematisiert die Frage, wodurch Mode eine Berechtigung erhalten kann,  als „Kunst“ zu gelten.

Dementsprechend ordnen die Texte Kollektionen McQueens in den Kontext der Kunstgeschichte ein: Sie beleuchten die Quellen und die ästhetische Wirkung. Hierdurch arbeiten sie den Schönheitsbegriff McQueen heraus. Alle Texte von „Savage Beauty“ sind anspruchsvoll und sehr lesenswert. Herausragend sind hierbei das Vorwort von Andrew Bolton und die Einführung von Susannah Frankel. Beide Texte gehören zum intelletuell Anspruchsvollsten, was ich über McQueen bisher gelesen habe. Eine gute Ergänzung stellt das Interview von Tim Blanks mit Sarah Burton dar. Burton beschreibt hierin detailliert die Arbeitsweise McQueens, für deren Umsetzung sie mit verantwortlich war.

„The concept of the Sublime underlies the premise of the exhibition „Alexander McQueen Savge Beauty“, which explores McQueen´s profound engagement with Romanticism. For McQueen, the Sublime provided a connection between Romanticism and Postmodernism, principally expressed through the spectacle of his runway presentations and their aspirations to a heightened, unrestrained emotionalism“, so Bolton.

Keine Models sondern Puppen

Alle Fotos zeigen Designer-Stücke auf Puppen. Diese Darstellungsform wirkt zunächst verfremdend. Andererseits steht nicht das Spektakel einer Kollektion im Vordergrund; nichts lenkt mehr ab vom designten Kleidungsstück. Auf diese Weise werden die auch subtilen Varianten mehrere schwarzer Kleidungsstücke besser wahrnehmnbar und können in ihren Details gewürdigt werden. Ein kluges und anspruchsvolles Buch.

Weiter Bücher zu Alexander McQueen

 

Alexander McQueen Evolution. Katherine Gleason

„Alexander McQueen Evolution“ von Katherine Gleason ist ein großformatiger, wertig aufgemachter Band zu Alexander McQueen. Jede Kollektion wird darin beschrieben, wobei „beschrieben“ schon das passende Wort ist. Texte sind deskriptiv, erzählen, was passiert ist, welche Menschen sich wo gedrängt haben und welche einflussreiche Person was über die Kollektion gesagt hat.

Alexander McQueen: Evolution

Das Wichtigste zu den Kollektionen kurz und knapp

Auf der Rückseite des Umschlags stehen chronologisch aufgelistet alle Shows mit Titel und Datum. Dies ist auch die Gliederung des Inhalts. Pro Show drei bis sechs Seiten. Im Text dann immer: Preise oder andere biografische Eckpunkte, Art der Location, Inspirationsquellen von McQueen für die Show, Musik und Bühnendeko, Kleidungsstücke, Reaktionen des Publikum, Reaktionen der Modepresse.

Bildergebnis für „Alexander McQueen Evolution“ von Katherine Gleason

Fand ich auch interessant, aber auf Dauer ermüdend, da das Stickmuster immer gleich blieb. Am anregendsten sind aus meiner Sicht die vielen ausgezeichneten Fotos, die nicht identisch sind mit den Bilder aus „Alexander McQueen“.

Bildergebnis für „Alexander McQueen Evolution“ von Katherine Gleason

Fazit: „Alexander McQueen Evolution“ ist ein gutes Nachschlagewerk auf die Schnelle und ein gutes Blätter-Buch.

