Goethe und Frau von Stein: Geschichte einer Liebe. Helmut Koopmann


Da ich sowieso gedanklich schon auf die Zeit um 1800 eingestellt war, fiel meine Wahl des nächsten Buchs auf „Goethe und Frau von Stein“ von Koopmann, erstmals erschienen 2002 – ein etwas leichterer Stoff, fern von Politik und Feldzügen.

Die große Liebe von Goethe und vielleicht die große Liebe von Charlotte von Stein ist Gegenstand von etwa 1700 Briefen, Billets, Notizen…, die Goethe in mehr als zwölf Jahren an sie schrieb. Die Briefe von Charlotte von Stein sind unzählig, da sie sie am Ende ihrer Liebe von Goethe zurückverlangt und Jahre später dann verbrannt hat. Hinzu kommt dieses Buch mit seinen 260 Seiten.

Das Buch, obwohl von einem Professor der Neueren Deutschen Literatur verfasst, ist nicht wissenschaftlich, sondern essayistisch geschrieben. Bei diesem essayistischen Schreiben scheint Koopmann sich strukturell und sogar sprachlich sehr an Goethe und dessen Briefen zu orientieren. Wie Goethe immer wieder auf unterschiedlichste Weise dasselbe an von Stein schreibt, variiert auch Koopmann immer wieder seine Darstellung derselben Beobachtungen, Analysen und Wahrnehmungen. Das hilft sehr, sich in die Beziehung hinein zu fühlen, zumal Koopmann dies mit Sensibilität tut. Es kann aber – wenn man denn nicht gerade wie Koopmann mitliebt – auch gelegentlich redundant wirken. Wissenschaftlich gesehen läuft Koopmann immer wieder Gefahr, zu vieles, was Goethe in seinen Briefen schreibt, prophetisch für spätere Lebensphasen zu halten, und alles, was Goethe sonst geschrieben und getan hat, vor allem aus seiner Liebesbeziehung zu Charlotte von Stein heraus zu interpretieren. Das Gras wächst mitunter recht laut.

Bei allen kritischen Anmerkungen in Summe ein gelungenes Buch, das man mit Gewinn flott lesen kann.

Als Leseprobe eine Partie zu dieser Zeichnung, die Goethe 1777 von Charlotte von Stein anfertigte:

„Das Entscheidende wird naturgemäß nicht sichtbar: ihre Augen, die es Goethe so sehr angetan haben. Man sieht es der Abgebildeten an, daß sie über dreißig Jahre alt ist, wenngleich es ein eigentümlich altersloses Porträt ist – Jugendlichkeit und Heiterkeit fehlen gänzlich, und von Lebenslust ist ebensowenig eine Spur zu erblicken. (…) Ein etwas verhärmtes Hofdamendasein, was sie dem Bild zufolge geführt haben mag, und sieht man sich dieses Porträt genauer an, versteht man, warum Goethes wildes Wesen sie (…) abstoßen mußte (…) Innere Disziplin und Zurückhaltung prägen dieses Antlitz, und man hat Mühe zu verstehen, warum Goethe sich so leidenschaftlich und so lange in sie verliebt hat.“

Sarahs Gesetz. Silvia Bovenschen

Eine Künstlerbiografie und die Geschichte einer Liebe zwischen zwei Frauen und ein bisschen Biografie der Autorin…

„Sarahs Gesetz“ ist ein merkwürdiges Buch. Es ist in wunderbar essayistischem Stil geschrieben, gespickt mit Anekdoten und schönen, kleinen Erzählungen. Bovenschen beschreibt die Lebensgeschichte von Sarah, ihrer Freundin. Sie erzählt aber nur dasjenige, was die andere irgendwann einmal freiwillig erzählt hat oder was die Autorin in der gemeinsamen Zeit direkt mit erleben konnte. Dabei gerät die Erzählung über die Freundin zur Erzählungen über zwei Leben und eine gegenseitige Liebe.

Sarah ist in „Sarahs Gesetz“ die Malerin Sarah Schumann, die Freundin und Titel-Person. Der erzählte Rückblick geht bis zur Flucht in den letzten Kriegsjahren zurück, weilt in der Zeit der späten 1970er Jahre und kommt an in der Gegenwart. Nachhallende Erinnerungen und erinnerte Gefühle, Vergleiche mit der Gegenwart.

