Cleopatra’s needles: The lost obelisks of Egypt. Bob Brier

Für jeden etwas dabei in diesem Buch über die bewegte Geschichte der ägyptischen Obelisken: Das alte Ägypten und Kleopatra, das alte Rom mit Cäsar und Augustus, die Kirche mit ihren Päpsten, Bernini und Elefanten, Napoleon und seine Abenteuer im Orient, die Ingenieursmeisterleistungen und -Katastrophen der Italiener, Franzosen, Engländer und Amerikaner, die bürokratischen Freuden Ägyptens. Alles umrahmt, beschattet, gestützt von Obelisken und illustriert mit vielen guten Bildern.

Bob Brier ist Ägyptologe in den Vereinigten Staaten und ein echter Vielschreiber. Er schreibt gut lesbar, spannend, journalistisch. Vor allem hat er immer den Blick auf Stoffe, die sich gut verkaufen: Pyramiden, Mumien, Tutankhamun. Ab und zu – wie in seinem Buch über Tutankhamun – triumphiert die Liebe zur Sensationsgeschichte dann auch einmal über die wissenschaftliche Seriosität.

Die Geschichte der Obelisken erzählt Brier mit vielen interessanten Anekdoten und – nachvollziehbar – einem starken Fokus auf die Ingenieurskunst, die über die Jahrtausende eingesetzt wurde, um die riesigen, mehrere Hundert Tonnen schweren Obelisken zu meißeln, bewegen, transportieren und aufzurichten. Dabei ist es sehr faszinierend zu lesen, dass die Ägypter ihre Obelisken einfach vertikal auf Podeste gesetzt haben, ohne Mörtel, ohne alles, mit Stabilität über Tausende von Jahren. Danach hat sich das keiner mehr getraut. Auch beeindruckend: In der frühen Neuzeit sind die Ingenieure um Haaresbreite an dem gescheitert, was die Ägypter und Römer per Routine geschafft haben…

Etwas dünn wird Brier, wenn es darum geht zu erklären, was denn eigentlich die Bedeutung der Obelisken ausmachte – eigentlich erstaunlich bei einem Ägyptologen. Bei diesem Thema kann beispielsweise „Landscape and Memory“ von Simon Schama im Kapitel „Streams of Consciousness“ aushelfen (überhaupt ein erheblich substanzielleres und mindestens genauso gut geschriebenes Buch wie das von Brier…): „(…) that the obelisks were objects of religious adoration for the Egyptians, rays of the sun symbolized by pointed columns of stone.“

Als Leseprobe eine Passage über den Obelisken vom Luxor-Tempel, den die Franzosen nach Paris zur Place de la Concorde gebracht haben: „When the obelisk reached the center of gravity of the pivot point the restraining system was activated to slow ist descent. (…). Fifteen minutes later, it was safely resting on a platform built to receive it. With the obelisk down, Lebas, for the first time, could see the top of the pedestal and made a wonderful discovery. Pharaohs frequently chiseled out the names of previous owners on monuments they wanted to claim as their own, and Ramses was one of the most enthusiastic practitioners, so he knew it could happen to him. Before he erected his pair of obelisks in front of the Luxor Temple, he carved his name on the tops of the pedestals so that when the obelisks rested on the pedestal they covered the names and no one could get to them. It worked.“

Gelesen habe ich die noch nicht übersetzte Erstausgabe von 2016.

 

Memoirs of a Geisha. Arthur Golden

Diese Memoiren einer Geisha aus dem Japan der ersten Hälft des 20. Jahrhunderts sind eine ausgezeichnete Einführung für all diejenigen, die sich auf eine Japan-Reise vorbereiten oder generell japanische Kultur besser verstehen wollen. Die Lebensgeschichte ist erfunden. Eine kurze einführende Bemerkung des fiktiven Übersetzers erklärt den Lesenden, dass die Dame ihm ihre Erinnerungen erzählt hat. Dass er diese Erzählungen mit einem Kassettenrekorder aufgenommen und später übersetzt hat.

Die Geschichte, die Arthur Golden über seine Haupt-Figur Sayuri berichtet, liest sich unterhaltsam und spannend. Hierzu tragen die Ingredienzien bei: Feindschaften, Verschwörungen, der Kampf um Anerkennung, eine große Liebesgeschichte.