Weitere Bücher zum Thema

Alexander McQueen

Modeindustrie Galliano und McQueen

Thema Mode

Das Land, wo die Zitronen blühen. Helena Attlee

Das Land, wo die Zitronen blühen – ein Goethe-Zitat als Titel. Aber dennoch: Dieses Buch gibt es nur in englischer Sprache. So heißt es also „The land where lemons grow“, geschrieben von Helena Attlee, erschienen 2014.
Früchte, Blüten und Blätter der Orange (Citrus ×sinensis)

Das ideale Buch für die vergangenen Tage in Deutschland mit Temperaturen um die 40°C. Ein Zitronensorbet dazu – oder auch nur eisgekühltes Wasser mit Zitronen- und Orangenscheiben darin – dann noch ein Liegestuhl im Schatten – schon kann’s losgehen.
Zitrusvielfalt – Zitruseinheit – Zitrustage

Helena Attlee ist im englischsprachigen Raum als Spezialistin für Gärten bekannt. Gärten in der Provence, in Japan, in England, in Wales: Hierzu gibt es jeweils ein einschlägiges Buch. Und natürlich auch über Gärten in Italien in gleich mehreren verschiedenen Büchern.
LITERARY FESTIVAL: Helena Attlee - Northcote | Luxury Hotel and ...

„Das Land, wo die Zitronen blühen“ fällt dabei etwas aus dem Rahmen. Zwar geht es natürlich auch um Gärten, denn dort wachsen die entsprechenden Zitrusbäume. Viel mehr geht es aber um Botanik, Kulturgeschichte, Olfaktorik. Außerdem ums Reisen in Italien. Und ganz besonders um Küche. Abgerundet mit etwas Geschichte: politisch, medizinisch, kriminologisch, sprachlich. Einem Hauch Literatur. Und einer Prise Autobiographie.
Citron | Leonardi, Vincenzo | V&A Search the Collections

Alles aufs angenehmste durchmischt. Kein Aspekt wird zuviel (ganz sicher nicht zu viel: die Illustrationen – keine einzige!!!! bei diesem Thema!!!! das gleichen wir in diesem Blog mal schnell aus!!!!!). Die Autorin gönnt sich den Luxus, eine klare Struktur zu haben und ihr nicht zu folgen. Ein Buch also erfrischend ohne jede Pedanterie. Eher spielerisch. Jedenfalls genießend. Immer mit dem Duft von Zitrusblüten.
Bergamot - MasterLin

Jetzt weiß ich, was es mit Bergamotte auf sich hat. Mir ist vertraut, wie ein Campari Orange richtig auf italienisch heißt und warum dieses Getränk einen doppelten Bezug zu Zitrusfrüchten hat. Ich könnte (theoretisch) Zitronat herstellen. Ich weiß Bescheid über die Ursprünge der Mafia auf Sizilien. Ich kenne mich mit Chinotto aus. Ich kann erklären, warum welche Zitrusfrucht für das jüdische Sukkothfest verwendet wird und welche Konsequenzen das für ihre Ernte hat. Mir ist bekannt, wo die besten handgemachten Zitrusmarmeladen hergestellt werden. Ich kann erklären, warum die Äpfel der Hesperiden gar keine Äpfel waren. Und mir ist nicht verborgen, dass all die vielen Zitruspflanzen nicht aus Europa stammen, sondern aus Asien.
Chinotto Sparkling Soda Bottles by Niasca Portofino (pack of 4 ...

Ein anregendes Buch also, mit Vergnügen zu lesen. Und danach: ab nach Italien!
wo die Zitronen blühen? - Goethe | werbung | Reiseposter, Italien ...

H wie Habicht. Helen MacDonald

Die Bestseller und der Blogger

Die Verlage tun einiges, um dieses Buch – „H wie Habicht“ von Helen Macdonald – ramschig zu machen. Die englische Ausgabe prahlt mit „Costa Book of the Year“ auf dem Cover (Costa ist eine britische Coffee-To-Go-Kette). Die deutsche hält da mit: „Spiegel-Bestseller“, werden wir informiert. Für Leser wie mich, bei denen Bestsellerlisten ein skeptisches Lächeln im Gesicht auslösen, ist das natürlich nichts.
Falconer and Author Helen Macdonald on Dialogue - YouTube

Gekauft und gelesen habe ich es aber dann doch, allerdings erst, als es nicht mehr auf den Bestsellerlisten war (und obendrein gebraucht – reduziert das finanzielle Risiko, ein Buch gekauft zu haben, das mir dann wie erwartet nicht gefällt…). Gereizt hat mich das Thema: Mensch schafft sich einen Habicht an, richtet ihn zur Jagd ab und lernt sich dadurch selber besser kennen. Und die Kombination mit dem Bestsellertum: Wie kann so etwas in den Mainstream gelangen?