Leseprobe: „Warum ist mir nicht aufgefallen, dass meine Mutter so gern von ihrer Mutter, aber nie von ihrem Vater sprach? Warum habe ich sie nie nach ihm gefragt? Warum ist mir die Aussparung nicht aufgefallen? Die Ausrede, dass die Jugend nur Zukunft will und sich in seltensten Fällen für die Vergangenheit Älterer interessiert, greift nicht, denn auch später fragte ich nicht, als ich schon erwachsen war. So konnte es sein, dass ich den Grund, warum sie mir nicht von ihm sprach, erst Jahre nach ihrem Tod erfuhr.“

The Solitary Summer. Elizabeth von Arnim

So kalt und nass und biestig war das Wetter in den letzten Wochen, dass ich durch geschickte Auswahl meines Lesestoffes auf wärmere und positivere Gedanken kommen wollte. Und um auf Nummer Sicher zu gehen, habe ich ein „Buch für trübe Tage“ wieder vorgenommen, dass ich schon zweimal gelesen habe. Da konnte dann nichts schief gehen.

The Solitary Summer – in deutscher Übersetzung wahlweise „Ein Sommer im Garten“, „Sommer ohne Gäste“ oder „Einsamer Sommer“ – ist der zweite, 1899 erschienene Roman von Elizabeth von Arnim, die Mary Ann Beauchamp hieß, bevor sie Henning August von Arnim-Schlagenthin heiratete und anonym ihren ersten Roman mit dem Titel „Elizabeth and Her German Garden“ veröffentlichte. Beides, das „von Arnim“ und „Elizabeth“, blieben haften.

Elizabeth von Arnim ist ein Phänomen: Sie schreibt Unterhaltungsliteratur mit viel Tiefe und nachdenkliche Bücher wie Unterhaltungsliteratur; sie schreibt heitere Bücher mit viel Traurigkeit und umgekehrt traurige Bücher mit viel Heiterkeit. Passend zu ihrem Leben, in dem sehr vieles nicht glatt lief und für das das Motto „Trotzdem“ gut gepasst hätte. Dies, kombiniert mit einem Schreibstil wie ein gelungenes Soufflé, macht ihre Bücher zu einem echten Gewinn.

Das Motto des Romans nimmt von Arnim von Montaigne: „Nature nous a estrenez d‘ une large faculté à nous entretenir à part; et nous y appelle souvent, pour nous apprendre que nous nous debvons en partie à la societé, mais en la meilleure partie à nous.“

Etwas zu Rosamunde Pilcherig oder Hedwig Courths-Mahlerisch der deutsche Klappentext, jedoch auch nicht komplett unangemessen: „Fernab von Störenfrieden und Eindringlingen, ohne Ehemann und Kinder, ohne Gäste und Verpflichtungen, jeden Tag nur für sich die Schönheiten des Gartens und die Wunder der Natur genießen – und dabei die üppige, feuchte Erde umgraben, Rabatten anlegen, Blumen pflanzen, gießen, rechen, jäten und mähen. Wie herrlich erscheint Elizabeth diese Vorstellung! Doch Hindernisse sind selbstredend vorprogrammiert: Nicht nur steht ihr der hauseigene Gärtner im Weg – für die gnädige Dame schickt es sich nun einmal gar nicht, den Garten selbst zu bestellen –, bald schon ist es auch mit der ersehnten Ruhe dahin, die sie wenn schon untätig, dann möglichst ungestört genießen wollte …“

Als Leseprobe das Programm für den Sommer vom Anfang des Buchs:
„Last night after dinner, when we were in the garden, I said, ‚I want to be alone for a whole summer, and get to the very dregs of life. I want to be as idle as I can, so that my soul may have time to grow. Nobody shall be invited to stay with me, and if any one calls they will be told that I am out, or away, or sick. I shall spend the months in the garden, and on the plain, and in the forests.'“

Gelesen habe ich die sehr schön illustrierte englisch-sprachige Ausgabe von Macmillan aus dem Jahr 1929. Wie geschrieben, deutsche Übersetzungen gibt es auch – aber dennoch lieber in Englisch. Schul-Englisch reicht! Gut für alle trüberen Tage – hinterher geht es einem garantiert besser!