Arthur Golden, 1957 in Tennessee geboren, studierte in Harvard Kunstgeschichte mit dem Schwerpunkt japanische Kultur. Anschließend verbrachte er mehrere Jahre in Japan. Golden schreibt einfühlsam und lässt überzeugend die Innensicht einer Frau aus ganz anderen Kulturkreis entstehen. Der ganz große Vorteil dieses Romans ist jedoch seine fundierte Detail-Kenntnis. Auf diese Weise lernen die Leser unterhaltsam verpackt, was das Leben von Geishas in Kyotos Vergnügungsviertel Gion bis zum 2. Weltkrieg ausmachte.

„White makeup causes all sorts of curious illusions; if a geisha were to paint the entire surface of her lips, her mouth would end up looking like two big slices of tuna. So most geisha prefer a poutier shape, more like the bloom of a violet. Unless a geisha has lips of this shape to begin with – and very few do – she nearly always paints on a more circle-shaped mouth than she actually has. But as I have said, the fashion in those days was to paint only the lower lip …“

Sayuri stellt hierbei als Geisha der gehobensten Klasse einen Gegenpol zu Sayo Masuda dar. Siehe hierzu die Besprechung der authentischen „Autobiographie of a Geisha“.

Der Roman ist auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Die Geisha“ zu haben.

Metamorphosen: Der goldene Esel. Apuleius

Ein ziemlich unbekanntes, aber von der Antike über die Renaissance bis heute sehr einflussreiches Werk der Weltliteratur möchte ich dieses Mal empfehlen: Die „Metamorphosen“ von Apuleius – auch bekannt als „Der goldene Esel“ – ist einer der ältesten erhaltenen Romane der Weltliteratur und sicherlich nicht der schlechteste. Flott geschrieben, spannend, amüsant, nicht immer jugendfrei; so ziemlich das genaue Gegenteil von allem, was man häufig mit verstaubter, verquaster, vorgestriger lateinischer Literatur verbindet.

Apuleius lebte im zweiten nachchristlichen Jahrhundert. Er stammt aus dem heutigen Algerien, verbrachte dann einige Zeit unter anderem in Karthago, Athen und Rom, bevor er wieder nach Nordafrika zurückkehrte. Ihn als schillernde Persönlichkeit zu bezeichnen, ist eine deutliche Untertreibung. Neben den Metamorphosen ist von ihm eine Verteidigungsrede in eigener Sache überliefert; er war der Zauberei angeklagt…

Schillernd sind auch die Metamorphosen und umstritten. Das fängt schon bei der ausgesprochen kunstvollen, oft sehr kraftvollen, manchmal poetischen, immer flamboyanten Sprache an. August Rode, der den Roman in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts übersetzt hat, mochte das nicht: „des Apuleius Schreibart ist bei weitem nicht die beste. Er kettet ewig lange Perioden zusammen, ist sehr kostbar und schwülstig in seinem Ausdrucke, gebraucht unerhörte Wortfügungen und veraltete, ja wohl gar selbsterfundene Wörter und Redensarten.“

Schillernd auch, weil Generationen von Klassischen Philologen immer wieder an der Interpretation dieses Romans gescheitert sind, der wie ein Hase die deutungswütigen und Eindeutigkeits-suchenden Literaturwissenschaftler immer wieder durch einen überraschenden Haken hinter sich lässt. Für andere Leser macht gerade das einen erheblichen Teil des Reizes des Buchs aus.

Schillernd zumal wegen des Inhalts, in dem es um Zauberei, Isis-Kult, Verwandlungen, Abenteuer, Liebesgeschichten geht mit einem wenig heroischen Helden. Und dann gibt es noch die in den Roman eingebauten Geschichte von Amor und Psyche, die auch die bildende Kunst inspirierte und für sich alleine Weltliteratur ist. Diese Geschichte ist sogar heute noch vielen bekannt, ohne immer dabei zu wissen, von wem sie stammt und in welchen Zusammenhang sie gehört.

