One crimson thread. Micheal O’Siadhail

Diese Sammlung von Sonetten lässt sich nicht lesen, ohne berührt, betroffen, beeindruckt und verändert zu werden. Ich habe schon einiges von Micheal O’Siadhail gelesen, aber mit solchen Gedichten habe ich nicht gerechnet. „I read slowly, carefully and with deep emotion One Crimson Thread. It is a beautiful, beautiful but terribly sad poem of love.“

150 Sonette, ein Thema: Die Liebe zwischen ihm und seiner Frau Bríd vor dem Hintergrund der letzten zwei Lebensjahre seiner Frau, die schon seit 20 Jahren an Parkinson litt, danach auch unter Demenz.

Eine solche Themenwahl kann leicht schief gehen, kann voyeuristisch werden, gefühlsduselig, peinlich. Diese Klippen umschifft O’Siadhail mit seinen vielleicht besten und bestimmt persönlichsten Gedichten. Unter diesem Link findet sich ein Video, in dem O’Siadhail eines seiner Sonette liest.

Inhaltlich kann ich die Sonette nicht besser beschreiben, als dies ein Zitat von Joseph Heininger auf der Buchrückseite tut: „(…) Michael O’Siadhail explores how a devoted husband and wife respond and adjust when she is greatly altered by Parkinson’s disease, examining his states of mind and feeling, his daily adjustments, her changing personality, and finally his sorrow and brokenness at her death. Yet at the spiritual heart of this sequence are the ways in which the poems courageously show how the couple’s deep-rooted love searches for ways to overcome her debilitating illness, their fear and dread, and their eventual loss.“

Die Sprache, so scheint mir, ist das Gerüst, das O’Siadhail beim Schreiben über seine Gefühle geholfen hat, Stabilität zu bewahren. Die Worte sind einfach, viel weniger Fremd- oder ungewöhnliche Worte als in anderen seiner Gedichtbände. Auch der Satzbau ist eher schlicht. Vorsichtig schreibt er, tastend, aber auch sehr deutlich und unmittelbar, benennt die Dinge, berührt die Stellen, an denen es wehtut.

Und voller Dichtkunst, dicht zum Beispiel an der Reim- und Assonanz-Tradition irischer und walisischer Lyrik seit dem frühen Mittelalter, dicht vielleicht auch an der Qualität von Shakespeares Sonetten. Mit ausbleibendem Reim, je weiter weg ihm seine Frau vorkommt, je mehr er kämpft und verzweifelt ist.

Eine Zeile aus Sonett 150:
„The pain of loss the price of love we pay.“

Die Wirklichkeit der Bilder – Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts. Michael Baxandall

Was zeigt ein Bild aus der Renaissance? Wie haben die Zeitgenossen das Bild gesehen, wie es interpretiert? In „Die  Wirklichkeit der Bilder“ bietet Michael Baxandall Hilfestellungen für eine Annäherung.

Ein Bild kann nur verstanden werden – so Baxandall – auf der Basis von Konventionen, die dabei helfen, die Formen auf der zweidimensionale Fläche zu entschlüsseln. Kulturelle Konventionen, auch Training und Malerei hängen dabei eng zusammen: „(…) dass nämlich ein Bild sehr empfindlich reagiert auf die verschiedenen Arten der Interpretationskunst – Muster, Kategorien, Schlussfolgerungen und Analogien -, die man an es heranträgt. Die Fähigkeit, eine bestimmte Form oder Formbeziehung zu unterscheiden, wird Folgen haben für die Aufmerksamkeit, die der Betrachter einem Bild entgegenbringt. Wenn er beispielsweise darin geübt ist, auf proportionale Beziehungen zu achten, oder Erfahrung damit hat, komplexe Formen auf Verbindungen einfacher Formen zu reduzieren, (…) können ihm diese Fähigkeiten durchaus dazu verhelfen, seine Erfahrung von Piero della Francescas Verkündigung anders zu strukturieren als Menschen ohne diese Fähigkeiten (…).“  

Baxandall erläutert in seinem Buch, dass in den Reihen der Auftraggeber und des Publikums  Kaufleute waren. Sie waren geübt darin, unregelmäßige Gegenstände in ihren Volumina zu berechnen. Fokus ihrer Ausbildung lag auf Geometrie und Arithmetik. Aus diesem Grund – so die These – hatten sie ein ganz besonders Vergnügen, in den Bildern Formen von dreidimensionalen Körpern zu erkennen, die sie potenziell berechnen konnten. Mehr und mehr seien die Kunstfertigkeit der Maler, ihre Fähigkeit Perspektiven, Verkürzungen zu zeigen, an die Stelle von früher Image-trächtigem Gold oder Lapislazuli getreten.