Auch empfehlenswert die Biographie von Karen Usborne.

Japanische Literatur: Snow Country. Yasunari Kawabata

Dieser moderne Klassiker der japanischen Literatur ist kalt wie der Schnee und heiß wie die Liebe. Und so wie kalt und heiß nicht zusammenpassen, ist eine Liebesgeschichte, die in dieser Schneelandschaft spielt, zum Scheitern verurteilt. In diesem kurzen Roman beschäftigt sich der reiche Shimamura zu seinem Vergnügen mit dem westlichen, klassischen Ballett. Hierfür ist er ein ausgewiesener Experte; dennoch hat er noch niemals eine Aufführung gesehen. Dies möchte er auch nicht. Komako hatte sich bei ihrer ersten Begegnung in Shimamura verliebt. Während er bei Frau und Kindern war, ist sie zu einer Geisha geworden.

Die Sprache ist knapp und voller Anspielungen. Das Ausgesprochene und das Nicht-Verbalisierte halten sich die Schwebe. Beschreibungen der eisigen Landschaft ersetzen zum großen Teil die Beschreibung von Gefühlen. Nur hin und wieder erfahren die Lesenden etwas von Shimamuras Gedanken. Komako bleibt unerklärt. „It was a stern night landscape. The sound of the freezing snow over the land seemed to roar deep into the earth. There was no moon. The stars, almost too many of them to be true, came forward so brightly that it was as if they were falling with the swiftness of the void.“

Snow Country“ ist von 1956. Die Sprache ist in den Dialogen knapp, beinahe fühlt man sich an Beckett erinnert: „Shimamura put his hand to the woman´s throat. „You´ll catch cold. See how cold it is.“ He tried to pull her back, but she clung to the railing. „I´m going home.“ Her voice was choked. „Go home, then.“ „Let me stay like this a little longer.“ „I´m going down for a bath.“ „No, stay here with me.“ „If you close the window.““

Yasunari Kawabata  war ein japanischer Schriftsteller, geboren 1899, gestorben ist er durch Selbsttötung 1972. Er hat 1968 den Nobelpreis gewonnen. „Snow Country“ war eines der Werke, die die Jury in ihrer Begründung erwähnt hat.

In der Bibliografie von „Kissing the Mask“ von Willam Vollmann – siehe den Beitrag hierzu – habe ich gelesen, dass es ein Buch gibt, das die Geschichte Kawabatas neu erzählt, nämlich aus der Sicht Komakos. Diese Idee finde ich sehr reizend. Für alle, die sich für Japan und japanische Kultur interessieren, ist „Snow Country“ ein schönes, sehr lesenswertes Buch. Gelesen habe ich die Übersetzung aus dem Japanischen von Edward G. Seidensticker. Den Roman gibt es auch in einer deutschen Übersetzung mit dem Titel „Schneeland“.

Old Filth. Jane Gardam

Ein erfreuliches Buch: intelligent, gut geschrieben, präzise, lebensklug, wort-sparsam, leise-humorvoll.  Seit längerer Zeit das erste Mal, dass ich die positiven Zitate aus Rezensionen in englischen Zeitungen, die im Buch mit abgedruckt sind, nicht nur Marketing-Sprech, sondern passend und zutreffend finde. Inhalt: Die Lebensrückschau eines alt gewordenen Richters von seiner Geburt bis zu seinem Lebensende; von Malaysia über Wales und England nach Hongkong und Singapur, zurück nach England und wieder nach Singapur. Auch eine Liebesgeschichte, vielleicht ein wenig auch ein Krimi, jedenfalls ein Buch über das Leben und was es mit einem macht.