Für Schullateiner ist Apuleius auf Latein nichts, wenn sie nicht gerne ein Wörterbuch verwenden. Hier als eher leichtes Beispiel eine Partie aus der Geschichte von Amor und Psyche – Psyche wird zur vorgeblichen Eheschließung mit einem Drachen auf einen Felsen geführt:
„Itur ad constitutum scopulum montis ardui, cuius in summo cacumine statutam puellam cuncti deserunt taedasque nuptiales, quibus praeluxerunt, ibidem lacrimis suis extinctas relinquentes deiectis capitibus domuitionem parant. Et miseri quidem parentes eius tanta clade defessi, clausae domus abstrusi tenebris, perpetuae nocti sese dedidere. Psychen autem paventem ac trepidam et in ipso scopuli vertice deflentem mitis aura molliter spirantis Zephyri vibratis hinc inde laciniis et reflato sinu sensim levatam suo tranquillo spirito vehens paulatim per devexa rupis excelsae vallis subditae florentis cespitis gremio leniter delapsam reclinat.“

In der guten, wenngleich gelegentlich schwer altertümelnden Übersetzung von Brandt und Ehlers (Artemis & Winkler Verlag) liest sich dies so:
„Man geht zu der bestimmten steilen Bergklippe, stellt das Mädchen auf den höchsten Gipfel, und nun gehen alle hinweg, lassen die Hochzeitsfackeln, die vorangeleuchtet hatten und jetzt in ihren Tränen erloschen, an Ort und Stelle zurück und machen sich gesenkten Hauptes auf den Heimweg. Ihre armen Eltern selbst warf der furchtbare Schlag zu Boden, daß sie das Haus versperrten und in seinem Dunkel untertauchten, um sich beständiger Nacht zu befehlen. Psyche aber, die mit Furcht und Zittern oben auf dem Felsgipfel sich die Augen ausweinte, hebt sanft säuselnd ein linder Zephyrhauch mit flatternden Gewändern und geblähtem Bausch sacht empor, trägt sie in ruhigem Wehen gemächlich über die ragenden Berghänge und lehnt sie, da sie hinabgeglitten, im Tale drunten leise auf einen blühenden Rasenschoß.“

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Gelesen habe ich die bei Iohannes Maire in Leiden erschienene Ausgabe von 1623. Aktuellere Ausgaben auch in Deutsch sind aber problemlos verfügbar…

 

The Body in the Library. Agatha Christie

 

Einer meiner ausgesuchten Lieblingskrimis von Christie. Spannend, Einzelheiten, die langsam ein Bild ergeben, und dann doch eine Auflösung, die ganz anders ist als erwartet. Diese Detektiv-Geschichte ist ein richtig guter Schmöker.

Zum Inhalt: In der Bibliothek von Colonel und Mrs. Bantry wird eine sehr junge Frau mit sehr blond gefärbtem Haar erwürgt aufgefunden. Dolly Bantry und Miss Marple machen sich daran, herausfinden, wer der Mörder ist. Als Miss Marple dies weiß, weigert sie sich, den Namen preis zu geben. Denn genügend Beweise zu erhalten, erweist sich als schwierig.

Leseprobe: „Mrs. Bantry reflected a minute and then applied an urgent conjugal elbow to her sleeping spouse. „Arthur, Arthur, wake up.“ Colonel Bantry grunted, muttered, and rolled over on his side. „Wake up, Arthur. Did you hear what she said?“ „Very likely“, said Colonel Bantry indistinctly. „I quite agree with you, Dolly“, and promptly went to sleep again. Mrs. Bantry shook him. „You´ve got to listen. Mary came in and said that there was a body in the library.““

1942 erschienen ist „The Body in the Library“, deutsch „Die Tote in der Bibliothek“ der 31. Roman Christies. Die Figuren und ihre Interaktion sind etwas ganz Besonderes: Verschiedenste Altersgruppen, soziale Schichten und Vermögensverhältnisse sind verteilt auf die handelnden Personen. So gibt es den reichen Landadel (die Bantrys, alt), einen reichen Geschäftsmann (Jefferson, auch alt), Upper Class aber nicht Landadel und arm (Miss Marple), verarmte Geschäftsleute, Mittelklasse-Personen (Inspektor Slack, die Familie Reeves) und Personen am wenig geachteten Ende wie Josephine Turner (arm) und das erste Mordopfer Ruby. Ruby ist die zweitjüngste Figur, die jüngste ist Peter, der zur Upper Class gehört (ohne eigenes Vermögen). Auf diese Weise gibt der Roman ein gutes Bild der gesellschaftlichen Gepflogenheiten, im England der 30er Jahre.