Helen Macdonald: Schreiberin von Naturthemen

Helen Macdonald, Jahrgang 1970, ist Wissenschaftshistorikerin an der Universität Cambridge und schreibt offensichtlich gerne über Naturthemen, insbesondere Greifvögel. Vor ihrem Habichtbuch, erschienen 2014, hat sie bereits eines über Falken geschrieben.
Helen Macdonald on What Falconry Can Teach Us About Our ...

„H wie Habicht“ ist, wie ich finde, ein sehr seltsames und äußerst bemerkenswertes Buch.

Autobiographie und Biographie und Kulturgeschichte und Ornithologie und….

  • Es ist ganz offensichtlich autobiographisch: Es geht um die Autorin selbst in dem Jahr nach dem Tod ihres Vaters, der eine große Rolle in ihrem Leben gespielt hat. Zusätzlich ist es auch fremd-biographisch: In diese Autobiographie eingewoben ist die Lebengeschichte von T.H. White, der heute am meisten  durch seine Bücher über die Artussage bekannt ist, ebenfalls einen Habicht abrichtete und darüber auch ein Buch geschrieben hat, welches Macdonald schon in jungen Jahren erstmalig las. White wird von Macdonald als psychisch schwer angeschlagen, fast pathologisch geschildert, eine weitere Parallele zu ihrer eigenen Verfassung nach dem Tod ihres Vaters. Beide werden außerdem  grundsätzlich als Menschen beschrieben, die eher für sich sind, keine Herdentiere.
  • Ornithologisch ist das Buch: Man erfährt viel über Habichte. Und kulturgeschichtlich , denn man lernt auch eine Menge über Falknerei in der Geschichte und in verschiedenen Kulturkreisen.

Die Autorin und der Habicht: eine gelungene Koexistenz

  • Das Buch kommt mit wenig aus. Zwei Hauptpersonen: Macdonald und White. Jeweils dazu: ein Habicht. Andere Menschen tauchen auf, aber immer nur vorübergehend, unwesentlich, Statisten. Auch der Plot ist einfachst: Vater gestorben – jungen Habicht gekauft und abgerichtet – gemeinsame Jagderlebnisse – vorübergehende Abgabe des Habichts zur Mauser.
  • Macdonald entgeht jeglicher Gefahr, den Habicht zu vermenschlichen. Ja, er (genauer: sie, mit Namen Mabel) ist ihr Gegenüber, ihre Partnerin in diesem Buch. Aber der Habicht ist eine Persönlichkeit für sich, definitiv kein Mensch, ganz anders, ganz Habicht. Diesen Greifvogel für sich zu lassen, ihn nicht zu vereinnahmen, ist vielleicht die größte Leistung von Macdonald in diesem Buch.

Schwebende Intensität

  • Getragen wird alles durch die Intensität, mit der Macdonald schreibt. Alles ist sehr real, unmittelbar. Man sieht den Habicht quasi vor sich, spürt sein Gewicht, seine Kraft, sieht seine Augen, seinen Schnabel, seine Klauen. Ebenso real sind erstaunlicherweise die Gedanken von Macdonald, ihre Gefühle, ihr Verhältnis zum Habicht, ihr Nachdenken über sich, das Leben, die Umwelt, ihren Vater.
  • So real dies alles ist, so schwebend, so atmosphärisch bleibt es gleichzeitig. Alles ist wie in einem Morgennebel im Herbst im Fenland um Cambridge, wenn man mit sich und seinem Habicht allein ist, es riecht nach Holzfeuer und feuchtem Laub.