Es ist gar nicht so einfach, eine gute Leseprobe zu finden. Alle zu kurz und zu wenig typisch.
„Amazed, as she never ceased to be, about how such a multitude of ideas and images exist alongside one another and how the brain can cope with them, layered like filo pastry in the mind, invisible as data behind the screen, Betty was again in Orange Tree Road, standing with (…) old friends in the warm rain, and all around the leaves falling like painted raindrops. (…) The sense of being part of elastic life, unhurried, timeless, controlled. And in love. (…) Betty’s eyes filled with tears, misting her glasses. Time gone. (…) Trowel in hand, a bit tottery, she turned to look up the garden at Filth.“

Old Filth ist wieder eine Neuerscheinung, die es schon länger gibt. Erschienen in England im Jahr 2004 gibt es das Buch seit August 2015 unter dem piefigen Titel „Ein untadeliger Mann“ auch in deutsch. Aufmerksam geworden bin ich auf das Buch durch eine Rezension in der „Zeit„, in der auch erklärt wird, dass Filth für „failed in London, try Hongkong“ steht. Und dass es sich um den ersten Band einer Trilogie handelt. Und dass man auf die nächsten Bände noch warten müsse. Dem sei hinzugefügt: In englischer Sprache zum Glück nicht.

 

 

 

Dafydd ap Gwilym: A Selection of Poems. Hrsg. von Rachel Bromwich

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Um den Eindruck zu vermeiden, eventuell zu stark auf englische oder zumindest englisch-sprachige Literatur oder gar auf eine Art „Mainstream“ ausgerichtet zu sein, heute ein Beitrag zu einem der vielleicht besten walisischen Dichter: Dafydd ap Gwilym, der im 14. Jahrhundert gelebt hat.

Immer wieder neu aufgelegt wird ein Buch, das zuerst 1982 erschienen ist und dessen immerhin 3. Auflage von 2003 ich gelesen habe. „Immerhin“, denn das Buch macht auf seinen rechten Seiten für die meisten Leser einen eher sperrigen, deutlich konsonantigen, man möchte fast sagen: abschreckenden Eindruck – auf dieser Seite steht jeweils das walisisch-sprachige Original.

Warum erfreut sich Dafydd ap Gwilym also offensichtlich einer wahrnehmbaren Popularität? Und ist seine Lyrik auch etwas für Nicht-Waliser?

Dafydd ap Gwilym ist schon besonders:

  • Ungefähr zeitgleich mit Geoffrey Chaucer lebend, hat er fast im Alleingang eine Verbindung geschaffen zwischen der walisischen bardischen Tradition des frühen Mittelalters und der Troubadour- und Minnelyrik insbesondere des französischsprachigen Raums, die auch dank der Normannen in England und Wales eine Rolle gespielt hat.
  • Außer dieser innovativen Weiterentwicklung hat er – auch wieder quasi im Alleingang – die eigene Person deutlich stärker ins Zentrum seiner Gedichte gerückt als in der walisischen Tradition üblich. Dies macht seine Gedichte recht zugänglich.
  • Ein Innovator ist er auch, da er die walisische Sprache um zahlreiche Worte – auch um Lehnworte vom Kontinent – erweitert hat, die er als Neuschöpfung in seinen Gedichten verwendet.
  • Vor allem aber ist er herausragend aufgrund seiner poetischen Meisterschaft. Die Anforderungen der walisischen Poetik zur Form von Strophe und Vers, Silbenzahl, Reimformen, Alliterationen, anderen Lautharmonien sind so vielfältig, dass es fast ein Wunder ist, hierbei auch noch inhaltlich zu glänzen. Und dies tut Dafydd ap Gwilym.

Für all diejenigen, die mit Walisisch nichts anfangen können, geht aber leider viel verloren. Denn gerade walisische Dichtung beeindruckt (und soll beeindrucken) viel stärker durch ihre akustische Wirkung als durch die Inhalte. Und die akustische Ästhetik lässt sich auch vom besten Übersetzer nicht einmal ansatzweise nachschaffen.

Bromwich als Übersetzerin und Herausgeberin dieses Buchs tut viel, um die Lücke zum Walisischen zu überbrücken. Ihre Einleitung bringt einem den Dichter, die walisische Bardentradition und auch die poetischen Anforderungen näher. Die Anmerkungen zu den Gedichten sind umfassend und erleichtern das Verständnis. Schade vielleicht, dass die Übersetzungen doch eher auf den inhaltlichen Sinn fokussieren, als dass sie hohe poetische Anforderungen erfüllen wollen. Persönlich wäre mir eine andere Balance lieber gewesen.