Bildergebnis für agatha christie

Das Buch gibt es in einer sehr hektischen, dramatisierten Hörbuch-Version, die bestimmt ihren Unterhaltungswert auf einer langen Autofahrt hat: Hörprobe hier

Beschreibung: „A BBC Radio 4 full-cast dramatisation starring June Whitfield as the sharp-witted spinster sleuth. Dolly Bantry, mistress of Gossington Hall, is enjoying a pleasant doze when suddenly her dreams take a strange turn. The housemaid Mary is telling her that there is a body in the library. As she wakes up, it turns out to be true…. But who is the strange young blonde sprawled on the library floor? Enter St Mary Mead’s resident sleuth, Miss Mary Marple.“

Meine Lieblingsverfilmung, auf die ich nichts aber auch gar nichts kommen lasse, ist diese mit der wunderbaren Joan Hickson in der Rolle der Miss Marple.

Miss Marple - Die Tote in der Bibliothek Poster

Hier der Link zu den Krimi-Empfehlungen von Markus und Louisa und zu den besten Krimis von Agatha Christie.

Thirteen Guests. J. Jefferson Farjeon

Detektiv-Geschichte aus dem „goldenen Jahrzehnt“ der dreißiger Jahre in England: Ein junger Mann wird nach einem Unfall von einer schönen Unbekannten in ein Herrenhaus gebracht, welches gefüllt ist mit erstaunlich unpassenden Wochenendgästen. Auch die Schöne behält ihr Geheimnis.

„She had been described by her husband, now lying peacefully in his grave, as one of life’s most glorious risks, and he had consciously taken the risk when he married her. „Let her tear me to pieces“, he said on his wedding-day. She had done so. She had jolted him from heaven to hell. And he had never reproached her.“

Der junge Mann ist der 13. Gast. Die Atmosphäre ist unheimlich, eine heitere Wochenendstimmung will nicht aufkommen. Dann wird ein Porträt beschädigt, zwei Tote werden aufgefunden, Gift eines chinesischen Kochs kommt ins Spiel, außerdem eine zerbrochene Flasche, und eine Dame verschwindet….

J. J. Farjeon lebte von 1883 bis 1955. Er kam aus einer Literaten-Familie. Seine erste Detektiv-Geschichte, „The Master Criminal“, erschien 1924. Durch Alfred Hitchcock verfilmt wurde „No. 17“, veröffentlicht unter Farjeons Pseudonym Anthony Swift. „Thirteen Guests“ zeichnet sich durch detaillierte, ironische Charakterzeichnung aus. Die Sprache und das Erzähltempo atmen noch die Luft der 20er Jahre. Hierdurch wird die Geschichte amüsant. Spannend wird sie durch die Kombination von romantischen und unheimlichen Elementen.

Pictures & Photos from Nummer siebzehn (1932) Poster

Diese klassische englische Detektiv-Geschichte erschien 1936. Sie begründet neben Romanen von Bentley – „Trent’s Last Case“ – , Lord Gorell – „In The Night“ – und Agatha Christie – „The Mysterious Affair at Styles“ – das Setting der Country House Mysteries.

Hier gibt es Tipps zu den besten unbekannten Krimis…

Autobiography of a Geisha. Sayo Masuda

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Welche Rolle spielen Geishas in Japan? Welche gesellschaftliche Position haben sie? Der Beruf der Geisha hat seine Ursprünge in den Alleinunterhalterinnen bei Hof, die es seit dem 17. Jahrhundert in Japan gab. Sie waren Trendsetterinnen der Mode und ab dem 19. Jahrhundert zunehmend Bewahrerinnen der traditionellen Künste.

Die Autobiografie einer Geisha berichtet über das Leben am unteren Ende der Skala. Dort, wo Mädchen unter 10 Jahren von ihren Familien an reichere Menschen ausgeliehen werden , um dort als Kindermädchen zu arbeiten. Dort, wo Mädchen an Geisha-Häuser verkauft werden. Dort, wo Hunger und Schläge zum Alltag gehören und eine Geisha eine Prostituierte ist. Aus der ersten Arbeitsstelle des Kindes ist diese Leseprobe: „As for filling my stomach, I was entirely at the mercy of others for my meals. There was a chipped bowl that they left under the sink in the kitchen into which they put their leftover rice and soup. If there were lots of leftovers, then even with just that one bowl I´d be full; but if nothing had been left, then that was that.“

Die Autorin erzählt, wie sie an ein Geisha-Haus verkauft wird, dort als Novizin in Tanz und Musik Unterricht erhält und zu verstehen versucht, worin die Aufgabe von Geishas besteht. Sie berichtet, dass Geishas in der Regel 10 Jahre lang für das Haus, welches sie gekauft hatte, arbeiteten. In den ersten Jahren gingen all ihre Einkünfte dort hin, später konnten sie die Trinkgelder selbst behalten.