Ach so, fast vergessen, Empfehlung natürlich. Ist doch klar. Sonst hätte das Buch doch nicht den Samuel-Johnson-Preis gewonnen.

How to Train Your Raptor | The New Yorker

Verlobung in Luzern. Elizabeth von Arnim

„The pastor’s wife“, also: Die Frau Pastor, heißt dieser Roman von Elizabeth von Arnim eigentlich, erschienen 1914. Elizabeth von Arnim ist keine Unbekannte in diesem Blog. Bereits besprochen haben wir: „All the dogs of my life“, „In the mountains“, „The caravaners“, „Love“, „Introduction to Sally“, „The solitary summer“. Auch bei unserer Liste der Bücher des Jahres 2017 war sie mit den Caravaners dabei.
August | 2018 | The Captive Reader

Alle Bücher von Arnims kommen unscheinbar daher. Es passiert nicht viel, auch nicht auf 300 Seiten. Das Personal ist sehr überschaubar, selten mehr, fast immer weniger als eine Handvoll Hauptfiguren. Eher Kammerspiel also als Roman. Große Kunst, die Aufmerksamkeit und Spannung mit so wenig so durchgehend aufrecht zu halten.
April Read: Elizabeth von Arnim | Virago Modern Classics ...

„The pastor’s wife“ ist da keine Ausnahme. Der Inhalt aus der Zusammenfassung der deutschen Übersetzung:
„Empörung im Haus des Bischofs – die wohlbehütete Tochter hat sich verlobt! Mit einem deutschen Pastor! Und dieser erscheint unvermittelt, um seine Verlobte in ihr zukünftiges Zuhause in Kökensee im fernen Ostpreußen zu bringen. Doch die Freuden des Ehelebens werden bald getrübt. Der Pastor spricht seiner jungen Frau von der heiligen Mutterpflicht, er, der es ansonsten mit seinem göttlichen Auftrag nicht sonderlich genau nimmt. Durch die sonntäglichen Predigten fühlt er sich bloß gestört in seiner eigentlichen Arbeit, der Entwicklung neuer Düngemittel. Und Ingeborg – eher wie ein Blatt im Wind wird sie durch ihr eigenes Leben geweht und stößt immer wieder an die harten Mauern der Konvention.“

Elizabeth von Arnim ist immer heiter, ironisch, boshaft. Sie erweckt oft den oberflächlichen Eindruck von heiler Welt und Süßlichkeit, bietet aber das genaue Gegenteil: Glück geht nur trotzdem. Man muss es sich erkämpfen. Die Welt hilft einem zwar nicht, jedenfalls nicht die menschliche. Aber irgendwie geht es doch?

In dieser Hinsicht ist „The pastor’s wife“ graduell verschieden: Der Grundton ist anders. Bitterkeit. Kombiniert mit Auswegloskeit, mit Vergeblichkeit, mit Verzweiflung. Es weht ein kalter Wind in Ostpreußen.
Die Hauptperson, Ingeborg, ist zwar wie bei von Arnim üblich irgendwie unverdrossen, findet immer wieder zum Positiven zurück, trägt viel Heiterkeit und Stärke in sich.
Aber das muss sie auch.
Schreckliche Schwangerschaften, noch schlimmere Geburten. In steter Folge. Niemand, wirklich keiner hilft ihr in diesem Roman. Schon gar nicht die Männer, die so sind, wie sie sind. Auch nicht die Frauen, die das patriarchalische Modell klassisch verstärken. Nicht einmal ihre Kinder, auf die doch sonst in von Arnimschen Romanen Verlass ist. Sogar eine Reise nach Italien, die doch sonst so sicher für Licht und Heiterkeit und Hoffnung sorgt, auch sie hilft nicht. Nichts und niemand, weit und breit.