Das Buch ist sicherlich nichts für jeden Leser. Aber für alle, die sich mit mittelalterlicher Lyrik befassen, ist es ein Gewinn. Und für Freunde keltische oder speziell walisischer  Literatur und Kultur sowieso.

Als Leseprobe der Auszug eines der bekanntesten Gedichte von Dafydd ap Gwilym, in dem er Naturdichtung – über den Wind – mit Liebesdichtung – der Wind als Liebesbote an seine Geliebte Morfudd – miteinander verbindet:

„Yr wybrwynt helynt hylaw
Agwrdd drwst a gerdda draw,
Gŵr eres wyd garw ei sain,
Drud byd heb droed heb adain. „

Bromwich übersetzt:
„Sky wind of impetuous course
who travels yonder with your mighty shout,
you are a strange being, with a blustering voice,
most reckless in the world, though without foot or wing.“

Eine etwas poetischere Übersetzung des Gedichts von Gwyneth Lewis, durchaus dichter hinsichtlich der Klangeffekte am Original,  findet sich hier auf der Website der Poetry Foundation.

Und wer es genau wissen will, kann sich auch den walisischen Originalton anhören (man muss dann noch Gedicht 47 „Y Gwynt“ aussuchen und anschließend auf Audio klicken), da das Welsh Department der University of Swansea eine ganze Website den Gedichten von Dafydd ap Gwilym gewidmet hat.

The Lonely Londoners. Sam Selvon

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Ein weiteres Buch, das ich – inspiriert von den DVDs „In Their Own Words: British Novelists“ – gekauft habe: Ein Roman über westindische Einwanderer nach London in den 50er Jahren.

Von Sam Selvon (1923-1978) hatte ich vorher nichts gelesen und nichts gehört. Damit bin ich anscheinend nicht allein, denn auch zum Beispiel in der deutschen Wikipedia gibt es keinen Eintrag (zum Glück aber in der englischsprachigen). Und in einer Ausgabe des „Oxford Concise Companion to English Literature“ von 1990 taucht weder der Roman noch Selvon selbst auf.

„The Lonely Londoners“ zählt mittlerweile zu den „Modern Classics“. Diesem Anspruch wird der Roman des in Trinidad geborenen Schriftstellers gerecht. Thema sind die Erlebnisse, Gespräche und Gedanken von Menschen aus der britischen Karibik, die in den 50er Jahren nach London ausgewandert sind, rund um den etwas heimweh-kranken und leicht pessimistischen Protagonisten Moses Aloetta. Leicht hatten sie es nicht – nicht nur wegen der gelegentlichen klimatisch-bedingten Nässe und Kälte Englands. Denn obwohl sie als Bürger des Britischen Imperium auch britische Staatsbürger waren, hätten viele weiße Briten diese ihre Mitbürger viel lieber weiter in der Karibik gesehen.

Trotz des schweren Themas und der oft bedrückenden Erlebnisse bei Wohnungs- oder Arbeitssuche („sorry, no vacancy„), die er beschreibt, schreibt Selvon humoristisch und sehr leicht, ohne jemals seicht, platt oder undifferenziert zu werden.

Sehr unmittelbar und authentisch wirkt der Roman, der durchgängig in Dialogen wie im Erzählpart im englischen Dialekt der westindischen Einwanderer geschrieben ist. Dieser Dialekt ist im Übrigen für Leser mit nicht so ausgefeilten Englischkenntnissen sehr gut zu verstehen.

Der Roman macht auch Mut, da sich die westindischen Einwanderer nicht unterkriegen lassen, sondern immer wieder aufstehen und weitermachen. Und weil es irgendwie auch klappt, wenn auch langsam, mit dem Zusammenleben.