Porträt einer Geisha, die traditionell geschminkt ist

„I did my best to live by that creed of resignation, but in the Geisha business it isn´t just to do as you´re told; you have to make a real effort. To make everyone, everywhere in your presence, feel that you´re sexy requires constant care and attention.“

Sayo Masuda wurde 1925 geboren. Sie ging nie zur Schule und konnte deshalb nicht schreiben. Ein Liebhaber hat ihr die einfache japanische Schrift beigebracht, die Kinder als erstes in der Schule lernen. Sie hat sich, um Geld zu verdienen, bei einem Wettbewerb beteiligt, den ein Hausfrauenmagazin ausgeschrieben hatte. Sie erhielt den zweiten Preis und ihr Text wurde 1957 veröffentlicht. Der im Buch vorliegende Text orientiert sich möglichst eng an dem ursprünglichen japanischen Original-Text, so wie er durch Sayo Masuda formuliert wurde. Die Autobiografie ist chronologisch aufgebaut. Sie beginnt mit der Arbeit des Kindes als Kindermädchen, berichtet von der Ausbildung zur Geisha, der täglichen Arbeit und den Versuchen, auszubrechen und ein anderes Leben aufzubauen.

 

El informe de Brodie. Jorge Luis Borges

Jorge Luis Borges gilt als einer der besten Schriftsteller Argentiniens. Er ist auch in Deutschland recht bekannt und geschätzt. So arbeitet denn auch der Hanser-Verlag an einer zwölfbändigen Werkausgabe (20 Bände als Taschenbuch) von ihm in deutscher Sprache.

Gelesen habe ich eine Sammlung von Erzählungen unter dem deutschen Titel „David Brodies Bericht“, die 1970 erschienen ist.

Sparsam schreibt Borges: lieber ein Wort weniger als ein Wort zu viel. Und von bodenständiger Sorgfalt: die richtigen, unmarinierten Worte an der richtigen Stelle. Und mit Distanz: Emotional aufgeladen oder gar spannend sind die Erzählungen nicht.
Gerne und häufig verwendet er den Topos, dass der Erzähler etwas wiedergibt, was er aus einer anderen Quelle gehört oder gelesen hat. Dabei erwähnt er dann auch gerne, ob diese Quelle vertrauenswürdig ist und ob er selber etwas geändert hat.
Offensichtlich sind seine Erzählungen nicht: Als Leser muss (und kann) man sich seine eigenen Gedanken darüber machen, warum Borges diese Erzählung geschrieben hat oder warum sie relevant ist. Dadurch sind sie durchaus ein wenig  geheimnisvoll.
Und belesen ist Borges. Das merkt man besonders an der namensgebenden Erzählung „El informe de Brodie“, die deutlich von Swifts Gullivers Reisen inspiriert ist, aber sicher auch in der Tradition der „Wahren Geschichten“ von Lukian steht.

Für mich ist Borges ein Autor, den man gut in Übersetzung lesen kann, da seine Sprache so präzise und unprätentiös ist. Gelesen habe ich eine spanisch-sprachige Taschenbuchausgabe von 1980.

Leseprobe aus der Titelerzählung zur Sprache der Yahoos:
„El idioma es complejo. No se asemeja a ningún otro de los que yo tenga noticia. No podemos hablar de partes de la oración, ya que no hay oraciones. Cada palabra monosílaba corresponde a una idea General, que se define por el contexto o por las visajes. La palabra nrz, por ejemplo, sugiere la dispersión o las manchas; puede significar el cielo estrellado, un leopardo, una bandada de aves, la viruela, lo salpicado, el acto de desparramar o la fuga que sigue a la derrota. (…) Pronunciada de otra manera o con otros visajes, cada palabra puede tener un sentido contrario. No nos maravillemos con exceso; en nuestra lengua, el verbo to cleave vale por hendir y adherir.“
In der englischen Übersetzung von Andrew Hurley von 1998:
„Their language is complex, and resembles none other that I know. One cannot speak of „parts of speech“, as there are no sentences. Each monosyllabic word corresponds to a general idea, which is defined by ist context or by facial expressions. The word nrz, for example, suggests a dispersion or spots of one kind or another: it may mean the starry sky, a leopard, a flock of birds, smallpox, something splattered with water and mud, the act of scattering, or the flight that follows defeat. (…) Pronounced in another way, or with other facial expressions, it may mean the opposite. We should not be overly surprised at this: in our own tongue, the verb to cleave means to rend and to adhere.“

The Dark Box: A Secret History of Confession. John Cornwell

Dieses Buch von John Cornwell beschreibt nicht nur die historische Entwicklung der Beichte, sondern beschäftigt sich auch mit den Risiken und Nebenwirkungen von Beichte und Priesterausbildung in der katholischen Kirche, insbesondere mit den Missbrauchsfällen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte.