Und ob die Unverdrossenheit der Heldin das düstere Happy End übersteht?
The Pastor's Wife – Elizabeth von Arnim | The Captive Reader

Alexander McQueen – The Life & the Legacy. Judith Watt

Laut Economist das beste Buch über den Mode-Designer Alexander McQueen. „Alexander McQueen – The Life & the Legacy“ von Judith Watt, Ersterscheinung 2012,  bietet einen guten Überblick über das Leben, die Inspirationsquellen und die Mode von McQueen.

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Mode – schön und schrecklich

Hochgejubelte Mode-Designer hatten mich bisher nicht heftig interessiert…

Bis ich ein Foto sah, das ein Model in unförmigem schwarzen Federkleid zeigte, der Mund rot überschminkt zu einem großen Oval. Die Wirkung des Fotos: schrecklich schön. Dieses Foto ist nicht das einzige, das eine faszinierende, verstörende Wirkung auslöst. Die Themen der Kollektionen spiegeln dies wieder, wie zum Beispiel:

  • Jack the Ripper stalks his victims
  • Nihilism
  • The hunger
  • It´s only a game
  • Widows of Culloden
  • Plato´s Atlantis

Judith Watt teilt die einzelnen Kollektionen in Phasen ein und bietet auch jeweils eine knappe Deutung der Kollektionen an. Die Kombination aus Fotos der Stücke plus Ansätzen zu ihrer Interpretation hat mich überzeugt.

Bildergebnis für Alexander McQueen

Alexander McQueens  Geheimnis

Da ist etwas bei McQueen, was weit über konventionelle Schönheit hinausgeht. Etwas, das Lebenslust und Düsterkeit, Schönheit und Vergänglichkeit zusammenbringt. Etwas, das zwingt, bisherige Vorstellungen über das „Schöne“ zu überdenken. Das somit auch den Balance-Akt visuell verdeutlicht, immer wieder außergewöhnliche, nie dagewesene Ideen zu präsentieren und – einen Markt zu bedienen. Deshalb faszinierend. Nur wiedergeben kann ich die immer wieder gemachte Äußerung von Mode-Experten, dass McQueen seine außerordentlich kreativen Ideen mit ebenso außerordentlicher Schneider-Kunst kombinieren konnte.

Bildergebnis für Alexander McQueen

Aufbau von „Alexander McQueen – The Life & the Legacy“

Das Buch ist chronologisch aufgebaut, Leitplanken sind biografische Meilensteine und Shows, jeweils zusammengefasst zu einem übergreifenden Thema wie zum Beispiel „From Savile Row to Central Saint Martin’s“ oder „The Gucci Years“. Weiterhin gibt es zu jedem Kapitel Bilder der Kollektionen, Fotos von McQueen und Freunden sowie einen kurzen Text. Außerdem bieten das Vorwort von Daphne Guinness, ein zweites Vorwort der Autorin und  eine Einleitung einen unkomplizierten, jedoch sachkundigen Einstieg in „McQueen“.

Weitere Bücher zum Thema

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Galliano und McQueen

Alles zerfällt. Chinua Achebe

„Things fall apart“, der erste Roman von Chinua Achebe, erschien 1958. Mit mehr als 60 Jahren Verspätung habe ich ihn jetzt endlich auch gelesen.
On Things Fall Apart and Things Falling Apart: Simon van Schalkwyk ...

Albert Chinualumogu Achebe, *1930 in Nigeria, † 2013 in den USA, gilt als einer der Väter der modernen afrikanischen Literatur – woran auch immer man das festmacht. Jedenfalls war er sehr erfolgreich als Schriftsteller und wurde in mehr als 50 Sprachen übersetzt. Eine Übersetzung ins Englische war dabei nicht erforderlich, da Chinua Achebe bereits auf Englisch schrieb.
Vielleicht hat das dabei geholfen, einer dieser Väter zu werden (Literaturen haben übrigens eigentlich immer nur Väter, sind also ein biologisches Phänomen – oder kennt jemand z.B. eine der Mütter der modernen afrikanischen Literatur?), denn sonst hätte man ihn im Westen eventuell gar nicht oder erst viel später kennengelernt.
Chinua Achebe | The Dorothy & Lillian Gish Prize