Als weitere zeitgenössische „Kultur“-Quellen für die Bilder der Renaissance führt er auf:

  • die Figuren des Tanzes, die Gruppierungen der Personen in den Bildern beeinflussten
  • die Gesten, die in Predigten genutzt wurden, um das Gesagte zu unterstützen
  • und die Darstellung von Gefühlen in religiösen Schauspielen.

In der Renaissance war man der Auffassung, dass inneres, emotionales Erleben  seinen unmittelbaren Ausdruck im Äußeren eines Menschen zeigt, in Haltung, Mimik und Gestik. Besonderen Einfluss auf künstlerische Gestaltung differenzierter Gefühle hatte hierbei die Darstellung Marias während der Verkündigung. Fünf deutlich voneinander unterschiedene geistliche und emotionale Phasen Marias sollten erkennbar sein:

  1. Aufregung
  2. Überlegung
  3. Nachfragen
  4. Unterwerfung (unter den Willen Gottes)
  5. Verdienst (mit der Empfängnis).

 Bild in Originalgröße anzeigen

Dieses spannende, sehr gut lesbare Buch beruht auf Vorlesungen für Studierende. Deshalb setzt Baxandall kein spezielles Wissen voraus, bietet aber ein Handwerkszeug, um die Bilder der Renaissance neu und anders zu sehen. Man sollte das Buch einfach in den nächsten Toskana-Urlaub mitnehmen und sich in seinen Bann ziehen lassen.

Ein Zusammenfassung des Buchs bietet dieser Artikel der „Zeit“ hier. „Die Sichtweise Baxandalls auf die italienische Kunst des 15. Jahrhunderts stand am Anfang einer ganzen Forschungsrichtung über den Zusammenhang von Kunstwerken und der sie umgebenden sozialgeschichtlichen Realität. Anhand von Verträgen, Briefen und Rechnungen rekonstruiert der Autor im ersten Kapitel die Struktur des damaligen Gemäldehandels und die ökonomische Grundlage für die Anwendung verschiedener malerischer Techniken. Dann erläutert Baxandall, wie sich ganz unterschiedliche Erfahrungsbereiche – darunter das Predigen, das Tanzen und das Ausmessen von Fässern – im Schaffensprozess großer Kunstwerke wiederfinden.“ Zitat aus der Beschreibung des Verlags Klaus Wagenbach.

Michael Baxandall Michael Baxandall Telegraph

Michael Baxandall war ein britischer Kunsthistoriker (1933-2008). Er lehrte an vielen Universitäten der Welt. Seine Bücher zählen heute zu Klassikern der Kunstgeschichte: Giotto and the Orators, Painting and Experience in Fifteenth Century Italy, The Limewood Sculptors of Renaissance Germany, Patterns of Intention, Tiepolo and the Pictorial Intelligence, Shadows and Enlightenment und Words for Pictures. 

Die irische Aeneis. Übersetzt von George Calder

Wieder ein Beitrag aus der Serie obskurer Werke aus Irland. Irgendwann vor 1400 entstand in Irland eine der frühesten Adaptionen der Aeneis von Vergil in eine einheimische Sprache überhaupt. „Übersetzung“ wäre falsch, denn die Aeneis, auf Irisch „Imtheachta Aeniasa“ oder die „Fahrten des Aeneas“, wurde tatsächlich ver-irisch-t.

Aufgeschrieben ist dieses Werk im sogenannten Book of Ballymote, in dem sich auch andere klassische Werke in irischer Verkleidung wiederfinden, unter anderem eine äußerst faszinierende, ebenfalls sehr irische Version der Odyssee.

Es gibt eine ganze Reihe von Aspekten, die dieses Werk sehr interessant machen. Da ist zunächst wie erwähnt der sehr frühe Zeitpunkt der Adaption irgendwann im 14. Jahrhundert. Obwohl Dichtung in Irland weit verbreitet und gut etabliert war, wählte der Verfasser keine irischen Hexameter, sondern eine Prosaübertragung, eventuell um einen historisch-faktischen Charakter der Aeneis zu betonen.

Vor allem aber sticht die „Irisierung“ hervor.