Cornwell macht von Anfang an deutlich, dass er als ehemaliger Priesteranwärter und Missbrauchsopfer einen potenziellen Interessenkonflikt hat. Seine Argumentation im Buch ist dann aber so klar, fundiert, mit Quellen hinterlegt und auch so unpolemisch, dass seine persönlichen Erfahrungen einen Gewinn für Qualität und Relevanz des Buchs haben.

Cornwell strukturiert das Thema in die Teile:

  • A Brief history of confession
  • The child penitents
  • „Soul murder“.

Gut gelungen ist die historische Darstellung der Beichte im ersten Teil. Cornwell beschreibt sie dabei nicht in jedem Detail mit jeder minutiösen Änderung im Laufe der Jahrhunderte. Vielmehr fokussiert er auf wesentliche Entwicklungsstufen. Dabei gibt es viel Überraschendes vor allem aus der Frühzeit des Christentums zu entdecken, aber auch z.B. die Geschichte der Erfindung des Beichtstuhls als Möbel durch Borromeo.

Besonders wichtig für die genannten Risiken und Nebenwirkungen sind dann die im zweiten Teil ausführlich beschriebenen Reformen von Pius X.

  • Anfang des 20. Jahrhunderts führte er ein, dass eine Beichte täglich abzulegen sei, und legte de facto fest, dass auch Kinder im Alter von 7 Jahren zur Beichte gehen mussten – dies wiederum bedeutete, dass sie mit 5 oder 6 Jahren darin unterrichtet werden mussten, was denn alles in den Sündenkatalog gehört.
  • In seinem Bestreben, modernistischen Tendenzen entgegenzuwirken und Priesteranwärter von schädlichen Einflüssen der Welt fernzuhalten, führte er auch eine Priesterausbildung unter gefängnis-artigen Rahmenbedingungen ein, in der betont konservative moraltheologische Auffassungen unterrichtet wurden, wie zum Beispiel im englischsprachigen Raum basierend auf der „Moral and Pastoral Theology“ von Henry Davis (die man als Reprint noch kaufen kann).

Der dritte Teil, in dem es vor allem um die Missbrauchsfälle geht, ist sensibel und zum Glück nicht reißerisch geschrieben. Er bietet Fakten und Zahlen. Er beleuchtet die Perspektive von Opfern, Tätern und Kirche, ohne immer gleich urteilen zu wollen.

Insgesamt ein gutes und wichtiges Buch, das gut lesbar ist und eher journalistisch als wissenschaftlich geschrieben ist.  Hätte ich mir etwas wünschen können, so wären es vielleicht noch etwas mehr Details und Nuancen zur Geschichte der Beichte gewesen.

Leseprobe:
„His (= Pius X) first priority in bolstering priesthood worthy of its ministries was to transform the seminaries. He was convinced that the Church’s internal problems stemmed, in part, from poor initial training. He ordered a monastic-style regime to ensure life-long holiness and dedication. Seminaries were destined to become highly disciplined hothouses shut off from the world and its corruptions and temptations. Seminarians were obliged to wear cassocks and Roman collars at all times, and their vacations at home were severely curtailed, since they might otherwise breathe a secular, less clerical air.“

Gelesen habe ich die Ausgabe von 2014. Eine deutsche Übersetzung gibt es nicht.

Goethe und Frau von Stein: Geschichte einer Liebe. Helmut Koopmann


Da ich sowieso gedanklich schon auf die Zeit um 1800 eingestellt war, fiel meine Wahl des nächsten Buchs auf „Goethe und Frau von Stein“ von Koopmann, erstmals erschienen 2002 – ein etwas leichterer Stoff, fern von Politik und Feldzügen.