Als Leseprobe zwei Passagen:
„When Moses sit down and pay his fare he take out a white handkerchief and blow his nose. The handkerchief turn black and Moses watch it and curse the fog. He wasn’t in a good mood and the fog wasn’t doing anything to help the situation. He had was to get up from a nice warm bed and dress and come out in this nasty weather to go and meet a fellar that he didn’t even know.“

„Things does have a way of fixing themselves, whether you worry or not. If you hustle, it will happen, if you don’t hustle, it will still happen. Everybody living to dead, no matter what they doing while they living, in the end everybody dead.“

Gelesen habe ich eine englischsprachige Ausgabe von 2006. Für  Leser der deutschen Sprache gibt es leider nichts im Angebot…

 

Die Geschichte des Buches in 100 Büchern: 5000 Jahre Wissbegier der Menschheit. Roderick Cave und Sara Ayad

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Als Übersetzung einer Veröffentlichung der British Library gibt es nun auch in deutsch ein wirklich interessantes und auch empfehlenswertes Buch zur Geschichte des Buches.

Exzellent sind zwei Aspekte: die Auswahl der 100 Bücher und die Illustrationen.

Die Auswahl ist ausgesprochen ungewöhnlich, da sehr umfassend. Von der Vorgeschichte (!) bis zur Gegenwart werden alle Erdteile außer der Antarktis nicht nur mit „normalen“ Bücher, sondern auch in Quipus, sulawesischen Lontars und beschrifteten Knochen behandelt. Und auch Randerscheinungen wie die „Roten Bücher“ des Landschaftsgestalters Humphrey Repton mit ihrer eindrucksvollen Darstellung von vor/nach der Umgestaltung der Landschaft oder Playfairs „Commercial and Political Atlas“, in dem erstmals Kuchendiagramme ihre Verwendung finden, tauchen unter den 100 Büchern auf.

Ebenfalls ungewöhnlich und hilfreich ist, dass nicht – wie meist – bevorzugt Spitzenexemplare behandelt werden, sondern eher  Bücher, über die sich vieles zur Geschichte des Buches erschließen lässt. Gute Beispiele hierfür sind

  • das Laborbuch von Chester Carlson mit dem Eindruck zu seiner Erfindung des elektrostatischen Druckverfahrens für Kopierer von Xerox
  • Der Roman „El jardín de senderos que se bifurcan“ von Jorge Luis Borges, anhand dessen nicht nur die Bedeutung von Bibliotheken, sondern auch die des beginnenden Informationszeitalters beleuchtet werden.

Ergänzt wird diese sehr überzeugende Auswahl der 100 Bücher durch viele, qualitativ hochwertige und vor allem aussagekräftige Illustrationen, die das Buch optisch zu einem Vergnügen machen.

Wermutstropfen: Für jedes der 100 Beispielbücher gibt es nur zwei Seiten, von denen viel Platz für die Illustrationen verwendet wird und meist nur eine halbe Seite für Text übrig bleibt. Dies führt dazu, das etliche Aspekte in der Kürze letztlich kryptisch bleiben, auch durch das oft zu oberflächliche Glossar nicht ausreichend erläutert werden und das geweckte Interesse beim Leser immer wieder einmal unbefriedigt bleibt.

Leseprobe zum „Großen Kanon des Ming-Kaisers Yongle“ (Yongle Dadian), einer extrem umfang- und einflußreichen Enzyklopädie aus den Jahren 1403-1408:

„Kurz nach seiner Thronbesteigung gab Kaiser Yongle 1403 eine umfassende Edition sämtlicher Wissensbereiche von Religion über Wissenschaft, Technik, Astronomie, Medizin und Landwirtschaft bis hin zu Theater, Kunst, Geschichte und Literatur in Auftrag. Mehr als 2000 Gelehrte bearbeiteten in fünfjähriger Tätitgkeit über 8000 Texte. Für die Sammlung (…) verwendeten die Schreiber über 370 Millionen Schriftzeichen und füllten damit mehr als 11 000 Bände. (…) es wurden lediglich zwei Handschriften angefertigt. (…) Im Laufe der folgenden (…) Jahre wurden die (…) Handschriften durch Brände, Kriege und Plünderungen auf einen kläglichen Rest von 400 Bänden reduziert, die heute auf Bibliotheken und Museen der ganzen Welt verteilt sind.“

Gelesen habe ich die deutschsprachige erste Auflage von 2015. Die englische Originalausgabe erschien 2014.