Ein Keltologe, Edgar Slotkin, hat die Verfahrensweise des Verfassers so beschrieben: „His concern was not so much a translation from one language to another but from one culture to another (…) The Irish Aeneid is periphrastic. Words are not fixed, but nothing essential is omitted. (…) The substantial additions the translator made to the original are (…) not new themes or content, but native elaborations on content which he encountered there.“ Ein anderer Keltologe, Erich Poppe, beschreibt die irische Aeneis „as the product of the fusion of a developed vernacular stylistic and narrative tradition with a learned and historiographical interest in events of classical antiquity. (…) Imtheachta Aeniasa can tell its modern readers much about the mentality and interests of its medieval Irish audience, precisely because it departs characteristically from its source.“

Sprachlich macht sich die Irisierung dadurch bemerkbar, dass der Verfasser in bestem irischen Sagenstil schreibt: Die Vergil’schen Epitheta und Vergleiche verschwinden. Statt dessen finden sich viele Alliterationen und Aneinanderreihungen von wohlklingenden Synonymen. Auch gibt es die für irische Sagen typischen, etwas barock und floral anmutenden Beschreibungen von handelnden Personen.

Hierfür lohnt es sich, einige Beispiele zu geben.
Für die Beschreibung eines aussichtslosen Plans:
„is lam a nead nathrach, is lua fri broth & lem chind fri hall“,
auf Englisch: „it is a hand in a nest of serpents, it is a kick against goads and a dash of a head upon a rock“

Für  Alliterationen bei der Beschreibung von Personen:
„Ba suairc sochraidh sognimach saerchlanda socheniuil in ingen sain“,
auf Englisch: „That daughter was gentle, of beautiful form and good actions, free-born and noble.“

Und für eine längere Passage eine Beschreibung von Aeneas bei seiner ersten Begegnung mit Dido, nur in Englisch, wobei manche englische Worte etwas unpassend wirken – hierfür kann aber das irische Original nichts:
„Pleasant, comely, lovely, and well-born was the hero that came there – fair, yellow, golden hair upon him; a beautiful ruddy face he had; eyes deep-set, lustrous in his head like an image of a god, the expression which Venus, his mother, with love’s splendour, threw into his face, so that whoever looked upon him should love him.“

Gelesen habe ich die 1907 erstmals erschienene irisch-englische Ausgabe von George Calder, die recht gut als Nachdruck zu bekommen ist. Interessant ist der Text allemal. Sonst hätte ein anderer irischer Dichter, Seamus Heaney, nicht auch eine Übersetzung der Aeneis versucht.

How architecture works: A humanist’s toolkit. Witold Rybczynski

An anderer Stelle habe ich ein Buch über Andrea Palladio von Witold Rybczynski empfohlen. Allerdings: Nicht immer schreibt man auf demselben Niveau. Sein Buch „How architecture works“, ebenfalls mit – allerdings deutlich breiterem – Fokus auf Architekturgeschichte, ist eine Enttäuschung.

How Architecture Works: A Humanist's Toolkit von [Rybczynski, Witold]

Warum? Weil das Buch nichts von dem hält, was der Titel verspricht. Jedenfalls nicht bis zu der Seite, auf der ich dann ermattet das Lesen beendet habe (und ich war wirklich recht tapfer und lange dabei….). Der Grad an Abstraktion, um erklären zu können, wie Architektur funktioniert, wird nie erreicht, ein Toolkit nie abgeleitet. Statt dessen viele Details zu vielen Gebäuden und vielen Architektenbüros mit viel zu wenigen Illustrationen, von denen viele obendrein nicht das Gewünschte illustrieren.

Da mag ich auch nichts zitieren…

Schade, schade. Lag’s am Verlag? Zu wenig Zeit und Muße? Anspruch zu hoch geschraubt? Zu sehr vom vergangenen Erfolg verwöhnt?

Dennoch: Sein Buch über Palladio ist tatsächlich ausgezeichnet.

Helene Schjerfbeck – Die Malerin aus Finnland. Barbara Beuys

Da bleibt einem ja doch der Atem weg: Ein Ölbild gemalt von der 18jährigen Helene Schjerfbeck, es zeigt einen verwundeten Soldaten im Schnee liegend. Sehr beeindruckend! Helene Schjerfbeck? Hatte ich vorher noch nie gehört.