Die große Liebe von Goethe und vielleicht die große Liebe von Charlotte von Stein ist Gegenstand von etwa 1700 Briefen, Billets, Notizen…, die Goethe in mehr als zwölf Jahren an sie schrieb. Die Briefe von Charlotte von Stein sind unzählig, da sie sie am Ende ihrer Liebe von Goethe zurückverlangt und Jahre später dann verbrannt hat. Hinzu kommt dieses Buch mit seinen 260 Seiten.

Das Buch, obwohl von einem Professor der Neueren Deutschen Literatur verfasst, ist nicht wissenschaftlich, sondern essayistisch geschrieben. Bei diesem essayistischen Schreiben scheint Koopmann sich strukturell und sogar sprachlich sehr an Goethe und dessen Briefen zu orientieren. Wie Goethe immer wieder auf unterschiedlichste Weise dasselbe an von Stein schreibt, variiert auch Koopmann immer wieder seine Darstellung derselben Beobachtungen, Analysen und Wahrnehmungen. Das hilft sehr, sich in die Beziehung hinein zu fühlen, zumal Koopmann dies mit Sensibilität tut. Es kann aber – wenn man denn nicht gerade wie Koopmann mitliebt – auch gelegentlich redundant wirken. Wissenschaftlich gesehen läuft Koopmann immer wieder Gefahr, zu vieles, was Goethe in seinen Briefen schreibt, prophetisch für spätere Lebensphasen zu halten, und alles, was Goethe sonst geschrieben und getan hat, vor allem aus seiner Liebesbeziehung zu Charlotte von Stein heraus zu interpretieren. Das Gras wächst mitunter recht laut.

Bei allen kritischen Anmerkungen in Summe ein gelungenes Buch, das man mit Gewinn flott lesen kann.

Als Leseprobe eine Partie zu dieser Zeichnung, die Goethe 1777 von Charlotte von Stein anfertigte:

„Das Entscheidende wird naturgemäß nicht sichtbar: ihre Augen, die es Goethe so sehr angetan haben. Man sieht es der Abgebildeten an, daß sie über dreißig Jahre alt ist, wenngleich es ein eigentümlich altersloses Porträt ist – Jugendlichkeit und Heiterkeit fehlen gänzlich, und von Lebenslust ist ebensowenig eine Spur zu erblicken. (…) Ein etwas verhärmtes Hofdamendasein, was sie dem Bild zufolge geführt haben mag, und sieht man sich dieses Porträt genauer an, versteht man, warum Goethes wildes Wesen sie (…) abstoßen mußte (…) Innere Disziplin und Zurückhaltung prägen dieses Antlitz, und man hat Mühe zu verstehen, warum Goethe sich so leidenschaftlich und so lange in sie verliebt hat.“

Sarahs Gesetz. Silvia Bovenschen

Eine Künstlerbiografie und die Geschichte einer Liebe zwischen zwei Frauen und ein bisschen Biografie der Autorin…

„Sarahs Gesetz“ ist ein merkwürdiges Buch. Es ist in wunderbar essayistischem Stil geschrieben, gespickt mit Anekdoten und schönen, kleinen Erzählungen. Bovenschen beschreibt die Lebensgeschichte von Sarah, ihrer Freundin. Sie erzählt aber nur dasjenige, was die andere irgendwann einmal freiwillig erzählt hat oder was die Autorin in der gemeinsamen Zeit direkt mit erleben konnte. Dabei gerät die Erzählung über die Freundin zur Erzählungen über zwei Leben und eine gegenseitige Liebe.

Sarah ist in „Sarahs Gesetz“ die Malerin Sarah Schumann, die Freundin und Titel-Person. Der erzählte Rückblick geht bis zur Flucht in den letzten Kriegsjahren zurück, weilt in der Zeit der späten 1970er Jahre und kommt an in der Gegenwart. Nachhallende Erinnerungen und erinnerte Gefühle, Vergleiche mit der Gegenwart.

Leseprobe: „Warum ist mir nicht aufgefallen, dass meine Mutter so gern von ihrer Mutter, aber nie von ihrem Vater sprach? Warum habe ich sie nie nach ihm gefragt? Warum ist mir die Aussparung nicht aufgefallen? Die Ausrede, dass die Jugend nur Zukunft will und sich in seltensten Fällen für die Vergangenheit Älterer interessiert, greift nicht, denn auch später fragte ich nicht, als ich schon erwachsen war. So konnte es sein, dass ich den Grund, warum sie mir nicht von ihm sprach, erst Jahre nach ihrem Tod erfuhr.“