Wikipedia fasst „Things fall apart“ zusammen: „Darin erzählt Achebe die Geschichte der nigerianischen Igbo in den 1890er Jahren. Der Bildungsroman schildert in realistischer Erzählweise im ersten Teil Wirtschaft, Kultur, Traditionen, Religion und Geschlechterverhältnisse einer Dorfgemeinschaft. In einem zweiten und dritten Teil werden die Auswirkungen der neuen christlichen und kolonialistischen Einflüsse auf das Dorfleben dargestellt.“

Das klingt ordentlich trocken. Eher wie eine akademische, anthropologische Abhandlung. Oder wie das Werk, das der britische District Commissioner als Krönung seines administrativen Lebenswerks zu schreiben gedenkt, sein Arbeitstitel: „The Pacification of the Primitive Tribes of the Lower Niger“.
„One must be firm in cutting out details.“

Ruhig und unaufgeregt, sachlich und ohne offensichtliche Wertungen, einfach und unprätentiös schreibt Chinua Achebe. Er läßt seinen Lesern Zeit nachzudenken. Sie können zu eigenen Einschätzungen und Wertungen kommen. Zugleich weiß man bereits nach der ersten Seite, dass man das Buch auf jeden Fall zu Ende lesen wird.

Vor der Ankunft der Missionare und Kolonialherren wird das Dorf als  Gemeinschaft geschildert. Es gibt Zusammenhalt, Solidarität, verbindliche gemeinsame Regeln. Wahrlich nicht alles ist einfach – Zwillinge zum Beispiel werden getötet, da sie als unheilvoll gelten -, aber es ist eine tatsächlich funktionierende, gemeinsam getragene Gemeinschaft.
Origin of Igbo tribe in Nigeria ▷ Legit.ng

Diese Basis wird von den christlichen Missionaren und Kolonisatoren untergraben. Der traditionellen Gemeinschaft gelingt es nicht, erfolgreich Widerstand zu leisten. Sie wird letztlich durch ihre eigenen Mechanismen zerstört. Es ist Sache der Götter, sich gegen eine andere, neue Religion zu wehren. Sobald die ersten Dorfbewohner zum Christentum übergetreten sind, kann man die Christen nicht mehr angreifen: Man kämpft nicht gegen Mitglieder der eigenen Familie. Und außerdem bietet die koloniale Zeit mehr Möglichkeiten, zu Wohlstand zu kommen – und Eigennutz war noch immer der Feind von Gemeinschaft.
Igbo People Language, Culture, Tribe, Religion, Women, Food, Masks

Die Hauptfigur des Romans, Okonkwo, der größte Krieger seines Dorfs, wohlhabend und sehr anerkannt in seiner Gemeinschaft, möchte die Kolonisatoren vernichten oder vertreiben, zur Not allein. Er sieht, dass sie die Gemeinschaft und alles, was ihm wichtig ist, zerstören. Als es darauf ankommt, macht sein Dorf aber nicht mit. Und gegen oder ohne seine Gemeinschaft  kann und möchte er dann doch nicht. Okonkwo kämpft nicht, er erhängt sich. Wie seine Gemeinschaft im übertragenen Sinne auch.

Erstaunliche Ironie dabei: Nur die Fremden können ihn abhängen und bestatten – seine Dorfgemeinschaft lässt ihn, der sie retten wollte, auch hier allein. Man braucht die Soldaten des District Commissioners. „It is against our custom. (…) It is an abomination for a man to take his own life. It is an offence against the Earth, and a man who commits it will not be buried by his clansmen. His body is evil, and only strangers may touch it. That is why we ask your people to bring him down, because you are strangers.“

Ein seltsames, fremdes Buch über uns.