 

Keine Bilder von ihr hatte ich vor Augen. Und das trotz einer Ausstellung in der Schirn vor einigen Jahren…

Das Verdienst dieser Biografie von Barbara Beuys ist es, eine ganz beeindruckende Malerin auch in Deutschland bekannter zu machen. Schjerfbeck hat von 1862 bis 1946 gelebt. Sie hat in Finnland, anderen skandinavischen Ländern und  Frankreich viele Preise gewonnen.

Bildergebnis für helene schjerfbeck

 

Die Malerin: toll.

Die Biografie: nicht so sehr. Aber vielleicht liegt das auch an meinen eigenen Ansprüchen an gute Biografien. Ich möchte gerne mehr als ein erzähltes Leben, von den Eltern bis zum Grab. Mehr als Anekdoten aus dem Leben. Mehr als Zitate aus Briefen. Barbara Beuys hat eine sehr gut lesbare, interessante Biografie geschrieben, die sich gut wegschmökern läßt. Sie gibt außerdem einen guten Zugang zur finnischen Geschichte. Wer von uns ist hierin schon ganz firm? Weitere Informationen zur Malerin bietet auch FemBio.

Bildergebnis für helene schjerfbeck

Dass meine Lieblingsbiografien eher von Lyndall Gordon geschrieben sind, ist eine andere Sache. Aber empfehlen kann ich doch sehr – und sei es nur des Kontrastes wegen – ihre Biografien zu Viginia Woolf und zu Henry James.

front cover of Virginia Woolf: A Writer's Life,

The dream of reason: A history of Western philosophy from the Greeks to the Renaissance. Anthony Gottlieb

Lesbar und verständlich, überhaupt nicht flach, voller Einsichten, macht Spaß. Sieht nach ziemlich voller Punktzahl aus für den ersten Teil der Philosophiegeschichte von Anthony Gottlieb, der den Zeitraum von der griechischen Antike bis zur Renaissance umfasst.

Gottlieb denkt gerne selbst, hat Humor und kann schreiben. Das hat ihm schon dabei geholfen, Executive Editor des Economist und Gast-Fellow in Harvard und Oxford zu werden/zu sein. Das hilft dem Leser und der Leserin, sich mit  Anaxagoras, Sextus Empiricus, Duns Scotus und Pico della Mirandola genussvoll zu beschäftigen.

Beeindruckend, wie Gottlieb den Überblick behält zwischen den verschiedenen Philosophenschulen, ihren Spielarten, Vertretern, Nachfolgern, Gegnern, wie er Entwicklungslinien bis in die Gegenwart aufzeigt und nicht zuletzt, wie er immer wieder die Relevanz von Philosophie für die Naturwissenschaften, für die Technik, für das heutige Leben aufzeigt.

Das Vergnügen beginnt schon mit der Einleitung und dort im ersten Absatz: „The last thing I expected to find when I began work on this book, many years ago, is that there is no such thing as philosophy. Yet that, more or less, is what I did find, and it explained a lot. Determined to forget what I thought I knew, I set out to look at the writings of those from the past 2,600 years who are regarded as the great philosophers of the West. My aim (politely described by friends as ‚ambitious‘ when they often meant ‚mad‘) was to approach the story of philosophy as a journalist ought to: to rely only on primary sources, wherever they still existed; to question everything that had become conventional wisdom; and, above all, to try and explain it all as clearly as I could.“

Aristoteles fand ich persönlich immer etwas sperrig und spröde und abschreckend. Noch nie habe ich einen so guten Überblick über ihn bekommen wie in diesem Buch. Gottlieb hat es geschafft, dass ich fast (aber nur fast) einmal wieder etwas von ihm im Original lesen möchte.
Für über 1600 Jahre war er nicht nur in Philosophie und Logik – for better, for worse – das Maß der Dinge. Gottlieb:
„If Aristotle had never existed, it would be pointless to try to invent him. Nobody would believe that there could have been such a man, and quite right too. (…) his surviving works run to almost one and a half million words. There is good reason to think that this is no more than a quarter of what he wrote; all of his works that were polished for publication have been lost (…). Any credible description of the impressiveness of his work would be an Understatement. (…) The surviving works (…) include books dealing with ethics, political theory, rhetoric, poetry, constitutional history, zoology, meteorology, astronomy, physics, chemistry, scientific method, anatomy, the foundations of mathematics, language, formal logic, techniques of reasoning, fallacies, and other subjects (…)“

Unter den Philosophiegeschichten definitiv ganz weit vorne dieses Buch. Und auch der Folgeband scheint gelungen, wenn man den Rezensionen Glauben schenkt.