 

Lucky Jim. Kingsley Amis

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Lucky Jim von Kingsley Amis ist ein satirischer Roman von einem der „angry young men“ der 50er Jahre, den ich – angeregt von den DVDs „In Their Own Words: British Novelists“ – gelesen habe.

Die klassische Beschreibung zu Werken und Protagonisten dieser „angry young men“ aus der Encyclopedia Britannica passt naturgemäß sehr gut auf Lucky Jim (Dixon), ist sie doch zum Teil aufgrund dieses Romans entwickelt worden: „Their novels and plays typically feature a rootless, lower-middle or working-class male protagonist who views society with scorn and sardonic humour and may have conflicts with authority but who is nevertheless preoccupied with the quest for upward mobility.“

Das Buch ist spannend, witzig, intellektuell auch anregend und bietet – trotz eines durchaus zynischen Untertons – sogar eine Art Happy End. Man kann es also bedenkenlos lesen, auch wenn es in den 50er Jahren offenbar als fast revolutionär wahrgenommen wurde. Nicht damit gerechnet hatte ich, als ich das Buch in die Hand nahm, dass der Plot und auch die Beschreibung der Protagonisten mich sehr an Romane von P.G. Wodehouse erinnern würden. Und den hat – glaube ich – noch niemand zu den „Angries“ gezählt…., allerdings spielen seine Romane auch in deutlich höheren gesellschaftlichen Gefilden und der „quest for upward mobility“ ist bei seinen Helden nicht übermäßig ausgeprägt.

Der Klappentext empfiehlt Lucky Jim zutreffend „anyone who has been a student, anyone who has been to university and anyone who has come to hate a job they have to keep.“

Als Leseprobe ein kurzes Zitat aus einer Partie, in der Jim Dixon ein überraschendes Jobangebot bekommt:
„I think you’ll do the job all right, Dixon. It’s not that you’ve got the qualifications, for this or any other work, but there are plenty who have. You haven’t got the disqualifications, though, and that’s much rarer.“

Gelesen habe ich die Penguin Essentials-Ausgabe von 2012. In deutsch ist das Buch neu als „Jim im Glück“ bei Zweitausendeins oder antiquarisch als „Glück für Jim“ erhältlich.

 

 

 

Literatur: Sonnenflecken, Schattenflecken. Philippe Jaccottet

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Eine Art poetischer Literatur, eine Art Selbstporträt eines Dichters. Ganz faszinierend ist, wie Jaccottet ganz genau hinschauen kann, wie er die eigne Reaktion auf das Gesehene verfolgt und wie er beides in Sprache bringen kann. Seine außerhalb seiner selbst liegenden Themen sind dabei oft die Natur, Bekannte oder Kunstwerke.

„Blumen, fast alle rosa oder rot, warum? Ihre Ähnlichkeit mit Flammen, ihre Frische dennoch. In der Nacht. Das Sternbild des Schwans, der Wind vor allem, wie das Geräusch eines Wasserfalls. Das leichte Donnern der Langstreckenflugzeuge. Eine Grille. Die schwarze und geschmückte Nacht.“

„Bruchstücke, aus denen sich meine unmerkliche Spur zusammensetzt im Unermesslichen und Unbekannten; Holzstöße und Gärten. Gartenmauern, Gerüche von Pfingstrosen und Iris, angstvolle Spaziergänge auf schmalen Festungswällen und Türmen, seltene Streitszenen, gesehen oder ausgemalt wie in einem schrecklichen Theater, alte Damen, zurückgezogen ins Dunkel, das die hohen Zimmer noch größer macht (…).“

Das Buch ist Exzerpt und Kommentar zu vorher unveröffentlichten Tagebüchern der Jahre 1952 bis 2005. Jaccottet wählte diejenigen Einträge aus, die er für noch immer bedeutsam hielt. Entstanden ist eine poetische Textsammlung, die die äußeren und inneren Geschehnisse aus vergangenen fünf Jahrzehnten beschreibt.

Philippe Jaccottet, geboren 1925 in der Schweiz, ist ein französisch schreibender Lyriker, Essayist und Übersetzer. Er wurde 2014 in die Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen. Gelesen und zitiert als deutsche Übersetzung die Ausgabe von 2015.