 

 

 

Abhandlung über das erste Prinzip. Johannes Duns Scotus

Kölner Lokalpatriotismus ist heute an der Reihe. Angedroht hatte ich ihn unauffällig schon an anderer Stelle. Thema also: Ein Hauptwerk von Johannes Duns Scotus, seine „Abhandlung über das erste Prinzip“, auf Latein „Tractatus de primo principio“.

Johannes Duns Scotus lebte in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Geboren in Schottland wurde er Franziskaner, starb mit etwa 40 Jahren und fand seine letzte Ruhestätte in Köln. Simple Quizfrage also für Kölner und Franziskaner: In welcher Kirche befindet sich sein Grabmal? Natürlich in der Minoritenkirche!

Leicht hatte er es also nicht immer, der Duns Scotus…

Andererseits hat er es seinen Lesern auch nicht leicht gemacht. Nicht nur sind seine Werke wegen der wohl auch für ihn überraschenden Kürze seines Lebens alle unvollständig und unfertig geblieben. Auch sollte man Logik, Metaphysik und Scholastik schon mögen, um jede Feinheit richtig goutieren zu können.

Für Einsteiger beschränke ich mich in Anbetracht der Außentemperaturen von aktuell über 30° auf zwei Aspekte. Der eine wird Unternehmensberater vor allem von McKinsey und deren Kunden interessieren. Der andere ist von allgemeinem Interesse und kann auch beim Hühnchen-Grillen im Freundes- und Familienkreis bedenkenlos zum Besten gegeben werden.

Wer McKinsey kennt, kennt MECE: „mutually exclusive, collectively exhaustive“. Das braucht man, um komplexe Themen trennscharf und vollständig in ihre Bestandteile zu zerlegen, die man dann anschließend der Reihe nach bearbeitet. Duns Scotus hat das zwar nur von Aristoteles gelernt, aber prägnant formuliert:
„Manifestatio vero divisionis tot requirit: primo, ut dividentia notificentur et sic ostendantur contineri sub diviso; secundo, ut dividentium repugnantia declaretur; et tertio, ut probetur dividentia evacuare divisum.“
Man merkt schon hier: Duns Scotus hat drei Kriterien, McKinsey nur zwei – da ist den Kollegen die Unterteilung nicht vollständig gelungen, also nicht MECE…
Auf deutsch in der Übersetzung von Wolfgang Kluxen (dessen Ausgabe ich – allerdings nur in Teilen – gelesen habe), die allerdings weniger klar ist als das Original:
„Die Darlegung einer Einteilung erfordert nun folgendes: Erstens, die Einteilungsglieder sind (begrifflich) zu bestimmen und von daher ist zu zeigen, daß sie im Eingeteilten enthalten sind; zweitens, es ist darzutun, daß die Einteilungsglieder sich ausschließen; und drittens, es ist nachzuweisen, daß die Einteilungsglieder das Eingeteilte ausschöpfen.“

Jetzt zum allgemein Interessanten: Was war zuerst, die Henne oder das Ei?
Als Scholastiker kann man diese Frage tatsächlich schlüssig beantworten, und zwar unabhängig davon, welche „ordo“, also welche Ordnung man verwendet, die des Vorranges oder die der Abhängigkeit (für die Grillparty: „ordo eminentiae“ oder ordo dependentiae“). Nach der Ordnung des Vorranges kommt die Henne zuerst, denn „was immer dem Wesen nach vollkommener und vorzüglicher ist, ist in diesem Sinne früher.“ Nach der Ordnung der Abhängigkeit gewinnt ebenfalls die Henne, denn ohne Henne wird aus dem Ei kein Huhn schlüpfen (zumindest nicht im relevanten Damals, als es noch keine Brutautomaten gab): Das Ei ist vom Huhn abhängig, nicht umgekehrt. Auf scholastisch:
„Prius secundum naturam et essentiam est quod contingit esse sine posteriori, non e converso.“ Oder: „Der Natur und dem Wesen nach früher ist, was wohl ohne das Spätere sein kann, nicht aber umgekehrt.“

So dass wir das jetzt auch endlich geklärt haben.

Das vollkommene Haus: Eine Reise mit dem italienischen Renaissance-Baumeister Andrea Palladio. Witold Rybczynski

Wenn ich „Das vollkommene Haus“ von Witold Rybczynski im Zusammenhang mit Andrea Palladio schon empfehle, dann kann ich das natürlich auch etwas ausführlicher tun.

Bas Buch verspricht „eine Reise mit dem italienischen Renaissance-Baumeister Andrea Palladio“. Das ist eine kolossale Untertreibung: Es sind in Wahrheit ganz viele sehr unterschiedliche Reisen, die Rybczynski kunstvoll miteinander verbindet, um ein sehr mehrdimensionaler Bild der Villen von Palladio entstehen zu lassen. Da gibt es die physische Reise, die den Autoren tatsächlich nach Norditalien geführt hat. Eine Reise durch die Entwicklung von Palladios Architektur verbunden mit dessen Biographie ist außerdem dabei, denn er beginnt mit einer der frühesten Villen, der Villa Godi, und endet mit der spätesten, der Villa Rotonda (eine Coda über die Villa Saraceno nicht mitgerechnet…). Nebenbei berührt er dabei auch die anderen Gebäudetypen, die Palladio errichtet hat. Nicht zu vergessen eine Fahrt durch die Architekturgeschichte von der Antike bis zu den Echos Palladios in der zeitgenössischen Architektur, die zugleich eine Weltreise ist. Ach so, ein sozialgeschichtliches Panorama wird nebenbei auch noch aufgespannt. Und vielleicht ist noch eine autobiographische Reise ist mit dabei.

Auf all diese Reisen begibt sich Rybczynski mit schlenderndem Gang, genüsslich schweifendem Blick, mußevoller Reflexion, humorvoll-plauderndem Ton und viel Sensibilität. Es reist sich leicht mit ihm.

Ebenso intuitiv wie überraschend ist der Ansatz Rybczynkis, dass die Villen Palladios ganz wesentlich zum Bewohnen gebaut wurden. Dieser Bewohnbarkeit von Gebäuden mit teils fast 10 Meter Deckenhöhe, palastartigen Portikus und anderen eher Distanz auslösenden Elementen spürt er nach. Daher betritt er auch Untergeschosse, die als Wirtschaftsräume genutzt wurden, klettert ins Obergeschoss, das als Getreidespeicher genutzt wurde und entdeckt, dass auf dem Bauplan einer Villa auch Toilettenräume eingezeichnet sind. Er vermisst die Proportionen der Räume, der Säulenstellungen, der Gebäude. Er lässt Raumfolgen auf sich wirken. Er bewohnt für mehrere Tage eine Villa mit Freunden. Sein Fazit ist der Buchtitel. Villen Palladios lassen sich für ihn beschreiben als „das vollkommene Haus“.

Es ist ein Gewinn, dass Rybczynski mit Sprache umgehen kann und auch abstraktere, technische Überlegungen  und Beschreibungen sehr plastisch werden lässt (und verdaubar macht). Ein Beispiel  zur Basilica in Vicenza:

„Goethe bezeichnete die Architektur als verstummte Tonkunst, was dieses außergewöhnliche Bauwerk gut beschreibt. Ich weiß nicht, welche Art von Musik Goethe hörte, als er die Basilika sah, aber ich höre Percussion – den großen Jazz-Drummer Philly Joe Jones, mein Jugendidol. Die hohen Halbsäulen bilden den stetigen Rhythmus der bass drum, den Palladio betont, indem er das extrem breite Kranzgesims durchbricht und über jedem Kapitell verkröpft. Die Statuen, die jede Halbsäule in Attikahöhe bekrönen, setzen einen hohen Beckenschlag. Die beiden Arkadengeschosse weisen leicht unterschiedliche Rhythmen auf, das römisch-dorische Untergeschoss ist mit seinem stakkatoartigen Fries stärker artikuliert, während das ionische Obergeschoss zarter und glatter wirkt. Am Ende des neunjochigen Gebäudes markiert ein Bündel aus drei Halbsäulen (bekrönt von drei Statuen) eine Pause – einen Trommelwirbel -, bevor sich der Rhythmus hinter der Ecke fortsetzt. Die Serlianabögen flechten einen gewundenen Backbeat, durchbrochen vom doppelten Tom-tom-Schlag der Oculi und den Rimshots der Schlusssteine in Markenform oder mascheroni.“

Von allen Büchern über Palladio, die ich bisher in der Hand hatte, hat dieses meine Wahrnehmung  am meisten verändert und am besten beschrieben.

Rybczynski, geboren 1943, ist ein kanadisch-amerikanisch-polnischer Architekt und Professor für Urbanistik. Sein Hauptthema: Wohnen.

Kurze Geschichte der Migration. Massimo Livi Bacci

Kurze Geschichte der Migration ist ein Buch von einem Statistiker. Nicht von einem Kulturwissenschaftler. Damit sind Themen und Argumente anders.

 

Worum geht es?

Bacci beschreibt die großen Bewegungen der Menschen weltweit seit der Ur- und Frühzeit bis heute. Als Basis dienen ihm Daten. Zahlen. Also welche Menschen gingen wann wohin? Was zeichnete sie aus? Welche Merkmale hatten die Gegenden, die sie verließen und welche diejenigen, wohin sie gingen?

Die Kernaussagen

Menschen sind immer gewandert. „Sich räumlich zu bewegen, ist eine Wesenseigenheit des Menschen, ein Bestandteil seines Kapitals, eine zusätzliche Fähigkeit, um seine Lebensumstände zu verbessern. Es ist diese tief im Wesen des Menschen verwurzelte Eigenschaft, die das Überleben der Jäger und Sammler, die Verbreitung der menschlichen Spezies über die Kontinente, die Verbreitung des Ackerbaus, die Besiedelung leerer Räume, die Integration der Welt und die erste Globalisierung im 19. Jahrhundert ermöglichte.“

Ihre Motivation war und ist es, das eigene Leben und das der Kinder zu verbessern. „Auf jeden Fall ist – wenn kein Zwang herrscht – der Grund für die Migrationsentscheidung eine komplexe Bilanz von Kosten und Nutzen, formuliert auf der Grundlage von  Erwägungen, die das Individuum, die Familie oder das Gemeinwesen, dem man angehört, betreffen. Zu dieser Bilanz gehört eine Mischung sicherer und unsicherer, gegenwärtiger und zukünftiger, materieller und ideeller Überlegungen, die sich nicht allein auf die ökonomische Komponente reduzieren lassen. Dennoch spielt diese ohne Zweifel eine Rolle: (…) Die Auswanderung ermöglicht einen Ausweg aus der Falle der Armut.“

Über Jahrhunderte waren die westeuropäischen Länder – auch das Gebiet, welches heute Deutschland ist – Auswanderungsregionen. Von hier aus wurde in viele Teile der Welt eingewandert.

Erst im 20. Jahrhundert kehrte sich dieser Trend um. Erst jetzt wurden europäische Länder das Ziel von Flüchtlingen und Einwanderern. Zitat: „Mit dem Fortschreiten des 20. Jahrhunderts verschwinden die Bedingungen, welche die großen Migrationen nach Übersee ermöglicht hatten. Bei den traditionellen Aufnahmeländern verebbt die Nachfrage an Arbeitskräften; von europäischer Seite geht das Angebot wegen Verlangsamung des demografischen Wachstums zurück. (…) Trotz der Entwicklung von Transport und Reisen, der Intensivierung der Kommunikation, des Wachstums der kulturellen Beziehungen und des größeren Wissens „entfernt“ sich Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Rest der Welt, den es zu bevölkern beigetragen hatte.“

Die Länder Europas brauchen Einwanderer, um in Zukunft ihren Lebensstandard halten zu können: „Es handelt sich also (im 21. Jh.) um eine Einwanderung, die auch Ersatzfunktion hat, dazu bestimmt ist, nicht nur das Wachstum der Bevölkerung zu unterstützen, sondern auch die Schwächung der Ökonomien des Kontinents aufzuhalten.“

Heute wünschen sich laut Bacci viele Menschen in den reichen, westlichen Ländern eine geschlossene Gesellschaft. Aber auch eine offene. Beides nicht zu sehr. Deshalb werden seiner Auffassung nach von politisch Verantwortlichen geeignete gesetzgeberische Anpassungen verschleppt: „Oder anders gesagt, die Europäer möchten eine geschlossenen Gesellschaft, aber sie sind gezwungen, sie zu öffenen, und laufen damit Gefahr, die schlimmste und schizophrenste aller Entscheidungen zu treffen: das heißt eine de facto offene Gesellschaft mit einer Politik zu verwalten, die für eine geschlossenen Gesellschaft entworfen wurde.“

Flüchtlinge gehen am 21.11.2015 an der deutsch-österreichischen Grenze nahe Wegscheid (Bayern) während eines Schneeschauers nach Deutschland. (dpa / picture alliance / Armin Weigel)
Flüchtlinge gehen am 21.11.2015 an der deutsch-österreichischen Grenze nahe Wegscheid (Bayern) während eines Schneeschauers nach Deutschland. (dpa / picture alliance / Armin Weigel)
Ein sehr informativer Beitrag des Deutschlandfunk zum Buch findet sich hier. Auszug: „Zwar fordert er, die Konventionen sowohl der Internationalen Arbeitsagentur wie der Vereinten Nationen zu ratifizieren, um die Rechte von Arbeitsmigranten zu stärken. Auch dürfe die Migrationspolitik innerhalb der Europäischen Union nicht nationalstaatlich bleiben, sondern sei EU-weit zu regeln. Doch die Entwicklungen der vergangenen Monate, etwa die neu gebauten Grenzzäune auf dem Balkan oder die Weigerung mehrerer osteuropäischer Staaten, muslimische Flüchtlinge aufzunehmen, zeigen: Von solchen Lösungen sind Europas Regierungen noch weit entfernt.“
Das Buch „Kurze Geschichte der Migration“ fasst auf 155 Seiten in 9 Kapiteln den demografischen Kenntnisstand zur Migration zusammen. Der Text ist außerordentlich gut lesbar. Hinter den Kapiteln folgen einige Übersichten zu den wichtigsten statistischen Erhebungen zum Beispiel zum Bestand der Migranten weltweit oder zur Bevölkerung der Welt nach Niveau der Entwicklung.

Massimo Bacci ist Professor für Demografie an der Universität von Florenz. Er hat zahlreiche Studien zur globalen Bevölkerungswanderung verfasst.

The Fishing Fleet – Husband-Hunting in the Raj. Anne de Courcy

Was tut eine junge Frau, wenn sie keinen Mann bekommt, weil es zu wenige Männer gibt?

Und wenn sie auf die standesgemäße Versorgung durch einen Ehemann angewiesen ist? Und wenn sie im England des 18. oder 19. oder frühen 20. Jahrhunderts lebt?

Ganz einfach: Sie geht dort hin, wo die Männer in der Überzahl sind. Nach Indien.

Ab dem späten 19. Jahrhundert, als die britische Herrschaft in Indien  (the Raj) ihren Höhepunkt hatte, gingen viele junge britische Männer nach Indien, wo sie als Administratoren, Soldaten oder Geschäftsleute arbeiteten. Zahllose junge Frauen folgten ihnen auf den neuen Dampfschiffen und über die neue, kürzere Reiseroute durch den Suez-Kanal. Man nannte diese jungen Frauen die „Fishing Fleet“: Töchter, die in England erzogen worden waren und nun nach Indien zurückkehrten, junge Frauen mit Einladungen von verheirateten Schwestern oder Freundinnen und viele, viele andere. Viele der jungen Frauen hatten nur ein Ziel: einen Mann zu finden. Möglichst schnell.

 Hier eine Hörprobe des Audio-Buchs.

Eines war sicher: Allein das Zahlenverhältnis von 1 jungen Frau auf 4 unverheiratete Männer stellte sicher, sie würden eine tolle Zeit haben. Im frühen 20. Jahrhundert gab es in all den größeren Zentren eine quirlige gesellschaftliche Szene: Bälle, Parties, Amateur-Theater-Aufführungen, Picknicks, Tennis-Parties, Kino, Elefanten-Ritte, Tigerjagden und luxuriöse Dinner bei befreundeten Maharadschas.

Aber nach der Hochzeit sah es häufig anders aus. Das Leben der jungen Frauen veränderte sich häufig auf dramatische Weise: Oft fanden sie sich gestrandet an einem einsamen Punkt in der Weite Indiens. Wenige oder keine Europäer waren in der Nähe, Krankheiten und Sterbefälle gehörten zum Alltag. Per Kamel oder Pferd ritten diese Frauen dann mehrere Stunden im hochgebundenen Abendkleid zu einem Ball oder zum Club. Für eine Zahnbehandlung waren nicht selten Reisen von 50 Stunden Dauer normal. Und dennoch: Viele Frauen des Raj hatten Augen und Ohren für den exotischen Zauber Indien. „The Fishing Fleet“ ist ihnen gewidmet.

Zum historischen Hintergrund hier History Today mit weiteren Informationen.

unnamed-1

Anne de Courcy  ist eine britische Schriftstellerin und Journalistin. Sie war in den 1970er Jahren Woman’s Editor der London Evening News, arbeitete danach für den Evening Standard und später die Daily Mail. Zu ihren ausgezeichneten Biografien gehören THE VICEROY’S DAUGHTERS, DIANA MOSLEY und DEBS AT WAR sowie SNOWDON.